05.05.2013
Presseschau zu Chemiewaffen in Syrien: "Ständig neue rote Linien"
Symbolbild: Spuren des Bürgerkrieges in Aleppo Foto: Flickr/FreedomHouse
Symbolbild: Spuren des Bürgerkrieges in Aleppo Foto: Flickr/FreedomHouse

Der angebliche Einsatz von Chemiewaffen gegen Zivilisten in Syrien beschäftigt die Kommentatoren im Nahen Osten. Die Medien des syrischen Regimes und seiner Verbündeten weisen die Vorwürfe zurück, andere Zeitungen fordern eine Untersuchung der Vorfälle. Arabische und israelische Blätter kritisieren die zögerliche Haltung von Barack Obama. Eine Presseschau zu aktuellem Anlass.

US-Präsident Barack Obama hatte den Einsatz von Chemiewaffen gegen das syrische Volk früh als „rote Linie“ bezeichnet. Sollte das Regime von Bashar al-Assad die übertreten, greife man ein, so Obama. Nachdem syrische Oppositionelle und westliche Geheimdienste starke Indizien für den Einsatz dieser Waffen gefunden haben, wächst der Druck auf die USA und ihre Verbündeten, Assad militärisch entgegenzutreten. Israel handelt derweil allein und hat in den vergangenen Tagen mehrfach Ziele in Syrien beschossen – möglicherweise auch Einrichtungen, in denen chemische Kampfstoffe hergestellt werden. Die Medien im Nahen Osten sind sich uneins über die möglichen Gefahren von Assads Arsenalen. Während einige Kommentatoren ein schnelles Eingreifen fordern, sehen andere die Debatte lediglich als Vorwand, unter dem die Vereinigten Staaten in einen neuen Krieg gegen ein arabisches Land ziehen wollen.

Ganz klar ist die Sache für die staatliche syrische Tageszeitung al-Thawra. „Die Chemiewaffen sind nur ein amerikanisches Spiel um Syrien anzugreifen“, schreibt das Blatt aus Damaskus. Die Behauptungen der US-Regierung dienten lediglich dem Ziel, die Medien, das Militär und die Öffentlichkeit auf „die geplante Aggression gegen Syrien“ vorzubereiten. Die Vorwürfe aus Washington seien deshalb besonders heuchlerisch, weil die USA selbst mehrfach „Völkermorde mit Chemie und Biowaffen“ begangen hätten – im Irak, in Korea und Vietnam. Selbst heute noch entwickle die US-Armee Massenvernichtungswaffen. „Die amerikanischen Zionisten beschuldigen die Syrische Arabische Republik, die nur sich selbst und die Würde ihres Volkes verteidigt, weil sie dem kolonialen Projekt des ‚Greater Middle East’ im Wege steht, unter dessen Deckmantel der sogenannte Arabische Frühling initiiert wurde, mit dem die USA die Araber erniedrigen.“

„Die Verwendung von Chemiewaffen ist eine Lüge“

Publizistische Schützenhilfe bekommt die syrische Führung auch von ihrem wichtigsten Verbündeten in der Region, Iran. Nachdem iranische Medien vergangenes Jahr vereinzelt über die „zionistischen Pläne“ berichteten, nach denen Syrien Chemiewaffen einsetzen wolle, kamen über mehrere Monate keinerlei Artikel zum Thema. Nun sind die Anschuldigungen seit einigen Wochen wieder in den Medien präsentund wird vor allem von Blättern verbreitet, die als extrem rechts und nah am iranischen Sicherheitsapparat gelten.

Unter ihnen die Zeitung Keyhan: Das Blatt ist sich sicher: „Die Verwendung von Chemiewaffen ist eine Lüge.“ Die Zeitung aus Teheran schreibt, Amerika und England zögen eine neue „Verschwörung“ auf, indem sie behaupten, der Staat setze in kleinem Maße Chemiewaffen gegen seine Bevölkerung ein. Keyhan hebt dabei hervor, dass schon bevor die USA vom Einsatz des Kampfstoffs Sarin sprachen, die „Zionisten“ behaupteten, Damaskus setze Sarin ein. Es folgt ein Vergleich mit den „Beweisen“, die damals die Regierung George Bushs anführte, um den Irak anzugreifen. Auch der Sprecher der britischen Regierung wird zitiert, der „den begrenzten, doch belegbaren Einsatz von Chemiewaffen als Kriegsverbrechen“ bezeichnete. Anschließend erinnert Keyhan daran, dass Amerika und England in den achtziger Jahren selbst den Irak dabei unterstützt hatten, Chemiewaffen gegen Iran einzusetzen.

„Krieg führen ist noch kein Kriegsverbrechen“

Am anderen Ufer des Persischen Golfs sieht man die Lage differenzierter: „Der angebliche Einsatz chemischer Waffen gegen das eigene Volk von Bashar al Assad gehört untersucht“, fordert der Kommentator der Gulf News aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, und er erklärt auch gleich, wer das zu leisten habe: Die Vereinten Nationen. „Alle Staaten müssen anerkennen, dass die USA keine Glaubwürdigkeit besitzen, um so etwas zu beurteilen“, spätestens seit Colin Powells Präsentation der angeblichen Irakischen Massenvernichtungswaffen. Und sollte Assad tatsächlich chemische Waffen eingesetzt haben, gehöre er vom Internationalen Strafgerichtshof wegen Kriegsverbrechen verurteilt. Nicht jedoch für den gesamten Krieg, denn „Krieg führen, wie grausam und mörderisch er auch sein mag, ist noch kein Kriegsverbrechen, wie etwa Völkermord“.

