Seit Tagen tobt in Istanbul der Protest gegen die Regierung von Recep Tayyib Erdogan. Was als Protest gegen ein Einkaufszentrum am Taksim-Platz begann, hat sich zur größten politischen Krise in der Amtszeit der Premierministers entwickelt. Das liegt auch am rücksichtslosen Vorgehen der türkischen Sicherheitskräfte. Ein Augenzeugenbericht von Nora Haakh.
Es brennt. Es brennt innerlich. Es brennt in der Nase, im Rachen, in den Augen. Als würde im eigenen Körper ein Feuer lodern, das einem die Schleimhäute von innen versengt. Ich wache auf und denke, ich bin in einem brennenden Haus. Es ist Freitag, der 31. Mai, 5 Uhr morgens, und erst als mein Freund Orhan Esen, in dessen Wohnung in der Istanbuler Innenstadt ich untergekommen bin, von einem Zimmer ins nächste rennt, um die Fenster zu verschließen, begreife ich, dass ich Tränengas in der Nase habe.
Das Gas treibt vom nahe gelegenen Taksim-Platz herüber. Die Polizei hat in dieser Morgenstunde das Camp geräumt, in dem AktivistInnen seit mehreren Tagen gegen den Abriss des am Taksim-Platz gelegenen Gezi-Parks protestierten. Neben dem massiven Einsatz von Tränengas wurden bei der gewaltsamen Räumung des Parks einige Zelte angezündet und es soll – so heißt es – ein 18-Jähriger unter einer umstürzenden Mauer begraben worden sein. Drei Abende lang hatte dort unter dem Motto „Occupy Gezi“ Festivalstimmung geherrscht: Zelte, Picknick, Musik, bunte Transparente. Die vorbeifahrenden Autos hupten fröhlich ihre Zustimmung zu den vorwiegend jungen Menschen – Linke und Umweltschützer, Intellektuelle und Künstler –, die sich im Park versammelt hatten, nachdem am Dienstagmorgen die ersten Bäume den Baufahrzeugen zum Opfer gefallen waren.
"Wenn das hier auch noch zerstört wird, was sollen wir machen?"
Taksim ist das vielbeschäftigte Zentrum der europäischen Seite von Istanbul. Taxis, Metro, Busse, Fußgänger: zehntausende Menschen kommen jeden Tag hier vorbei. Seit Monaten führt sie ihr Weg vor allen Dingen an Bauzäunen vorbei. Großflächig abgesperrt ist eine der ambitioniertesten Baustellen der Regierung Erdogans und seiner „Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt“ (AKP): ein Autotunnel soll hier entstehen, durch den eine Ampel der vielbefahrenenen Kreuzung eingespart werden kann. Auch der kleine Gezi-Park mit seinen Baumreihen soll weichen: ein Teil für den geplanten Straßenbau, der Rest für die Rekonstruktion einer vor Jahrzehnten abgerissenen osmanischen Kaserne, in der ein weiteres Einkaufszentrum Platz finden soll. Dabei fehlt es im Kiez nicht an Einkaufsmöglichkeiten – an Bäumen schon.
Am Abend kehren die vertriebenen AktivistInnen mit großer Verstärkung zum abgesperrten Park zurück. Eine alte Frau mit adrettem weißem Kopftuch sagt: „In unserer Nachbarschaft ist nur dieser Ort übrig geblieben. Welchem reichen Typen hat unser Premierminister diesen Ort versprochen? Wenn das hier auch noch zerstört wird, was sollen wir machen? Kein Stückchen Erde mehr weit und breit, auf das wir unseren Fuß setzen könnten. Wir haben genug von diesen Gebäuden. Es wäre viel besser, wenn wir alle einen einzigen gemeinsamen Garten hätten, in den unsere Kinder kommen können, als wenn jeder von uns zehn Wohnungen sein eigen nennen würde. Was sonst habe ich unserem Premierminister zu sagen?“ Die alte Frau hält dem Kameramann ein hübsch geblümtes Tuch hin. „Ich bin 76 Jahre alt und heute bin ich hierher gekommen mit diesem Stück Stoff, damit ich mir den Mund zumachen kann, wenn die Polizisten dieses Zeug sprühen.“
Die Gewalt trifft nicht nur Aktivisten
Das Vorgehen der Polizei in seiner unverhältnismäßigen Brutalität und Willkür ist schockierend. Schwerbewaffnete Hundertschaften versuchen, die Protestierenden einzukesseln. Im Internet kursieren Bilder und Videos von Menschen, die durch Wasserwerfer und Tränengas schwer verletzt wurden. Ein Abgeordneter liegt verletzt im Krankenhaus, ein Journalist ist blutüberströmt, nachdem ihn eine Gaspatrone am Kopf traf. Die Gewalt trifft nicht nur Aktivisten. Am Nachmittag des 31. Mai sieht man die weißen Tränengaswolken über der ganzen Innenstadt aufsteigen. Am Abend liefern sich Polizisten und Demonstranten Straßenkämpfe in den verwinkelten Straßen um dem Taksim und auf der Istiklal Caddesi, der prestigereichen Fußgängerzone mit ihren Ladenpassagen.
