Aus der Besetzung des Gezi Parks direkt neben dem Taksim Platz in Istanbul hat sich innerhalb weniger Tage ein Massenprotest entwickelt, der sich immer weiter ausdehnt. Hannah Mühling (Text) und Annika Sehn (Fotos) haben für Alsharq aktuelle Eindrücke zu den anhaltenden Auseinandersetzungen gesammelt.
Vergangene Woche waren es einige hundert, vor allem linksalternative und kapitalismuskritische DemonstrantInnen, die den letzten grünen Fleck im Stadtzentrum Istanbuls vor der Zerstörung zugunsten eines weiteren riesigen Einkaufsmarkts retten wollten. Erst der extreme Einsatz von Wasserwerfern, Tränengasbomben und Schlagstöcken gegen die friedlichen DemonstrantInnen bei der Räumung des Parks hat viele Menschen dazu bewegt, sich an den Protesten zu beteiligen. Das Feuer, das die Polizisten gelegt haben, um die Zelte der ParkbesetzerInnen abzubrennen, wurde so zu einem politischen Flächenbrand. Viele junge Menschen werden durch den Protest politisiert. Man kann ganze Schulklassen beobachten, wie sie sich nach der Schule gemeinsam aufmachen, um zu protestieren.
Schon lange geht es nicht mehr allein um den Erhalt von Bäumen. Seit vergangenen Freitagabend fordern hunderttausende Protestierende den Rücktritt der Regierung, drücken ihren Unmut aus über das gewaltsame Vorgehen der Polizei und die Einseitigkeit der Medien. Neben dieser direkten Reaktion auf die aktuellen Ereignisse richtet sich der Protest auch gegen die Politik der AKP in den letzten Jahren. In dem schleichend aber stetig zunehmenden Einfluss des Islam auf die Gesellschaft, den die AKP vorantreibt, sehen die Protestierenden eine Gefahr für den Laizismus. Besonders aufgebracht sind sie über Pläne für eine restriktive Politik in Bezug auf Alkoholkonsum, die ein Verkaufsverbot nach 22 Uhr einschließt. Auch Diskussionen um Themen wie Abtreibung, Familienplanung und Verhüllung der Frau beschäftigen die Menschen auf der Straße.
Solidarität in der Türkei und auf der ganzen Welt
Eine der meistgerufenen Parolen ist „Farşizme karşı omuz omuza!“, was soviel heißt wie „Schulter an Schulter gegen den Faschismus!“ Mit dem Gesang „Şerefine Tayıp!“ („zum Wohl Tayıp!“) prosten viele DemonstrantInnen dem Premierminister in ironischem Sinne zu. Die Mischung der Gruppen, die sich in diesem Protest organisieren, ist bunt und reicht von Umweltaktivistinnen über Gewerkschaften, kommunistische Parteien und antikapitalistische Muslime, bis hin zu zahlreichen Kemalisten. Sie rufen „Wir sind Mustafa Kemals Soldaten!“ und schwenken dazu die Nationalflagge sowie Bilder von Attatürk.
Doch obwohl so viele Gruppen mit teils gegensätzlichen Einstellungen zusammenkommen, ist es eine große gemeinsame Bewegung, die breite Unterstützung in der Bevölkerung erfährt. Als am Freitag die Luft rund um den Taksim Platz stundenlang von Tränengas geschwängert war, konnte man beobachten, wie viele Menschen ihre Wohnungen, Bars und Restaurants für die verletzten Protestierenden geöffnet und sie mit Zitronen und Milch gegen das Pfefferspray versorgt haben. Selbst in Nişantışı, einem Stadteil, der von den Zentren des Protestes ein ganzes Stück entfernt liegt, kann man in vielen Fenstern Frauen und Kinder sehen, die auf Töpfen und Pfannen Lärm machen und dadurch ihre Sympathie mit den Protestierenden zeigen.
Der Protest hat sich inzwischen auf viele weitere Städte ausgeweitet und erfährt Solidarität durch Bewegungen auf der ganzen Welt. Großer Unmut richtet sich gegen die türkischen Medien, die kaum über die Proteste berichten. Währenddessen geht die Polizei weiter mit Einsatz von massiver Gewalt gegen die Protestierenden vor. Da von Seiten des Staates versucht wird, die brutale Vorgehensweise zu vertuschen, gibt es keine sicheren Zahlen zu Verletzten oder gar Todesopfern. Sicher aber ist, dass die Polizei mittlerweile schon so viele Menschen festgenommen hat, dass sie zu deren Unterbringung bereits auf Sporthallen ausweichen muss.
Dass Erdoğan gestern das Land verlassen hat, um nach Tunesien zu reisen, wird von den protestierenden Menschen hier als ein deutliches Zeichen gesehen. Dass er in ein Land reise, in dem es weniger demokratische Strukturen und eine stärkere muslimische Prägung im Alltag gibt, lasse erkennen, dass seine Vision für die Türkei genau diejenige ist, gegen die sich dieser Protest richtet.