Im dritten Teil des Alsharq-Schwerpunktes "Irak - Zehn Jahre danach" wirft Ansar Jasim im Interview mit Charles Tripp einen Blick auf den Weg in den Irak-Krieg. Die Missachtung der irakischen Gesellschaftsstruktur durch die Invasoren, das wird deutlich, hat sich fatal auf das Land ausgewirkt.
Charls Tripp, Professor für Middle East Politics an der Londoner School of Oriental and African Studies (SOAS) kam in den 1980er Jahren das erste Mal in den Irak, um zum Iran-Irak Krieg zu recherchieren. Später schrieb er ein Standardwerk zur irakischen Geschichte, „The History of Iraq“. Gemeinsam mit einer Gruppe von Wissenschaftlern im gleichen Feld, traf er im Herbst 2002 den damaligen britischen Premier Tony Blair, um ihn davon zu überzeugen, keinen Krieg gegen den Irak zu führen. Das Treffen blieb folgenlos.
Alsharq: Was waren die Prämissen für die amerikanisch-britische Invasion im Irak und warum ging die Kalkulationen am Ende nicht auf?
Charles Tripp: Es gibt aus meiner Sicht vier Gründe, in den Irak einzumarschieren. Zwei von ihnen sind der Öffentlichkeit bekannt. Erstens sollte der Irak davon abgehalten werden, Massenvernichtungswaffen zu produzieren. Natürlich ist dabei nicht ganz klar, ob sie gewusst haben, dass es diese Waffen im Irak nicht gab oder ob sie lediglich ein Exempel statuieren wollten. Ich halte letzteres für wahrscheinlich, aber die Debatte hierüber dauert ja noch an. Man muss hier sehen, wie sich diese Information in der Kette der Geheimdienste selber gemästet hat. Und als die „Beweise" dann Präsident Bush und Premierminister Blair präsentiert wurden, hatten sie schon eine vermeintliche Authentizität gewonnen. Präsidenten und Premierminister fragen nicht danach, woher eine Information stammt. Sie nehmen an, dass das bereits geschehen ist durch ihre Informationsdienste.Dass es Raketen gäbe, die in 45 Minuten startklar seien, war aber offensichtlich eine Lüge.
Der zweite Grund, der uns damals vorgeführt wurde, war eine Rechtfertigung, die für die Öffentlichkeit bestimmt war: Der Tyrann muss gestützt werden, Demokratie soll herrschen. Einige sahen dies auch als geeigneten Weg für die USA, Iran und Syrien einzuschüchtern.
Welche Rolle haben Iraks Ölressourcen dabei gespielt?
Ich sehe das als dritten Grund dafür, warum man den Irak angegriffen hat. Ich würde dem aber kein zu großes Gewicht beimessen und sagen, dass es hierbei nicht nur um Öl ging. Es ging um viele Aspekte und es gab das amerikanische Interesse, aus dem Irak einen folgsamen Ölproduzenten zu machen. Aber schon vor 2003 war der Irak Amerikas drittgrößter Öllieferant.
Der 11. September wurde als Rechtfertigung herangezogen, Afghanistan anzugreifen. Welche Rolle hat das im Fall Irak gespielt?
Das war ganz klar der vierte Grund dafür, den Irak anzugreifen. Warum das so wichtig war? Ich glaube, dass der Fall Irak von den USA als Möglichkeit gesehen wurde, die eigene Macht zu demonstrieren. Es ging eigentlich gar nicht mehr um den Irak an sich. Es ging darum, der Welt zu zeigen: Das passiert mit Euch, wenn ihr Amerika im „amerikanischen“ Zeitalter provoziert. Man kann sich das jetzt vielleicht nicht mehr so genau vorstellen, aber nach 9/11 hat sich eine neue Denkschule entwickelt. Deren Vertreter waren inzwischen an der Macht, etwa Dick Cheney. Sie argumentierten dass die Anschläge nur hatten passieren können, weil Amerika schwach war. Deswegen glaubten sie, ein abschreckendes Exempel statuieren zu müssen. Deshalb marschierten sie in Afghanistan und Irak ein.Obwohl der Irak nichts mit den Anschlägen zu tun hatte, wurde der Nachhall von 9/11 dafür genutzt, amerikanische Macht zu demonstrieren. Diese Art nationalistisches Denken war eine sehr starke Motivation.
