In einem ehemaligen Schlachthof von Casablanca wird Marokkos Zukunft künstlerisch erprobt. Eine Reportage über ein Kulturprojekt zwischen Unterdrückung und Rebellion.
Als wir Dounia Benslimane treffen, hat sich die Hitze des gerade erst beginnenden Tages schon über die Stadt gelegt. Der Geruch von Holzkohle und gebratenem Fleisch liegt in der Luft: Alle Straßenlokale rund um die alte Schlachterei von Casablanca haben bereits geöffnet. An kleinen, improvisierten Verkaufsständen kann man hier alle möglichen Arten von Fleisch erwerben: Niere, Leber, Zunge, Schwanz und Hirn – direkt auf offenem Grill zubereitet. Doch das Fleisch stammt mittlerweile nicht mehr aus den Schlachthöfen von gegenüber. Denn die stellten vor rund zehn Jahren ihren Betrieb ein.
Es sind Leute wie Dounia Benslimane, die sich darum bemühen, eine Zukunft für die Schlachthöfe zu finden. Das ist nicht leicht: »Die Menschen aus Casablanca haben immer noch Angst, hierher zu kommen,« erzählt die selbsternannte Kulturmanagerin, die eigentlich Ärztin ist. »Sie verbinden Armut und Gewalt mit den Abbatoirs und wissen gar nicht, was hier in den letzten Jahren alles passiert ist.«
Die »Abbatoirs« – die alten Schlachthöfe von Casablanca. Als Teil eines städtischen Masterplans bauten die Franzosen die ausgedehnte Schlachthofanlage 1922 am westlichen Rand Casablancas. Von außen weist auch heute nichts auf das blutige Tagesgeschäft hin, das hier fast 80 Jahre lang routiniert abgewickelt wurde: Nach den seinerzeit neuesten Standards europäischer Industrie ausgestattet, wurden in den riesigen Hallen der Schlachthofanlage jeden Tag Hunderte von Schlachttieren getötet und verarbeitet. Erhalten geblieben ist die bunte und verschnörkelte Fassade im Art Déco Stil, die dem blutigen Handwerk ein blumiges Antlitz vermittelte.
Blutige „Wahr“-Zeichen der Kolonialzeit
Die Abattoirs sind eng mit dem Wachsen und Werden von Casablanca verbunden, ja von ganz Marokko. Unter dem französischen Protektorat, wie die Franzosen ihr enormes politisches, wirtschaftliches und zivilisatorisches Kolonisationsprojekt euphemistisch nannten, entstanden in den Küstenstädten Rabat und Casablanca seit 1909 die Zentralen der politischen und ökonomischen Verwaltung des Landes.
Der gezielte Ausbau städtischer Infrastruktur sowie der Aufbau staatlicher Institutionen und moderner Verwaltungsapparate zogen unzählige Menschen aus den ländlichen Regionen in die Städte. Viele kamen auf der Suche nach Arbeit und Glück; die meisten blieben, die wenigsten aber fanden den Wohlstand oder den Weg nach Europa, den sie gesucht hatten. So wuchsen die Viertel rund um die Abattoirs zu stattlichen Wohnsiedlungen an, in denen vor allem die Arbeiter der Schlachtanlage, aber auch des nahegelegenen Hafens wohnten.
Im Jahr 2000 dann wurde der Schlachtbetrieb eingestellt und an einen neuen Standort verlagert. Was blieb, waren die Menschen, die sich in unmittelbarer Nachbarschaft angesiedelt hatten und deren Lebensunterhalt die Arbeit in den Schlachthöfen war. Eine soziale und kulturelle Entwicklungsperspektive hat es für sie nie gegeben, da das Viertel auch nie an den Stadtkern angebunden worden ist.
Ein blumiges Antlitz für ein blutiges Unternehmen
Leute wie Dounia Benslimane wollen das ändern. Seit einigen Jahren schon ist sie die Koordinatorin einer großen Idee: die Abattoirs zu einem Ort der Begegnung zu machen, sie für kulturelle, politische und soziale Belange zu öffnen. Platz zu schaffen- und eine Plattform für Austausch, einen Freiraum für Ideen, Utopien und auch ganz konkrete Projekte.