Der libanesische Orient le Jour beschäftigt sich mit dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. „Wir fragen die ‚vereinten‘ Mitglieder, welchen Sinn Ihr Eurer Versammlung gebt? Habt Ihr vielleicht Antworten für die Babys, Kinder, Frauen, Männer, Alten, Verletzten, Behinderten, die in Syrien sterben?“ Stattdessen, so der Kommentar, wiederholten die Mitglieder täglich ein „beängstigendes Stottern“ zum Geschehen. „Bitte versichert Euch, bevor ihr die ungeheure Aufgabe übernehmt, die Menschenrechte zu wahren, dass ihr hochqualifizierten Menschen auch eine mentale und emotionale Sensibilität mitbringt, die der Geschichte würdig ist“, fordert der Autor.

„Wie 2003 im Irak“

Die bisherige US-Politik gegenüber Syrien habe deutlich gemacht, dass Amerika „seinen Status als Supermacht und seinen Ruf als Weltpolizist verliert“, sagt der libanesische Daily Star. Die USA „wirken immer unsicherer, wie sie mit diesem tödlichen Konflikt umgehen sollen“, so der Kommentator. Die Äußerungen der Politiker und Militärs seien „schwammig und bedeutungslos“. Die USA und der Westen hätten ständig neue „Rote Linien“ gezogen: als in Syrien friedliche Demonstranten niedergeschossen wurden, als aus Kugeln Mörserbomben wurden, und als Raketen vom Himmel fielen. Ähnliches sei auch jetzt zu erwarten. Die USA seien „seit ihren Missgeschicken im Irak und in Afghanistan ein verändertes Land“, besonders hinsichtlich ihrer Außenpolitik im Nahen Osten. „Es ist bedrückend einfach, aus der allgemeinen Gleichgültigkeit zu schließen, dass für Amerika nur Länder mit großen Ölvorkommen etwas zählen“ – wie zuletzt in Libyen zu sehen gewesen sei.

Ganz anders sieht das Hassan Moali vom algerischen El Watan, der die Vereinigten Staaten „die Kriegstrommeln schlagen“ hört. Ironisch merkt er an: „Das syrische Regime, das seit mehr als zwei Jahren nahezu 70.000 Menschen getötet hat – ohne dass die USA das übermäßig gerührt hätte – erscheint auf einmal als große Bedrohung. Na bravo!“ Es sei ganz offensichtlich, dass Barack Obama die öffentliche Meinung auf eine eventuelle „Korrektur“ des syrischen Regimes vorbereite, und zwar mit dem guten alten Rezept seines Vorgängers George W. Bush, der seinerzeit versuchte, die Welt und die UN mit der Rhetorik angeblicher Massenvernichtungswaffen mit ins Boot zu holen. „Die USA setzen erneut auf das Pferd der Waffen, dieses Mal chemische, damit sich die Pille der Militärschläge gegen Syrien schlucken lässt.“ Wie im Irak wollten die USA auch dieses Mal den Nahen Osten destabilisieren, um ihn besser unterdrücken zu können. Obamas Ankündigung, sich mit den amerikanischen Partnern in der Region auszutauschen, wertet der Kommentator als Versuch, „den Angriff auf Syrien an Israel, Katar und Saudi-Arabien zu verkaufen.“ Denn schließlich: „Wenn die Vereinigten Staaten Syrien angreifen wollen, auf welche Weise auch immer, wird niemand sie davon abhalten können. Wie 2003 im Irak.“

Von Russland brauchen die USA keine Hilfe zu erwarten

Die Zeitung al-Ghad aus Jordanien äußert den Eindruck, dass US-Präsident Barack Obama angesichts des angeblichen Chemiewaffeneinsatzes in Syrien „immer konfuser“ handele. Die Warnungen, die Washington bislang an Damaskus übermittelte, hätten sich als hohl erwiesen. Die Militärstrategen im Pentagon hätten klar gemacht, dass für eine Sicherung der syrischen Chemiefabriken 75.000 US-Soldaten benötigt würden. Außerdem wiesen die Planer bei jeder Gelegenheit darauf hin, dass die Anlagen im ganzen Land verstreut seien. „Diese Risiken brauchen eine gründliche Untersuchung und Planung. Nur sollte niemand darauf vertrauen, dass die US-Regierung dafür die effektivste Strategie hat“, so der Kommentar.