Für mich: kein guter Moment für Revoluzyon Turizm, eigentlich bin ich hier, um meiner Mutter an ihrem 62. Geburtstag eine Stadt zu zeigen, die ich liebe. Hand in Hand bewegen wir uns langsam auf unsere Unterkunft zu, der Taxifahrer wollte nicht so weit in die Konfliktzone vorstoßen. „Ach, ich war jung in den Zeiten der RAF, das schockt mich nicht,“ kommentiert meine Mutter und humpelt entschlossen weiter. Wenige Minuten nachdem wir die Wohnung erreicht haben, schießen Polizisten acht, neun, zehn Tränengaspatronen gegen die metallene Absperrwand gegenüber; Momente vorher klopften noch junge vermummte Demonstranten den Takt ihrer Parolen dagegen.
„Tayyep Istifa!“
Am nächsten Morgen bringe ich meine Mutter zum Flughafen. Danach fahren schon keine Busse mehr auf die europäische Seite. Auch der Bootsverkehr solle bald eingestellt werden, heißt es, wie letztes Mal am 1. Mai. Aber der war ein Feiertag. Heute ist Samstag, der 1. Juni, und dem zivilen Widerstand gelingt es augenscheinlich, die Infrastruktur der Millionenstadt Istanbul maßgeblich zu beeinträchtigen. Also schnell auf die Fähre zwischen den Kontinenten, vollgepackt mit den unterschiedlichsten Menschen. Sie haben die gleichen Dinge im Gepäck: Zitronen. Essig. Anti-Säure-Lösung. Mundschutz. Sie haben das gleiche Ziel: Treffpunkt 13 Uhr, Taksim. Vor Kurzem wurde ein Gesetz verabschiedet, das neben dem Bauprojekt auch ein absolutes Demonstrationsverbot für den Taksim-Platz festlegte. Das soll, so meinen Viele, auch der eigentliche Grund für die Bebauung der Freifläche sein. „Und wenn sie zu Tausenden kommen, werden wir zu Zehntausenden einschreiten“, sagt Erdogan um 12 Uhr im Fernsehen. Aber die Demonstranten kommen zu Hunderttausenden.
Der Gezi-Park ist zum Symbol geworden. Hinter den Bauzäunen ist der gesperrte Park gähnend leer. Auch das Symbol ist leer. Es lässt sich beliebig auffüllen von allen, die die Nase voll haben: die Nase voll von neoliberalen Privatisierungen der Infrastruktur, die Nase voll von menschenfeindlichen Bauprojekten in der Innenstadt, die Nase voll von Maßnahmen, von denen vorwiegend die ohnehin schon ganz Reichen profitieren, die Nase voll vom repressiven Vorgehen gegen kritische Berichterstattung und die Opposition, oder auch die Nase voll von einer befürchteten weiteren Islamisierung des Alltags, wie durch die Einschränkung des Alkoholverkaufs – die Nase voll von der Politik von Erdogan, die Nase voll von Tränengas. „Tayyep Istifa!“ - „Erdogan, tritt zurück!“ Das unverhältnismäßige Vorgehen ist für Viele der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. In den Parolen, die skandiert werden, ist nur noch wenig von Bäumen die Rede, dafür viel von Freiheit, Revolution und dem Rücktritt der Regierung. Auch in Ankara und Izmir gehen zehntausende Menschen auf die Straße. Auch dort wird brutal gegen sie vorgegangen.
Die Medien konzentrieren sich auf die Miss-Wahlen
Die Mainstream-Medien halten sich in der Berichterstattung auffällig zurück. Die türkischen Fernsehkanäle konzentrieren sich weiterhin lieber auf die Wahl der Miss Türkei. Ein Demonstrant kommentiert das ironisch: „Miss Türkei 2013“ steht auf seinem Plakat mit dem inzwischen ikonisch gewordenen Foto eines Polizisten, der aus so kurzer Distanz Pfefferspray auf eine junge Frau in rotem Kleid sprüht, dass ihr die Locken zu Berge stehen. Über das brutale Vorgehen der Polizei berichten stattdessen die Kanäle der Zivilgesellschaft: Facebook, Twitter, mehrere Livestreams sind eingerichtet und rufen die Welt auf, Anteil zu nehmen und Druck auf die türkische Regierung auszuüben.
Treffpunkt: 13 Uhr in Taksim. Ich versuche durch die Fußgängerzone dorthin zu gelangen, aber bereits nach wenigen hundert Metern wird die Menschenmasse von einer Einsatztruppe in meine Richtung gejagt. Ein Wasserwerfer richtet sein Zielrohr aus. Es knallt. Wieder brennt es. In der Nase, im Rachen, in den Augen. Wenn Dich das Tränengas erwischt, verlierst Du die Orientierung. Es ist nicht der Kopf, der panisch reagiert, der Körper besorgt das von ganz alleine. Mit zitternden Beinen taumele ich in irgendeine Richtung, stolpere blind durch die blitzschnell geöffnete und wieder geschlossene Tür in irgendein kleines Restaurant.