Auch wenn man Amerika und Großbritannien leicht in einen Topf wirft, so muss man doch die verschiedenen Parteien und Interessen bedenken. Die eben genannten Punkte spielten für einige eine größere Rolle, als für andere. Es hat tatsächlich Leute gegeben, glaubten, es ginge darum, aus den Ruinen des Baath-Regimes eine Demokratie aufzubauen.
Infolge der Besetzung des Iraks kam es zu Plünderungen. Es haben sich Milizen gebildet, zeitweise versank das Land im Bürgerkrieg. Wie gehen Gesellschaft und Staat mit den Folgen der Invasion um?
Ich denke man muss hier zwei Aspekte betrachten. Zum einen, wie die Gesellschaft mit der Invasion und Besatzung umgegangen ist. Zum anderen, wie man mit deren Konsequenzen zurechtkam.
Zum ersten Aspekt: Ein Problem der Invasion war ihre schlechte Organisation und Planung. Man hatte doch tatsächlich gedacht, man müsse bloß das Regime ersetzen, welches man stürzen wollte. Wer an dessen Stelle treten sollte, hatte man nicht überlegt. Nach der amerikanischen Auffassung von Macht, konnten sie einfach jemandem übertragen werden. Das Credo, nach dem die einzigen, die Macht erlangen dürfen, jene seien, an die man die Macht übertrage, war in der Realität natürlich nicht umsetzbar. Die Amerikaner hatten also ein vollkommen fehlgeleitetes Verständnis von der „Macht des Staates“.
Der Zentralstaat und die zentralen Sicherheitsorgane waren nach dem Krieg verschwunden. Man war zur Zeit Saddam Hussains vielleicht von diesen Strukturen bedroht,wenigstens aber gab es sie. Als sie verschwunden waren, hatte man das Gefühl, auf einmal schutzlos zu sein. Es war total verständlich, dass viele Iraker als Konsequenz dessen zurück zu denen ihnen nahen Loyalitäten kehren würden, sei es die Nachbarschaft, das eigene Dorf oder familiäre, religiöse, ethnische oder Clan-Netzwerke. Das war entweder Selbstschutz oder Vorsichtsmaßnahme. Zusätzlich begann man, sich Waffen zu besorgen. Das illustriert nur das wesentliche Problem der Amerikaner und Briten, nämlich mangelndes Verständnis der irakischen politischen Gesellschaft. Über den Staat nachzudenken bedeutete für sie lediglich, über Saddam Hussain nachzudenken. So konnte es nicht funktionieren, man kann nicht einfach nur den Kopf entfernen. Die Netzwerke, wie etwa der „Schattenstaat“, blieben nämlich und suchten nach Überlebensstrategien. Eines der unmittelbaren Resultate des Einmarschs und der Besatzung war dementsprechend die „Lokalisierung irakischer Politik“. Die Politik fiel zurück auf die kommunale und lokale Ebene.
Welche Rolle haben die Amerikaner und Briten dabei gespielt, diese Form der Politik zu verfestigen?
Sie haben das Ganze auf zwei Weisen unterstützt. Auch wenn man offiziell von state-building und democracy-building sprach, wurden in der Praxis auf administrativer Ebene Deals mit Leuten geschlossen, die man für lokale Führer hielt. Das funktionierte nach dem Motto: Wer kann Basra sicher halten? Ah, Scheich so und so. Dann ist man tatsächlich zu dem Scheich hingegangen und hat ihm Geld und Waffen angeboten. Es war ihnen total egal, mit welchen Mittel diese Leute arbeiteten. Die Hauptsache war, dass Sicherheit hergestellt wurde. Das ist in allen Teilen des Iraks so geschehen.
