04.04.2013
Eine andere Perspektive - Gespräche mit Irakerinnen in der Diaspora

Im fünften Teil des Alsharq-Fokuses "Irak - zehn Jahre danach" wird es persönlicher. Zwei Irakerinnen im Exil, Zina, die in Deutschland lebt, und Massarah, die in Kanada lebt, sprechen im Interview über ihre sich wandelnde Wahrnehmung des Iraks. Einblicke in die Diaspora-Gemeinde von Ansar Jasim.

Zina, 30, ist im Irak geboren und wuchs erst in Jemen und später in Deutschland auf.

Alsharq: Wie hast Du 2003 über den Einmarsch im Irak gedacht? Was waren Deine Erwartungen?

Zina: Meine Gefühle waren gespalten. Auf der einen Seite war ich froh, dass es endlich ein Ende der Diktatur Saddam Hussains im Irak geben würde. Ich hatte gehofft, das würde zu einer Verbesserung der Situation der Menschen im Irak führen.

Was verbindet Dich heute mit dem Irak?

Ich liebe die Musik, das Essen und die Menschen, die aus dem Land geflohen sind. Wobei ich hier sagen muss, dass es einen Unterschied in der Mentalität der verschiedenen Flüchtlingsgenerationen gibt. Ich kann mich am besten mit denen identifizieren, die vor 1990, also vor dem Erlass des Embargos, das Land verließen. Das Embargo ließ das Land aushungern und hat viele Iraker wieder stärker religiös werden lassen. Die Denkweise und Überzeugungen der Generation der vor 1990 Geflohenen stimmen mit meinen überein. Hinzu kommt, dass ich unverkennbar wie eine Irakerin aussehe, das wird mich also immer an das Land binden.

Hast Du den Irak nach 2003 besucht? Und wie hast Du das Land dabei empfunden?

Ich war im Juni 2003 im Irak, also direkt nach dem Krieg. Ich kannte das Land nur aus den idealisierenden Erzählungen und Fotos meiner Eltern und ihrer Freunde, die in den 1980ern das Land verlassen hatten. Sie waren noch vor dem Embargo geflohen und auch bevor zwei Kriege, einer gegen den Iran und einer gegen Kuwait, den Irak von Grund auf änderten. Wir sind damals aus Erbil mit dem Auto nach Bagdad gefahren. Die Strecke war gesäumt von ausgebrannten Militärautos und Panzern. In Bagdad angekommen, sahen wir das große Elend der Menschen, die noch so stark unter den Bombardierungen litten. Die waren da gerade mal zwei Monate her. Die Infrastruktur war in katastrophalem Zustand. Ich merkte, dass für die Menschen religiöse Vorstellungen eine entscheidende Rolle spielten. So hatte ich mir das Land nicht vorgestellt. Es war ein totaler Kulturschock.

Was ist Dir von Deinem Aufenthalt als negative Erfahrung im Gedächtnis geblieben?

Während meines Aufenthalts bekam ich Typhus und musste behandelt werden. Nachdem mein Vater beschlossen hatte, mich in ein Krankenhaus zu bringen, fragten ihn seine Verwandten, ob er denn nicht wisse, dass man im Irak nur zum Sterben ins Krankenhaus geht. Ich verstand diese Aussage erst, als ich es mit eigenen Augen sah: Ich war entsetzt über die hygienischen Zustände dort. Die Krankenhäuser waren ja direkt nach dem Krieg geplündert worden. Es gab für Patienten nicht einmal Betten, sodass sie auf dem Boden liegen mussten. Es gab weder Spritzen, noch Verbandszeug. Das lag nicht nur am Krieg, denn durch das Embargo gab es schon seit mehr als zehn Jahren keine funktionierende Versorgung mehr.

Seit dem Irakkrieg sind bereits zehn Jahre vergangen. Wie meinst Du wird der Irak in weiteren zehn Jahren aussehen?

Ich fürchte, dass sich die Lage in den nächsten zehn Jahren kaum merklich verbessen wird. Den Menschen fehlen richtige Schulbildung und auch das Verständnis von Demokratie. Sie verstehen sich heute nicht als IrakerInnen, sondern definieren sich sehr stark über die religiöse Zugehörigkeit und Herkunft. Ein irakischer Schiit ist in erster Linie ein Schiit und ein Kurde ist in erster Linie Kurde. Es gibt kein Wir-Gefühl und das nutzen die regierenden Mächte für sich aus. Der Irak ist ein Vielvölkerstaat, der Demokratie erst lernen muss und eine gemeinsame Identität braucht, um demokratisch handeln zu können.