Es wäre der erste Freiraum dieser Art in Marokko. Denn Platz gibt es in dem Land zwar viel – der werde aber selten im Sinne der Menschen genutzt, sagt Driss Ksikes: »Marokko orientiert sich zunehmend nach außen, politisch und ökonomisch. Dabei geht es vor allem darum, viele Investoren und Großprojekte an Land zu ziehen. Und Touristen. Für die Marokkaner selbst ist hier in den letzten Jahren kaum etwas passiert.« Ksikes ist so etwas wie das intellektuelle Gewissen Marokkos. Als Schriftsteller, Wissenschaftler, Autor und Stückeschreiber befasst er sich auf vielfältige Weise mit den Entwicklungen in seinem Land.
Gefragt nach Orten, an denen es noch den Raum für gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Diskurse gibt, muss er lange überlegen. Seine Antwort klingt ernüchtert: »Es gibt hier in Marokko schon die Plätze, um solche Orte zu schaffen. Aber die Menschen interessieren sich nicht dafür. Also schafft die Monarchie, zusammen mit Investoren, immer mehr Orte für Entertainment und Konsum. Dadurch trägt sie aber auch dazu bei, dass individuelle Vorlieben wichtiger erscheinen als gesellschaftliche und kollektive Belange.«
Benslimane von den Abbatoirs sieht diese Entwicklungen ähnlich: »Die Leute werden durch die ökonomische Situation dazu gezwungen, sich nur um sich selbst zu kümmern.« Gerade deshalb ist es für sie und ihre Kollegen vom »Collectif des Abattoirs« so wichtig, die Abbatoirs zu einem Raum für die Öffentlichkeit zu machen.
Die Idee scheint fast schon verwirklicht zu sein: Das Zugangstor zu der weitläufigen Anlage ist weit geöffnet. Auf dem Gelände herrscht eine friedliche Anarchie: Eine Musikgruppe probt in der Ecke eines ehemaligen Schlachtraums ihre Rhythmen, während Graffiti-Sprayer die freien Wände und Mauern nutzen, um sich künstlerisch und politisch auszudrücken. Zwischen politischen Slogans in Anlehnung an die Occupy-Bewegung (Sichwort: »Disobey«) finden sich farbige Bilder von Bob Marley, aber auch von Meerjungfrauen, Regenbögen und andere phantasievolle Darstellungen.
Friedliche Anarchie am Rande der Stadt
Aber auch die städtische Feuerwehr übt hier für den Ernstfall. Gemessen an der Menge an Feuerwehrmännern, die in der Sonne ein Nickerchen halten, scheint der Ernstfall allerdings weit entfernt. Aus einer anderen Halle wiehert es. Hier bringt die Stadt die obdachlosen Tiere der Stadt unter – ein Schlachthof als Gnadenhof für die Gestrandeten. Und so vieles mehr. Denn nicht nur die Tiere leben in den alten Schlachthallen der riesigen Anlage. Auch einige Menschen sind mittlerweile in die ehemalige Schlachterei gezogen. Sie leben in kleinen Räumen und Wohnungen der einstigen Schlachthofverwaltung. Auch für sie sind die Abbatoirs eine Notzuflucht geworden. Und es scheint, als dürften sie bleiben:
»Die Abattoirs haben Platz für alle. Wir wollen niemanden vertreiben,« betont Benslimane. »Wenn wir Konzerte veranstalten, dann pausieren wir für die Gebetszeiten und sprechen uns mit den Menschen ab, die hier leben. Denn ihnen gehört dieser Ort genauso wie uns.« Bis heute hätten die Abattoirs keinen legalen Status; im Prinzip sei alles, was man dort tue, illegal: »Die Stadt duldet die Menschen hier und unsere Aktivitäten – und profitiert davon. Nur zahlen will sie dafür nicht.«
Die Regierung hat sich aus dem Projekt abrupt zurückgezogen
Dabei war es die Stadtverwaltung von Casablanca selbst gewesen, die 2008 gesellschaftliche Gruppierungen dazu einlud, eine Perspektive für die Zukunft der alten Schlachthöfe zu entwickeln. Daraus entstand ein Kollektiv aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen Trägern – und mit ihm die Idee einer umfassenden kulturellen Nutzung der Abbatoirs. Konzerte und Ausstellungen wurden organisiert, ein Stadtteilradio entstand, ein Musikfestival wurde ins Leben gerufen. Auch das Interesse von Seiten europäischer Stiftungen und der Europäischen Union war groß, mehrere Projekte wurden aus Europa mitfinanziert.