Man hat ausschließlich auf lokaler Ebene agiert. Auf nationaler Ebene verdankten die Leute, die von den Amerikanern auserkoren wurden, die Verantwortlichen des neuen Irak zu sein, ihre politische Autorität jeweils einzelnen Konfessionen oder ethnischen Gruppen. Diese Muster hatten sich schon unter Saddam Hussain herauskristallisiert. Ob Kurden, tribale Gruppen oder Schiiten: Nur wer klientelistische Unterstützungsnetzwerke unterhielt, konnte als politischer Akteur überleben. Die Amerikaner haben die Iraker nicht als politische Akteure, sondern als tribale, kommunale oder eben konfessionelle Akteure wahrgenommen. Diese Lokalisierung von Politik, in einer ziemlich gewalttätigen Art, sehe ich als unmittelbare Antwort der Iraker auf die Invasion.Diese Kommunalisierung fand auch auf nationaler Ebene statt. Bald begann die kommunale, nationale Politik, die lokale Politik zu bevormunden.
Diese Form der Politik mündete 2005 in einem Bürgerkrieg, der viele Menschen das Leben kostete und viele andere zur Flucht zwang. Wie ist der irakische Staat selbst damit umgegangen?
Die Politik fragmentierte sich. Bestimmte Parteien gaben etwa einige Ministerien an bestimmte Interessensgruppen ab. Man holt also diese kommunalen Elemente mit an Bord und überzeugt die verschiedenen Gruppierungen, dass sie mehr zu gewinnen haben, wenn sie miteinander kooperieren, als wenn sie sich gegenseitig umbringen. Auch hier sieht man wieder die Kommunalisierung von Politik, selbst wenn behauptet wurde, es ginge um den Staat an sich. Diese Strategie ist manchmal aufgegangen, andere Male nicht. Das System, das jetzt im Irak besteht, ist also eine Art „instabile Oligarchie“.
Es gibt heute 900.000 bewaffnete Kräfte im Irak. Ich spreche hier von den offiziellen Kräften wie Polizei, Gendarmerie, Militär und Luftwaffe. Zugleich hat man dieses patrimoniale System, was nach einer top-down Logik und nach der Logik von Belohnung und Korruption funktioniert. Zusammenfassend muss man also sagen, dass der Staat, der aus den furchtbaren Konsequenzen des Bürgerkriegs resultiert, bereit ist, Widerstand zu unterdrücken, Oligarchen zu belohnen und eher nachlässig mit zivilen Rechten umgeht.
Bei all der Gewalt, die sich Menschen im Irak angetan haben, wie schätzen Sie die Erfolgsaussichten eines “Wahrheits- und Versöhnungsprozesses“, wie er in Süd Afrika stattgefunden hat, ein? Ist ein solcher Prozess bereits im Gange, in Hinblick sowohl auf die blutige Herrschaft Saddam Hussains als auch den Bürgerkrieg?
Nein. Einige Leute sind davon überzeugt, dass ein solcher Prozess notwendig wäre. Andere sind der Meinung, er würde zu schmerzhaft. Ich denke, dass ein “Wahrheits- und Versöhnungsprozess“ in einigen Gesellschaften funktionieren kann, in anderen aber destruktiv wirken. Ich habe nicht die Autorität, darüber zu urteilen, was im Irak zutrifft. Aber ich kann mir vorstellen, dass es problematisch wäre, dass das Ausmaß der Zusammenarbeit von normalen Irakern mit dem Regime von Saddam Hussain viel größer war, als es viele erahnen. Ansonsten hätte das Regime sich nicht 30 Jahre lang gehalten. Die Leute liebten das Regime nicht, aber um zu überleben musste man Deals eingehen und Netzwerke von Unterstützern aufbauen.
