Die vielen kritischen Kommentare zur Absetzung Mursis sind in Anbetracht der negativen Entwicklung Ägyptens seit dem Sturz Mubaraks fehl am Platz, befindet Mohamed Lambaret in diesem Gastbeitrag. In den kommenden Tagen werden wir dann noch andere Diskussionsbeiträge dazu veröffentlichen und laden unsere Leserinnen und Leser ein, über die Kommentarfunktion mit zu diskutieren.
Nachdem die ägyptische „Tamarod-“ oder „Rebell-“Kampagne in den vergangenen Monaten zig Millionen Unterschriften gesammelt hatte, um den sofortigen Rücktritt von Präsident Mursi zu fordern, brachten Anfang der Woche binnen weniger Stunden fast 20 Millionen Menschen ihren Ärger über die Regierung zum Ausdruck. Am Montag wurde die Zentrale der Muslimbruderschaft im Kairoer Stadtteil Moqattam in Brand gesetzt und geplündert. Am Dienstag kam es zu Schießereien zwischen Mursi-Befürwortern und der Polizei.
Viele Skeptiker haben den Versuch einer erneuten Revolution in den letzten Tagen als naiv und nicht zielführend kritisiert und blicken eher misstrauisch auf den erneuten Aufschrei der ägyptischen Bevölkerung. Die Entscheidung, einen weiteren Präsidenten nach nur einem Jahr im Amt abzusetzen – zumal einen demokratisch gewählten – wird vielerorts als töricht und kontraproduktiv abgetan. Das ägyptische Volk, so hört man, solle lieber geduldig auf das Ende der Legislaturperiode warten und dann seine Enttäuschung in demokratischen Wahlen zum Ausdruck bringen. Ein politischer Umsturz durch Proteste würde nur zu Chaos führen.
„[Es] ist noch nicht vorbei“ – Revolution ist ein Prozess und kein Zeitpunkt
Die vergangenen Tage über sangen die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz und anderswo in Ägypten immer wieder: „Die Revolution ist noch nicht vorbei“. Damit liegen sie womöglich gar nicht so falsch. Denn die Forderungen der Revolution von 2011 waren nicht schlicht demokratische Wahlen, sondern auch Menschenwürde, soziale Gerechtigkeit und vor allem gesellschaftlicher Wandel. Diese Forderungen wurden, mit Ausnahme der ersten, bisher nicht erfüllt.
Ägypten hatte zu Beginn der jüngsten Proteste noch keinen stabilen Status quo erreicht, der, wie viele Skeptiker meinen, durch „naive“ Demonstrationen hätte gefährdet werden können. Erst im November vergangenen Jahres waren Proteste entflammt, nachdem Präsident Mursi in einem weiteren politisch unbeholfenen Schritt ein Dekret erließ, das ihn juristisch unantastbar machte und ihm quasi uneingeschränkte Entscheidungshoheit verlieh. Damals nahmen große Teile der Bevölkerung aber nicht an den Protesten teil, die seitens der revolutionären Kräfte gewalttätiger waren als die Proteste heute. Man wartete ab, Mursis Rücktritt wurde nicht gefordert. Nach nur fünf Monaten der Präsidentschaft hoffte man noch auf Reformen und Fortschritt.
Diese Hoffnungen wurden jedoch nie erfüllt. Alle Bereiche der ägyptischen Gesellschaft sind von einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Krise und gesellschaftlichen Einschränkungen betroffen. Das lethargische politische System war zuletzt im Hickhack um Ballett-Verbote, Stromausfälle und Verfassungsänderungen gefangen. Das post-revolutionäre Macht- und Sicherheitsvakuum begleitete die schwerste Wirtschaftskrise seit der großen Depression der 1930er Jahre. Das Leben vieler Ägypter, oft ohne sichere Arbeit und ein stetes Einkommen, war deshalb zuletzt von Unsicherheit geprägt. Das ist eine verheerende Situation für ein Land, das zu den größten Importeuren von Weizen weltweit gehört und in dem die Bevölkerung binnen der letzten Jahre deutlich stärker gewachsen ist, als die wirtschaftliche Produktivität. Hinzu kommt, dass Investitionen aus dem Ausland aufgrund der politischen Situation zuletzt ebenso stark zurückgingen wie Währungsreserven, Wirtschaftswachstum und der Wert des Ägyptischen Pfund.
Man hat Mursi eine Probezeit gewährt, doch der enttäuschte alle Hoffnungen
So sehen sich besonders Ägyptens Arme momentan unüberwindbaren Herausforderungen gegenüber, fehlt es an Treibstoff, ärztlicher Versorgung und steigen Nahrungsmittelkosten inflationär. Die Abwesenheit staatlicher Sicherheitskräfte hat zu zunehmender Verbreitung und zunehmendem Schmuggel von Feuerwaffen im ganzen Land geführt. Insbesondere in der instabilen Sinai-Region haben zuletzt ganze Familien ihr Land für Waffen verkaufen müssen, um mit der privaten Aufrüstung mithalten zu können und sich zu schützen.
Insofern gibt es viele Gründe, wieder auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Nach einem Jahr, in dem die Regierung Morsi zahlreiche autoritäre Entscheidungen traf und mit ihrer ebenso autoritären Rhetorik dazu beitrug, konfessionelle Auseinandersetzungen zu schüren, wendet sich die ägyptische Bevölkerung nun gegen den Präsidenten, den sie 2012 zum Teil unter großem Jubel ins Amt gehoben hatte. Der Moment war während monatelanger Proteste und Koordinierungstreffen langsam aufgebaut worden. Obgleich der jetzige Protest wohl kalkuliert war, macht es diesen nicht weniger authentisch.
