Shatila, ein palästinensisches Flüchtlingslager im Herzen Beiruts, ächzt unter dem Zustrom tausender palästinensischer Flüchtlinge aus Syrien. Insgesamt suchen Hunderttausende Menschen aus Syrien Zuflucht im kleinen, ständig spannungsgeladenen Libanon. Die explosive Mischung aus Not, Platzmangel und politischen Konflikten beginnt das Land zu erschüttern. Eindrücke aus Shatila und Hintergründe zum Geschehen von Lea Frehse.
Shatila platzt aus allen Nähten, und es platzt nach innen. Das palästinensische Flüchtlingslager im Zentrum von Beirut droht unter dem wachsenden Druck des Syrien-Krieges zu implodieren. In Shatila leben rund 20.000 Menschen in ärmlichsten Verhältnissen, zusammengedrängt auf einem Quadratkilometer. Neben registrierten Palästina-Flüchtlingen, für die das Lager 1948 errichtet wurde, haben sich hier die Ärmsten der Stadt angesiedelt. Da das Lager nicht erweitert werden darf, hat man in die Höhe gebaut - Sonnenlicht ist ein knappes Gut in den beengten Gassen. Shatila ist ein urbaner Slum; politische Verflechtungen sind hier ähnlich komplex wie das improvisierte Gewirr an Kabeln, das Shatila mit Strom versorgt.
Seit einem Jahr strömen täglich weitere palästinensische Flüchtlinge in das Lager. Sie suchen Schutz vor dem Krieg in Syrien, der die Lager dort voll erfasst hat. Der Zustrom strapaziert Shatilas knappe Kapazitäten: Nicht nur fehlt es an Lebensmitteln, es gibt schlichtweg nicht genug Raum, um die Ankömmlinge unterzubringen.
Das wenige, was da war, muss für immer mehr reichen
„Wir geben unser Bestes, um die Flüchtlinge zu versorgen,“ sagt Khaled Abu Nur, Vorsitzender der Campverwaltung, „aber es ist uns momentan unmöglich all diese Menschen zu versorgen. Die Situation im Camp war immer schwierig, aber jetzt ist alles düster.“
Die Lager im Libanon sind selbstverwaltet. Palästinensische Flüchtlinge genießen hier keine staatsbürgerlichen Rechte und nur eingeschränkte Freiheiten. So sind sie gesetzlich von vielen Arbeitsfeldern ausgeschlossen, die höhere Bildung voraussetzen. Landbesitz ist ihnen untersagt. Für ihre Grundversorgung ist alleinig das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) zuständig.
Die Krise in Syrien beutelt die ohnehin knappen Mittel des Hilfswerks. In Shatila, berichten Bewohner, erhalten Flüchtlinge von der UNRWA alle drei Monate eine Unterstützung von 20 US$. Im teuren Libanon mit einem Preisniveau nur wenig niedriger als in Deutschland eine vernachlässigend geringe Summe. Angesichts horrender Arbeitslosigkeit aber, sind die Menschen auf jeden Cent angewiesen.
Hunderttausende sind aus Syrien über die Grenze geflohen
Abu Nur hat keinen Moment um Luft zu holen, während er von Lebensmittelausgabe zu Krisenbesprechung eilt. Das Internationale Rote Kreuz (IRK) hat soeben Lebensmittelrationen geliefert und Syrien-Flüchtlinge drängen sich vor dem Jugendzentrum, aus dem sie verteilt werden. Eine Frau in der Schlange schreit auf, als sie die Journalisten erblickt: „Macht Bilder, schreibt, das hier muss berichtet werden!“ Sie ist vor einem Monat mit ihrer schwangeren, leichenblassen Tochter in Shatila angekommen, für die sie sich seither verzweifelt um medizinische Versorgung bemüht.
In den palästinensischen Lagern wächst der Ärger. Die Flüchtlinge müssen erkennen, dass offizielle Stellen entweder nicht willens oder unfähig sind, sich ihnen anzunehmen. Palästinensische Flüchtlinge aus Syrien müssen monatlich ihre Aufenthaltserlaubnis erneuern, die mit umgerechnet rund 33 US$ für kaum jemanden bezahlbar ist. So bleiben viele mit zweifelhaftem Rechtsstatus im Land, der die Arbeitssuche und das alltägliche Leben noch erschwert.
Leere Kartons gespendeten Hajj-Fleisches – mit besten Wünschen aus Saudi Arabien – stapeln sich auf Shatilas einzigem Marktplatz. „Wir bekommen Lebensmittelspenden, aber sie reichen nicht mehr. Außer UNRWA und dem IRK liefert nur Hisbollah Hilfsleistungen,“ beschreibt der rais al-makhayyam, der Vorsitzende des Camps, die Umstände.