Geht es den Menschen im Irak Deiner Ansicht nach heute besser als zu Saddams Zeiten?

Was persönliche Freiheiten betrifft, ist die Lage der Menschen um einiges besser geworden. Schon dadurch, dass das Embargo aufgehoben wurde, hat sich die Situation für viele Menschen verbessert. Außerdem können sie endlich das Land verlassen und reisen. Lang vermisste Familienmitglieder, die ihre Heimat aus verschieden Gründen, etwa politische Verfolgung, verlassen mussten, konnten endlich wieder einreisen und ihre Angehörigen sehen. Bis zu einem bestimmten Grad gibt es jetzt sogar Pressefreiheit. Durch die neuen Medien können sich die Menschen nun global vernetzten. Zu Saddam Hussains Zeiten wäre das undenkbar gewesen.

Hat sich Deine Wahrnehmung von IrakerInnen mit den Geschehnissen der letzten zehn Jahre verändert?

Leider ja. Ich sehe sie in einem zunehmend negativen Licht. Es kommt mir so vor, als seien viele IrakerInnen nur noch auf ihren persönlichen Vorteil aus: Geld bestimmt das Leben. Es ist erstaunlich zu sehen, wer heute im Irak über viel Geld verfügt. Einer der Gründe hierfür ist wohl, dass die Menschen die Regierenden zum Vorbild nehmen und diese sind durch und durch korrupt.

Wie schätzt Du das Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen und Ethnien im heutigen Irak ein?

So schlecht, wie in den letzten zehn Jahren, war es noch nie. Mittlerweile gibt es in Bagdad Stadtteile, in denen nur noch Schiiten oder Sunniten leben. Man wird beim ersten Zusammentreffen inzwischen gefragt, welcher Konfession man angehört. Das war früher nicht so. Viele IrakerInnen mussten aufgrund konfessioneller und ethnischer Verfolgung das Land verlassen und suchten in Europa oder Amerika Zuflucht. Zum Beispiel die christlichen IrakerInnen, die massiv verfolgt wurden. Es gab mehrere brutale Angriffe auf ihre Gotteshäuser. Mittlerweile gibt es nur noch wenige tausend Christen im Irak, früher waren es an die eineinhalb Millionen. Die Menschen müssen sich, aus meiner Sicht, erst wieder als IrakerInnen begreifen. Sie brauchen eine starke Regierung, die für das Wohl des Volkes arbeitet und nicht nur für ihr eigenes Überleben.

Spiegeln sich die Konflikte, die im Irak eine Rolle spielen, auch in der irakischen Diasporagemeinde in Deutschland wieder?

Ganz klar: Nein.

 

Massarah, 24, ist in Jordanien geboren, hat einige Jahre ihrer Kindheit dort und im Irak verbracht, aufgewachsen ist sie in Kanada.

Wie hast Du 2003 über den Einmarsch im Irak gedacht? Was waren Deine Erwartungen?

Ich war noch ziemlich jung, gerade 14 Jahre alt. Ich war unsicher, was ich von der Situation halten sollte. Ich erinnere mich aber noch genau an den Tag, als es begann. Ich erinnere mich daran, was ich machte, als die ersten Kriegsbilder im Fernsehen ausgestrahlt wurden. Ich erinnere mich daran, wie traurig und besorgt ich war. Ich glaube nicht, dass ich ein politisches Bewusstsein dafür hatte, was passierte. Ich wusste aber, dass es falsch war. Ich wusste, dass ich besorgt war, besorgt über die Zukunft meiner Familie und des Iraks.

Was verbindet Dich heute mit dem Irak?