Doch seit 2009 war von der Stadtverwaltung auf einmal nichts mehr zu hören. Vielleicht weil das, was entstanden ist, so ganz anders war als das, was den Politikern vorgeschwebt hatte. So gibt es heute weder Geld noch politische Unterstützung für die Weiterentwicklung der Idee: »Es gäbe hier so viel Potential, wie in ganz Marokko. Aber die Verantwortlichen entscheiden sich immer wieder dafür, es nicht zu nutzen,« resümiert Dounia Benslimane.
Noch nicht, müsste man vielleicht hinzufügen – denn es ist deutlich, dass von diesem Ort immer wieder Wandel angestoßen wird. Schon im Vorfeld der nationalen Unabhängigkeit Marokkos 1956 spielten die Abbatoirs eine tragende Rolle. Politische Aktivisten wie Allal el Fassi, Abderrahamane Youssoufi, Abderrahim Bouabid oder Mehdi Ben Barka entwickelten in den Wohnvierteln rund um die Schlachthöfe ihre Ideen für ein freies Marokko – und wurden dafür unweit der Schlachthöfe weggesperrt und gefoltert.
Die Abbatoirs als Labor für den Wandel
Auch heute wird der Kampf für politische und soziale Veränderungen von den Abbatoirs aus in die Straßen Casablancas getragen – als Teil einer landesweiten Oppositionsbewegung, die sich gegen das monarchische Establishment wendet. Anders als Tunesien und Ägypten hat Marokko in den vergangenen drei Jahren zwar keine umfassenden politischen und sozialen Umwälzungen erlebt – die Veränderungen in den Nachbarländern gingen aber dennoch nicht spurlos an dem Land vorüber. Oft unbeobachtet von der Weltöffentlichkeit, hat sich hier eine Protestbewegung formiert. In Anlehnung an den Tag des Jahres 2011, an dem ihre Demonstrationen begannen, nennt sie sich die »Bewegung des 20. Februar«. Mehr als 800.000 Menschen gingen damals mit Forderungen für soziale und politische Reformen auf die Straße, begleitet von enormer Gewaltbereitschaft der marokkanischen Polizei und des Militärs. Viele Demonstranten sind noch heute im Gefängnis.
Gleichzeitig zeigte sich der König gesprächsbereit: Ohne die Proteste direkt anzuerkennen, initiierte Mohammed VI. einen »nationalen Dialog«. Er berief eine Kommission ein, um eine Verfassungsreform zu erarbeiten, deren Grundlage Vorschläge aus dem parteipolitischen und zivilgesellschaftlichen Feld bilden sollen. Auf dieser Basis wurde im Juli 2012 dann eine neue Verfassung verabschiedet.