Hilfsgüter sind politische Waren
Die Hisbollah pflegt seit Jahren ein Netzwerk straff organisierter Wohlfahrtsinitiativen. Sie haben maßgeblich zum guten Ruf der islamischen Bewegung als aufrichtig und der Sache der Bedürftigen verpflichtet beigetragen. Ihre Spendenlieferungen sind als „Geschenk des islamischen Widerstands“ ausgewiesen. Mit Hisbollahs Position in Syrien aber werden auch ihre Zuwendungen zunehmend zum Problem: Ende Mai erklärte Hisbollahs Anführer Hassan Nasrallah die Bewegung offiziell zum Alliierten des syrischen Regimes. Man kämpfe Seite an Seite mit Assads Truppen – „bis zum Ende“.
Durch die Erklärung der Hisbollah droht der Libanon damit noch weiter in die syrischen Kriegswirren gezogen zu werden. Die schiitische Bewegung verfügt im Libanon über de facto Vetorechte in allen politischen Belangen. Dem Staat ist sie militärisch überlegen. Mischt sie offiziell in Syrien mit, wird ihre Basis im Libanon zum Ziel der Opposition. Auch andere libanesische Gruppierungen sind in Syrien aktiv. Sunnitische Milizen mit oft salafistischen Überzeugungen kämpfen mit den Oppositionellen. Die offiziell beschworene „Neutralität“ des Libanons erscheint daher als Illusion.
An mehreren Orten ist die Gewalt bereits aufgeflammt: In Tripolis kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen alawitischen Assad-Unterstützern aus dem Viertel Jabal Mohsen und sunnitischen Gruppen aus Bab al-Tabbaneh. Ähnliches wurde aus den nördlichen Grenzprovinzen Akkar und Baalbek berichtet. Hier feuerten syrische Oppositionsgruppen auf Stellungen der Hisbollah, die umgehend zurückschlug.
Die Hisbollah hat Libanon praktisch zum Kriegsgebiet erklärt
Palästinensische Flüchtlinge in Syrien und Libanon bemühten sich nach Ende des libanesischen Bürgerkriegs 1990 weitgehend um Neutralität in nationalen Konflikten. Auch aus dem syrischen Bürgerkrieg suchte die offizielle Vertretung der Palästinenserinnen und Palästinenser zunächst sich herauszuhalten. In den Lagern gab es sowohl Anhänger als auch Gegner der Assad-Regierung. Mit der Eskalation der Gewalt und schweren Angriffen auf die palästinensischen Lager durch Regierungstruppen seit Beginn der Kämpfe vor rund zwei Jahren aber, musste und wollte man sich positionieren. Viele palästinensische Gruppierungen schlossen sich der einen oder anderen Seite an. Während es keine geschlossene palästinensische Front gibt in diesem Krieg, so sind palästinensische Syrer doch aktiv im Konflikt involviert.
Obgleich die Hisbollah als Ikone des Kampfes gegen Israel in den palästinensischen Lagern einige Unterstützung genoss, bringt die Allianz mit Assads Regime Konflikte hervor. Vergangene Woche verbrannten Bewohner des Ain al-Hilweh Camps südlich der Stadt Saida aus Protest erste Hilfslieferungen der Hisbollah. Während Kampfhandlungen der Hisbollah in Syrien auch Palästinenserinnen und Palästinenser treffen, meinen viele, möchte man im Libanon nicht ihre Gaben annehmen. In Ain al-Hilweh ist die Opposition gegen die Hisbollah bislang am stärksten, in anderen Flüchtlingslagern wird Hisbollah-Hilfe weiter begrüßt. Ain al-Hilweh gilt auch als Stützpunkt radikaler sunnitischer Milizen, die sich mit der syrischen Opposition verbündet haben. Zweifellos aber bereiten sich Gruppierungen aller politischer Lager auch im Rest des Libanons auf eine Eskalation des Konflikts im Innern vor.
Palästina ist zu sehr Symbol, um nicht von allen beansprucht zu werden
Auch in Shatila wehen Hisbollah-Flaggen. Ebenso präsent sind die Symbole nationaler palästinensischer Bewegungen, unter ihnen auch die grünen Banner der Hamas. Angesichts steigender inter-religiöser Spannungen im Libanon geraten auch die palästinensischen Lager unter Druck. Konflikte zwischen sunnitischen und schiitischen Fraktionen werden spürbar schärfer. Eingezwängt zwischen sunnitischen Vierteln im Norden und schiitisch dominierten Armenvierteln im Süden, ist Shatila daher schon seit Längerem zum umstrittenen Territorium geworden. In den vergangenen Monaten haben bewaffnete Auseinandersetzungen zugenommen, im benachbarten Burj al-Barajne kämpften laut Bewohnern des Flüchtlingslager palästinensische Gruppen offen gegen die Hisbollah.
Die palästinensischen Flüchtlinge sind in großer Mehrheit sunnitisch und eher der nationalen Befreiung als dem Libanon verpflichtet. Doch ist Palästina ein zu bedeutsames Symbol im arabischen politischen Diskurs, als dass nicht alle Seiten die Flüchtlinge für sich gewinnen wollten.