Ich habe aber davon gehört, dass solche Aussöhnungsprozesse auf lokaler, niemals jedoch auf nationaler Ebene stattgefunden haben. Das waren dann eher Gegenden, in denen Stämme eine wichtige Rolle einnehmen, sowohl schiitische, als auch sunnitische. Das liegt daran, dass es im „imaginative framework“ der Stämme anerkannte Wege von Versöhnung gibt, der sogenannte Sulh. Man kann durch diese Prozesse Wunden bis zu einem bestimmten Grad heilen, aber das wurde niemals formalisiert. Es ging oft eher auch um wirklich persönliche Angelegenheit wie etwa das Fehlverhalten einzelner Personen gegenüber der Gemeinde, als sie Saddam Hussain auf ihrer Seite wussten und Land konfiszierten. Für den sozialen Frieden in diesen Gemeinden war es besser, über diese Gegebenheiten zu reden und sie zu lösen bevor sie sich etwa zu Blutfehden entwickelten.
Unser Bild vom Irak ist heute von den täglichen Bombenanschlägen geprägt. Tatsächlich wurde die amerikanische Besatzung von vielen Irakern zunehmend kritisch gesehen. Gab es also auch zivilen und friedlichen Widerstand gegen die Militärbesatzung?
Ja, es gab sehr viele zivile Initiativen. Diese Leute waren wirklich sehr mutig, da sie als Aktivisten automatisch eine Zielscheibe von mehreren Seiten wurden. Das ist ähnlich wie das, was wir gerade in Syrien beobachten können: Zivile und friedliche Initiativen werden von vielen als betrügerische Absprache mit dem Regime angesehen. Im Irak hatte man ein ganz ähnliches Verständnis: Wenn du nicht mit Gewalt gegen die Besatzung gekämpft hast, dann hieß das- aus Sicht der Vertreter von Gewalt-, dass du auf der Seite der Besatzer stehst.
Interessant sind dabei auch die Gewerkschaften. In derem Fall ging es darum, die Menschen als Arbeiter zu organisieren, das heißt als Menschen mit realen Interessen, nicht als konfessionelle Akteure, schiitisch oder sunnitisch. Es gab in diesem Bereich wirklich signifikante Fortschritte, die Leute haben wirklich begonnen, sich selbst zu organisieren. Sie wurden aber von zwei Seiten aufgerieben: Die eine Seite waren da die Aufständischen und Milizen derer, die an der Macht waren. Beide haben diese Organisation von Arbeitern mit Misstrauen betrachtet, da sie nicht unter der Kontrolle von irgendeiner religiösen Gruppe standen. Man hat sie quasi gleich als Kommunisten oder Atheisten - also als gefährlich - gesehen. Viele der Gewerkschafter wurden gezielt ermordet. Es gab also fortwährend das Gefühl, dass man sich ohne tribale, kommunale oder kriminelle Verbindung nicht organisieren konnte.
Die zweite Seite, die es den Gewerkschaftern schwer machte, kam von oben. Die amerikanische Regierung im Irak, also die Koalitions-Übergangsregierung (CPA), hatte das Gesetz von Saddam Hussain beibehalten, wonach Gewerkschaftsaktivitäten in bestimmten Sektoren der irakischen Industrie kriminalisiert waren. Als die erste irakische Regierung dann die Macht von der CPA übernahm, behielt sie die Restriktionen gegenüber den Gewerkschaften dankend bei. Es kam sogar so weit, dass das amerikanische Militär den Hauptsitz der irakischen Gewerkschaft umzingelte und alles beschlagnahmte. Man kann also wirklich sagen, dass zivile Initiativen als gefährlich betrachtet wurden.
Warum haben wir in unseren Medien darüber nichts gehört?
Eine richtige Beobachtung. Wovon man hier hörte, waren diejenigen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die von der CPA selbst ins Leben gerufen worden waren. Eine widersprüchlichen Maßnahmen der Besatzungwar, dass offizielle, zivilgesellschaftliche Organisationen aufgebaut wurden, während man inoffizielle Initiativen unterdrückte. Insgesamt fehlte diesen zivilen Organisationen wohl das „spektakuläre Element“ - Bombenanschläge machen Schlagzeilen - der gewaltsamen Gruppen.
Im zweiten Teil des Interviews kommentiert Charles Tripp die aktuelle Lage des Landes und die politische Führung im Irak. Teil II erscheint morgen auf Alsharq.
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