Das ist schwer zu beantworten. Ich fühle mich gleichzeitig verbunden und losgelöst vom Irak. Ich habe dort nur eine kurze Zeit gelebt, als ich noch sehr jung war, gerade zwei Jahre alt. Deswegen habe ich leider keine bewussten Erinnerungen. Trotzdem ist es ein großer Teil von mir. Ich fühle eine tiefe Beziehung nicht unbedingt mit dem Irak als physischem Ort, aber zu allem, was ich über das Land gehört habe. Es ist eher eine Beziehung zu den Menschen, IrakerInnen, als zu dem Ort. Ich kann mir ziemlich leicht vorstellen, ich sei jetzt im Irak, sei dort aufgewachsen, zur Schule gegangen, hätten meine Eltern das Land nicht vor fast 20 Jahren verlassen. Trotzdem fühlt es sich so an, als sei ein Teil von mir noch dort. Das kommt wohl daher, dass meine ganze Familie noch dort ist und wir regelmäßig mit ihnen sprechen. Durch die Gespräche werden ihre Sorgen zu meinen Sorgen.

Vor diesem Hintergrund habe ich mich dazu entschieden, Politik des Nahen Ostens zu studieren. Ich hatte gehofft, so eine direkte Beziehung mit dem Irak herstellen zu können. Ich konzentriere mich in meiner Forschung auf den Irak und benutzte das Studium quasi als Selbsttherapie.

Hast Du den Irak nach 2003 besucht? Und wie hast Du das empfunden?

Nein, ich war noch nicht dort. Ich weiß auch nicht, ob ich dazu schon bereit bin.

Hat sich Deine Wahrnehmung des Iraks über die Jahre verändert?

Ja natürlich. Nicht nur, dass ich nun viel älter bin. Meine Gefühle der Angst gegenüber dem Irak haben sich verändert, sind quälender geworden. Ich spüre heute mehr Schuld über das, was im Irak passiert und darüber, dass ich persönlich kaum etwas dagegen tun kann. Ich finde es furchtbar, dass die Menschen außerhalb des Iraks diese Gewalt stillschweigend dulden: Es ist normal geworden, über Bombenanschläge im Irak zu reden. Es ist keine „neue“ Nachricht mehr. Ich ganz persönlich habe Angst um die Zukunft des Iraks und Angst um die Menschen dort.

Seit dem Irakkrieg sind bereits zehn Jahre vergangen. Was glaubst Du, wie der Irak in zehn Jahren sein wird?

Ich kann nichts vorhersagen. Ich hoffe einfach nur, dass der Irak ein viel besserer Ort sein wird als heute. Um der Menschen willen.

Geht es den Menschen im Irak aus Deiner Sicht heute besser als zu Saddam Hussains Zeiten?

Ich würde es nicht „besser“ nennen. Ich glaube dennoch, dass es heute anders ist. Ich bin gegen Saddam Hussain und gegen alles, was er getan hat. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass die Besatzung zu einer Verschlechterung der Situation im Irak geführt und den Irak wirklich zerstört hat. Die Besatzer haben keinen Raum gelassen für organische Veränderungen. Das war auch gar nicht möglich, angesichts des Beschlusses, einfach so in das Land einzumarschieren. Nein, ich bin definitiv kein Unterstützer von Saddam Hussain, aber die Situation wäre anders heute, ohne die Besatzung - und wahrscheinlich um einiges besser. Die Frage muss wohl eher jemandem gestellt werden, der die Diktatur Saddam Hussains und die Besatzung im Irak am eigenen Leib gespürt hat. Ich habe den Eindruck, dass viel IrakerInnen sehr unglücklich darüber waren, wie mit Saddam Hussain umgegangen wurde, nachdem er gefangen genommen und umgebracht wurde. Das brachte viele dazu, mit ihm zu sympathisieren.

Wie beurteilst Du das Zusammenleben der unterschiedlichen Konfessionen und Ethnien im heutigen Irak?

Ich denke, dass die imperialen Mächte die vorhanden Spaltungen vertieft haben. Ähnlich, wie es die Briten schon zur Kolonialzeit taten. Ich finde das beängstigend und glaube, man sollte heute mehr darauf achten, wie mit Minderheiten umgegangen wird.

Spiegeln sich die Konflikte, die im Irak eine Rolle spielen, auch in der irakischen Diasporagemeinde in Kanada wieder?

In gewisser Weise ja. Du kannst bei den Diaspora-Gemeinschaften auch feststellen, dass sie innerhalb ihrer ethnischen und konfessionellen Gemeinden leben und sich nicht wirklich durchmischen. Es gibt also diese konfessionellen Spaltungen auch außerhalb des Iraks. Jede Gruppe erwartet, dass man ihr loyal bleibt. Ich glaube aber auch, dass hierbei die soziale Klasse eine wichtige Rolle spielt.