Der König als Despot in „light“-Version
»Despotismus light« nennt Mustafa Chakki (Name geändert), ein politischer Aktivist der ersten Stunde, dieses Vorgehen des marokkanischen Regimes: »Die Protestbewegung steht einer stabilen Monarchie gegenüber, die aus den Ereignissen in Libyen und Syrien gelernt hat. Sie spielt die Gewalt und die Unsicherheit in diesen Ländern als Trumpf aus, indem sie Marokko als stabilen Gegenentwurf präsentiert und ›Wandel mit Stabilität‹ propagiert.«
Wir sitzen in einem schattigen Café in Rabat, nervös steckt Mustafa sich eine Zigarette nach der anderen an. Alle zwei Minuten wirft er einen Blick auf sein Handy – in Ägypten eskaliert gerade wieder die Gewalt. Der Journalist verfolgt die Ereignisse im Minutentakt, fasziniert und verstört: »Klar beeinflusst das, was in Ägypten in den letzten Monaten passiert ist, uns in Marokko. Aber leider spielen die Ereignisse dort gerade jenen in die Hände, die nicht wollen, dass sich hier in Marokko etwas nachhaltig verändert. Sie spielen die Karte der Angst vor den Islamisten als Trumpf aus. Und das wirkt.«
Viele Anhänger der »Bewegung des 20. Februar« kamen aus den Vierteln rund um die Abbatoirs. »Die Menschen hier haben viele Gründe, auf die Straße zu gehen – nicht nur für mehr Kunst, sondern auch für mehr Arbeit, mehr Wohnraum, mehr Geld. Aber nichts von all dem kommt hier an,« bilanziert Mustafa Chakki. Für ihn beginnt der Wandel in Marokko gerade erst. »Große Dinge brauchen Zeit,« sagt er – und entschwindet nach Hause, um Minuten später auf Facebook seine Gedanken zu den Ereignissen in Ägypten zu posten.
Auch während der Proteste in Marokko 2011 spielten die Abbatoirs eine wichtige Rolle. Das scheint der Stadtverwaltung jetzt ein Dorn im Auge zu sein. Einen Ort zu schaffen, der Freiraum für eine Vielzahl künstlerischer Ausdrucksformen bietet, entspricht nicht ihrem augenscheinlich homogenen Verständnis von Kultur. Denn wo Platz für künstlerische Freiheit existiert, da entstehen oft Ideen und Projekte, die soziale und politische Forderungen hervorbringen. Diese Entwicklung aber will die Regierung weder in Casablanca noch anderswo in Marokko befördern.
Für den Intellektuellen Driss Ksiskes ist die Situation glasklar: »Die Monarchie versucht von oben herab ein gewisses Maß an Diversität und Pluralismus zu generieren. Anstöße zu Veränderung, die aus der Gesellschaft kommen, sind dagegen suspekt, weil sie nicht kontrollierbar sind.«
Zwar hat Mohammed VI durch die Verfassungsänderung größere Proteste verhindern können. Aber wenn es nach den Verantwortlichen der Abbatoirs geht, dann kann es das nicht gewesen sein: »Ja, der König kann hier praktisch alles machen. Er könnte uns auch helfen, wenn wir ihn bitten würden, sich für die Abbatoirs einzusetzen,« ist sich Dounia Benslimane sicher. »Aber genau das ist ja das Problem: Es kann ja nicht immer alles vom König kommen.«
„Es kann ja nicht immer alles vom König kommen“
Dennoch hat die Verfassungsänderung viele unzufriedene Gemüter in Marokko zunächst einmal beruhigt. Zwar waren die Veränderungen minimal, für viele war aber die Bereitschaft des Königs, auf die Forderungen der Menschen einzugehen, schon ein befriedigendes Zeichen. Auch profitieren in Marokko immer noch viele Leute von dem autoritären monarchischen System. Das breite Patronagenetzwerk und ein geschicktes Changieren zwischen Kooption und Repression haben die Opposition bisher in Zaum gehalten. So konnten der König und die ihn umgebenden Eliten die Bildung einer breiten und gut vernetzten Widerstandsbewegung gegen das System bislang verhindern.
»Zu viele Leute profitieren von der derzeitigen Situation. Und die anderen, vor allem die Mittelklasse, müssen arbeiten und die Klappe halten – sonst gefährden sie ihre soziale Position, die sowieso prekär ist,« sagt Benslimane mit einem Schulterzucken. Um so mehr wollen sie und ihre Mitstreiter von den Abbatoirs weitermachen. Ein Konzept für eine umfassende Sanierung und Nutzung des Schlachthof-Geländes ist längst erstellt und liegt der Stadtverwaltung vor. Doch bisher ist nichts passiert. Das Nicht-Handeln der Stadt macht die Abbatoirs zu einem Unterfangen, das ständig am Rande zur Illegalität agiert – vielleicht genau deswegen aber auch viel Freiraum jenseits eines staatlich vorgegeben Kultur- und Kunstverständnisses bietet.
Diese Reportage erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der zenith, Zeitschrift für den Orient.