Was die Welt in diesen Tagen von Istanbul lernen kann, ist Solidarität. Angesichts der Brutalität und Willkür der Polizeigewalt wird schnell klar: reiner Zufall, wenn es nicht mich getroffen hat. Restaurants und Läden versorgen Demonstranten mit Wasser und Essen. Hotels, Universitäten und Bordelle werden zu Lazaretten. An Hauseingängen hängen handgeschriebene Zettel: „Protestierende können in die Wohnung im 3. Stock kommen, um sich auszuruhen oder Internet zu benutzen.“ Das Militär, von Erdogan vergeblich um Unterstützung gebeten, gibt Mundschutz aus, ebenso die Apotheken und zahlreiche spontan eingerichteten Erste-Hilfe-Stellen. Menschen versorgen sich gegenseitig mit allem, was die Wirkung des Tränengases lindern kann. Selbst die Hunde und Katzen, die in den Straßen Istanbuls zu Hause sind, werden mitversorgt.
Ein Miteinander von Linken und Rechte, Transvestiten und Männern mit Gebetsketten
Am frühen Nachmittag wird die Kundgebung der Oppositionspartei CHP auf der asiatischen Seite ebenfalls nach Taksim umgeleitet. Die Autobrücke über den Bosporus ist voller Demonstranten. Kurz darauf sehe ich das schönste Bild des Tages: Eine Kolonne Polizisten, die, von Demonstranten bejubelt, mit ihrem Wasserwerfer im Schlepptau um die Ecke abzieht. Als ich den Taksim-Platz erreiche, herrscht schon Volksfeststimmung. Die Polizei hat sich ganz zurückgezogen. Der Park ist voller Menschen, die Bauzäune abgerissen. Überall auf der Baustelle klettern Menschen herum. Die Zentrale der Baufirma und das Polizeihauptquartier im Park sind ausgeräumt und über und über besprüht. Der Bagger steht still, ein Polizeiauto liegt demoliert auf dem Rücken. Ein junger Anzugträger lässt sich darauf fotografieren und posiert mit frisch gekaufter Guy-Fawkes-Maske und Victory-Zeichen. Die ursprünglichen Bloccupy-AktivistInnen, die den Protest gestartet haben, sind inzwischen kaum sichtbar unter all den Fahnen und Gruppierungen unterschiedlicher Couleur. Die erschöpften KämpferInnen der letzten Tage und Stunden erkennt man am Mundschutz, der noch um den Hals baumelt, den Spuren weißer Anti-Säure-Lösung im Gesicht, und den Augenringen nach einigen schlaflosen Nächten. Aber alle sind da: Linke und Rechte, Anarchisten und Kemalisten, Transvestiten und Männer mit Gebetskette, aber auch Graue Wölfe. Ein surreales Nebeneinander. „Bis vor Kurzem gingen viele dieser Menschen noch auf die Straße, um das Militär um einen Putsch zu bitten,“ sagt Orhan Esen. „Jetzt sind sie selber hier und stellen ihre Forderungen.“
Sonntag, der 2. Juni. Auf der Istiklal-Straße flanieren wieder Touristen. Blitzschnell werden die Graffiti des letzten Abends von Schaufenstern gerieben und überstrichen. Stadtreinigung gegen revolutionäre Parolen. In Taksim sind es Freiwillige, die eifrig den Müll einsammeln. Andere pflanzen Bäume und Blumen. Auch heute sind Platz und Park brechend voll. „Tayyep istifa!“ Nicht nur den Raum, auch die Mittel der Repression eignen sich die Demonstranten an. Eine Freundin postet ein Foto: In einer säuberlichen Reihe leerer CS-Gas-Patronen will sie nun zarte Baumableger großziehen. Gaspatronen zu Blumentöpfen. Kurz erschrecke ich, als ich mitten im Getümmel wieder eine der gefürchteten weißen Wolken aufsteigen sehe, aber was hier brennt, ist Freudenfeuer – bengalisches Feuer, bekannt aus dem Fußballstadion.
Die ÇARŞI Fans des Fußballclubs Besiktas waren nach der Räumung des Parks maßgebliche Akteure der Proteste. Während um den Taksim-Platz die ganze Nacht lauthals und von der Polizei unbehelligt der Rücktritt Erdogans gefordert wird, liefern sie und viele Andere sich im Stadtteil Besiktas weiterhin Straßenkämpfe mit der Polizei. Unweit des Büros des Premierministers werden die auch in diesem Viertel eklatanten Privatisierungsmaßnahmen der vergangenen Monate angeprangert. Die Polizei schießt zurück: mit Tränengas- und Plastikpatronen, auch in die Häuser hinein, in denen Menschen Schutz suchen. Wieder gibt es Schwerverletzte, bei den Protesten in Ankara angeblich Tote. Es brennt. Es brennt innerlich. Die Situation kann sich stündlich ändern.