300 US$ für eine modrige Zelle
Im Labyrinth der Gassen von Shatila besuchen wir die Unterkunft einer Familie, die vor sechs Wochen hier landete. Das Yarmouk Flüchtlingslager in Damaskus, aus dem sie flohen, wurde im Bürgerkrieg besonders hart getroffen. In Shatila leben sie zu elft in einem einzigen Raum von 15 Quadratmetern. Er ist modrig, voller Ratten und fensterlos. Kein Tageslicht hellt dieses Verlies auf.
Der enorme Zustrom syrischer Flüchtlinge hat die Preise im ohnehin teuren Libanon durch die Decke steigen lassen, in den Lagern wie überall sonst im Land. Über 400.000 Flüchtlinge sind im Libanon bisher registriert worden, unter ihnen 55.000 Palästinenserinnen und Palästinenser. Die libanesische Regierung schätzt die Zahl der Syrer im Land auf über eine Million – so viel wie ein Viertel der eigenen Bevölkerung. Rund 500.000 Syrerinnen und Syrer waren schon vor Kriegsausbruch zum Arbeiten im Land. Die wahren Zahlen werden weit größer sein.
Erst auf den zweiten Blick sieht man die Flüchtlinge im ganzen Land
Die Flüchtlinge aus Syrien sind überall und nirgendwo. Da sie nicht in Lagern untergebracht werden, lassen sie sich im ganzen Land nieder, kommen bei Verwandten unter, mieten Wohnungen an oder errichten kleine Zeltstädte, besonders entlang der östlichen Grenze. Der Libanon ist kein einfacher Zufluchtsort für Syrerinnen und Syrer: Preise sind hier im Schnitt 50 Prozent höher als in Syrien. Selbst diejenigen, die mit einigen Reserven kommen, können nicht lange von ihren Ersparnissen leben.
Die Libanesen haben den Zustrom bislang ruhig hingenommen. Viele unterstützen die Flüchtlinge mit Lebensmitteln und Unterbringung. Doch die vielen Ankömmlinge konkurrieren nun um Wohnraum und Arbeitsplätze, in einigen Gegenden steigen spürbar die Zahl an Einbrüchen und die Prostitution. Das belastet das Miteinander.
Nachdem die Bekanntmachung der Hisbollah die politische Lage angespannt hat, kamen schnell erste Zusammenstöße mit Syrern auf. In Harouf im Süden des Landes attackierten Hisbollah-Anhänger syrische Gastarbeiter, nachdem ein getöteter Hisbollah-Kämpfer aus dem umkämpften syrischen Qusayr im Dorf beerdigt wurde.
Der Zedernstaat sorgt sich um seine Einheit und reagiert doch zögerlich
Im Libanon, wo die Spuren des Bürgerkriegs noch allgegenwärtig sind, sieht man schnell das fragile System konfessioneller Politik bedroht. „Wenn Ende des Jahres das halbe Land aus Syrern besteht, dann ist das ein ernstes Problem für das Fortbestehen des Libanons,“ bemerkte Ramzi Naaman, Zuständiger für Flüchtlingsfragen in der libanesischen Regierung, in einem Interview mit dem Independent im März. Präsident Michel Suleiman wandte sich hilfesuchend an die internationale Gemeinschaft und warnte vor möglichen „negativen Auswirkungen auf den bürgerlichen und regionalen Frieden“. Angesichts aufkommender Kämpfe in den Grenzregionen überbieten sich libanesische Politiker mit der Mahnung an die „nationale Einheit“.
Palästinensische Flüchtlinge schloss man im alten libanesischen Mantra der „Einheit“ nie wirklich ein. Mal hitzig und gewaltsam in die libanesische Politik involviert, mal unterdrückt und machtlos, waren sie doch nie vollwertiger Teil der Gesellschaft. Angesichts der Bestrebungen nach Rückkehr hielt man auch von palästinensischer Seite aus Distanz. Shatila, berüchtigt für das Massaker libanesisch-christlicher Milizen mit logistischer Unterstützung der israelischen Armee an seinen Bewohnern 1982, ist in gewissem Sinne Inbegriff der palästinensischen Bedrängnis im Land.
In Syrien lebten palästinensische Familien vor dem Krieg um einiges besser und freier. Dann gerieten sie zwischen die Fronten, einige Palästinenser wurden selbst aktiv und schlossen sich einer der Kriegsparteien an. Die UNRWA geht davon aus, dass allein innerhalb Syriens 235.000 Palästinenserinnen und Palästinenser auf der Flucht sind. Im Zentrum des lebhaften Beiruts hängt Syriens Zerfall auch über Shatila. Die Verantwortlichen im Camp sind verzweifelt. „Wir bitten um Hilfe,“ sagt Abu Nur.
Die Autorin dankt Christoph Dinkelaker für die gemeinsame Recherche im Libanon.