Syrien und sein Verbündeter Iran haben Obama vor eine Aufgabe gestellt, analysiert die pan-arabische Zeitung al-Hayat aus London. Der US-Präsident müsse nun zeigen, ob die „rote Linie“, die er im vergangenen Jahr gezogen hatte, heute noch gilt. Falls nicht, könnte das Teheran ermutigen, sein Atomprogramm zu forcieren, schließlich hatte Obama eine Islamische Republik Iran mit Nuklearwaffen in der Vergangenheit auch als „rote Linie“ bezeichnet. Sollten sich die USA doch zu einer Militärintervention entschließen, sei die wichtigste Frage: „Wird der US-Präsident nur die chemischen Anlagen ausschalten oder entschließt er sich dazu, das syrische Regime mit Stiel und Stumpf herauszureißen?“ Von Russland dürften die USA keine Unterstützung für eine UN-Resolution hinsichtlich der Chemiewaffen in Syrien erwarten, prophezeit al-Hayat. Erst wenn sunnitische Extremisten in den Reihen der Rebellen nach dem syrischen Waffenarsenal greifen, würden sich Obama und Putin auf derselben Seite wiederfinden.

„Rot verfärbt sich in tiefes Lila“

In Israel wird der Einsatz von chemischen Waffen in Syrien erwartungsgemäß mit viel Aufmerksamkeit und Sorge verfolgt. Bisher werden vor allem Berichte mit neuesten Erkenntnissen zur Situation wiedergegeben. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht dabei die prekäre Sicherheitssituation Israels als Nachbarland Syriens.: So schrieb die Tageszeitung Maariv in der vergangenen Woche: „Die rote Linie ist erreicht“.

Yedioth Aharonot schließt sich dieser Einschätzung an: „Die rote Linie ist erreicht: Rechtlich, moralisch und menschlich. Das Rot verfärbte sich bereits in tiefes Lila noch bevor von chemischen Waffen die Rede war: die Welt schaut zu, als ob 70.000 Tote bis zum heutigen Tag kein Beweis dafür seien, dass die schlimmsten Dinge genau jetzt vor unseren Augen geschehen“. Yedioth Aharonot, Haaretz und Maariv berufen sich alle auf Quellen, die besagen, dass die Lage in Syrien von Sicherheitskreisen sehr Ernst genommen werde.

Auch die chassidische Zeitung Jewish Daily News betonte, dass die Sicherheitsdienste in Israel angesichts der Lage in Israel keinen ruhigen Schlaf mehr fänden. Maariv zitiert einen hohen Sicherheitsbeamter mit den Worten, Israel halte Assads Einsatz tödlicher Chemiewaffen für eine "unbestrittene Tatsache“. In einem Pressegespräch sagte der Beamte, es gebe „überwältigende Beweise dafür, dass solche Stoffe im Einsatz sind und das ist den Geheimdiensten auch bekannt“. Noch deutlicher wurde der Leiter der Forschungsabteilung des militärischen Geheimdienstes, Brigadegeneral Itai Baron Marr. Er wurde von Maariv wie folgt zitiert: "Wir haben bereits zweimal Nutzung von tödlichen chemischen Waffen, wahrscheinlich vom Sarin-Typ, durch das Assad-Regime feststellen können. Wir sehen keine Möglichkeit, dass Syrien zu irgendeiner Stabilität zurückkehrt – ob mit Assad oder ohne“.

„Israels dritte Front“

Die israelischen Medien sind sich einig, dass der Einsatz von Giftgas in Syrien auch für Israel eine neue Stufe der Bedrohung darstellt. In Haaretz sprach ein unbekannter Militär-Sprecher von Syrien als einer “dritten Front”, die Israel neben der Bedrohung von Raketen aus Gaza und militanten Palästinensern in der Westbank als militärische Bedrohung einschätze. Eine militärische Großübung, für die zu Wochenbeginn tausende Armee-Reservisten an die Grenze zum Libanon berufen wurden, wurde von der israelischen Presse auch als ein deutliches Zeichen an das Assad-Regime verstanden: “Israel wird immer nervöser. Je komplexer der Bürgerkrieg dort wird, desto schwieriger wird es, die Chemiewaffen der Regimes zu lokalisieren” schreibt Haaretz.

Zunehmend wird auch ein Eingriff Israels in den Konflikt in Syrien diskutiert. Während die meisten Medien die Lage Obamas als „Dilemma“ verstehen, so wird immer wieder betont, dass die „rote Linie“ im Bezug auf Syrien für beide Länder sehr unterschiedlich sei. Was für die USA noch hinzunehmen sei, sei für Israel nicht tolerierbar. So schreibt Eitan Haber für Y-Net: „Die Amerikaner verbergen ihre Absichten in Hinblick auf Syrien und Iran nicht. Sie sind noch weit davon entfernt, sich ihre Hände im nuklearen und chemischen Schmutz dreckig zu machen. Bei seinem Besuch sagte Obama hier in Israel noch auf Hebräisch: ‚Ihr seid nicht allein’, aber die Amerikaner wollen jede Chance nutzen, um das Leben ihrer Leute nicht auf dem Weg nach Teheran zu gefährden. (...) Israel ist nicht so groß wie die USA und es ist auch keine Weltmacht, (...) aber es werden Tage kommen, in denen Israel und die großartige israelische Armee in der Front gegen Iran und Syrien so gut wie alleine sind.“