Apache-Helikopter, Generäle und Militär: Ein Instrument der Revolution
Bereits am Montag hatte das ägyptische Militär auf interessante Weise auf die Proteste reagiert und Helikopter entsandt, die über den Massen kreisten. Sie wurden von tosendem Applaus auf dem Tahrir-Platz empfangen. Kurz danach wurden die politischen Intentionen des Militärs dann offensichtlicher. Der ägyptische Generaloberst und Minister für Verteidigung Al-Sisi hatte am Nachmittag die Regierung dazu gedrängt, binnen der folgenden 48 Stunden eine Antwort auf die Forderungen der Bevölkerung zu finden. Ansonsten werde das Militär eingreifen und einen Plan für den politischen Übergang vorgeben, der „das ganze patriotische Spektrum, einschließlich der Jugend“ mit einbeziehen werde. Nur Minuten später flogen Apache-Helikopter, an denen ägyptische Flaggen befestigt waren, über die Menschenmassen. Viele Ägypter, die im Militär nur noch ein Relikt vergangener Tage sahen nachdem Mursi letzten Sommer mehrere Generäle mit großem Tam-Tam aus dem Amt verabschiedet hatte, hatten sich anscheinend getäuscht.
Das Militär ist noch immer die durchsetzungsstärkste Kraft im Land, agiert meistens im politischen Schatten und wird von vielen Ägyptern jetzt als Heilsbringer gefeiert. In diesem Sinne zirkulierten in den vergangenen Tagen immer wieder ironische Kommentare in sozialen Netzwerke: Demokratie in der arabischen Welt sei tatsächlich möglich, sofern es ein Militär gibt, das bereit ist einzugreifen, sobald der falsche Präsident gewählt worden ist. Viele Medien sprachen daher nach der Ankündigung von Al-Sisi schnell von einem Coup.
Das Eingreifen des Militärs nach der politischen Tour de Force der vergangenen zwei Jahre zu begrüßen, muss aber jedoch nicht notwendigerweise eine törichte und wenig durchdachte Entscheidung sein. Es ist womöglich eine vernünftige Entscheidung. Schließlich hat das Militär als einzige Instanz nach Monaten des Regierens seine Macht 2012 ohne größere Komplikationen an eine frei gewählte Regierung abgegeben. Die Demonstranten können deshalb davon ausgehen, dass das Militär auch diesmal wieder in der Lage sein wird, einen sicheren Übergang zu freien Wahlen zu gewährleisten. Dieses Mal mit der Absicht, eine Regierung zu bilden, die kohärenter, realistischer und effizienter ist und auch Minderheiten in den Entscheidungsfindungsprozess mit einbezieht. Ägypten ist eine junge Demokratie, wenn überhaupt eine Demokratie, und das bedeutet, dass Entscheidungen immer wieder angepasst und korrigiert werden müssen – insbesondere nach so kurzer Zeit, so ungewöhnlich dies auch für westliche Betrachter sein mag.
Wer kann sich schon wirklich eine autoritäre Militärdiktatur in Ägypten vorstellen, nachdem eine säkulare Junta und ein semi-autoritäres islamistisches Regime in nur zwei Jahren im Namen von Demokratie und Menschenrechten abgesetzt wurden?
„Nur über unsere Leiche“ – eine inkompetente Regierung
Offen bleibt, wie die Muslimbruderschaft und ihre Anhänger auf weiteren Druck seitens der revolutionären Kräfte reagieren. Schon vor dem 30. Juni hatte die islamistische und jihadistische Al-Gama’a Al-Islamiya einen aggressiveren Ton angeschlagen und oppositionelle Kräfte schnell als „atheistisch“ de-legitimiert. Am Montag versicherten Demonstranten im Kairoer Stadtteil Nasr City, der Präsident werde nur über ihre Leiche gestürzt werden. Am Dienstag dann kam es zu den ersten größeren Schießereien an verschiedenen Orten in Kairo. Allein an der Cairo University kamen 18 Menschen ums Leben, unter ihnen ein Polizist. Über 300 Menschen wurden verletzt.
So extrem die Situation momentan ist, so verständlich ist sie auch. Viele der Anhänger der Muslimbruderschaft, die über 50 Jahre in politischer Isolation und Verfolgung lebten, hatten darauf gehofft, nun endlich ein islamisches Ägypten mit schaffen zu können. Viele waren enthusiastisch und setzen bis jetzt hohe Erwartungen in den Islam, der aus Ägypten einen besseren, toleranteren und gerechteren Ort machen sollte. Sie werden jetzt unendlich enttäuscht und frustriert sein und sich hintergangen fühlen vom Sturz einer Regierung, die diesmal nicht etwa diktatorisch, sondern demokratisch gewählt regiert hatte. Aber anders als viele von ihnen argumentieren, liegt der Grund für das Scheitern einer islamistischen Regierung in Ägypten nicht etwa in den liberalen Teilen der Gesellschaft oder etwa beim Militär, sondern in den Reihen islamistischer Politiker, die sich in ihrer Regierungszeit als äußerst inkompetent herausgestellt hatten. Mursis Zeit ist abgelaufen.