09.02.2013
Die Initiative des Scheichs: Fortsetzung der syrischen Revolution mit politischen Mitteln

Knapp zwei Jahre nach Beginn des Aufstands in Syrien hat Moaz al-Khatib mit einem Tabu gebrochen: Der Präsident der syrischen Oppositionskoalition hat Verhandlungen mit dem Assad-Regime in Aussicht gestellt. Das Regime hat das Gesprächsangebot bislang ignoriert, auch bei der syrischen Opposition und ihren ausländischen Verbündeten stieß al-Khatibs Vorstoß auf Kritik. Eine Analyse der Initiative von Erik Mohns.

Anfang Februar wurden weite Teile der syrischen Opposition von einem Schachzug aus den eigenen Reihen überrumpelt. Moaz al-Khatib, Präsident der Nationalen Koalition der Syrischen Revolutionären und Oppositionellen Kräfte (NK), erklärte in einem kurzen Eintrag auf seiner Facebook-Seite seine Bereitschaft, mit Vertretern des syrischen Regimes in einen direkten Dialog zu treten. Mit dieser Initiative würde er auf den vom Regime geäußerten Wunsch reagieren, mit der Opposition einen Dialog zu eröffnen. Der ehemalige Imam der Damaszener Omayyaden-Moschee stellte allerdings zwei Bedingungen: die Freilassung von 160.000 politischen Gefangenen und die Verlängerung der Reisepässe im Ausland lebender Syrer auf zwei Jahre. Obwohl er kein Vertrauen in ein Regime habe, welches „Kinder töte, Bäckereien angreife, Universitäten bombardiere, Syriens Infrastruktur zerstöre und unschuldige Menschen massakriere“, rechtfertigte er sein Angebot mit dem Verweis auf die desaströse humanitäre Situation im Land und den Flüchtlingslagern der syrischen Nachbarstaaten. Es sei an der Zeit, eine politische Lösung zu finden, um eine Übergangsphase einzuleiten, welche das Blutvergießen beende und die syrische Bevölkerung von ihrem Leiden erlöse. Als Orte des Zusammentreffens schlug er die regionalen Hauptstädte Kairo, Tunis und Istanbul vor.

Khatibs konditionierte Bereitschaft zum Dialog ist insofern überraschend, als dass die Nationale Koalition als oppositioneller Dachverband auf Grundlage der kategorischen Verweigerung des Dialogs mit dem Assad-Regimes gegründet wurde. Ihr deklariertes primäres Ziel ist der Sturz des Assad-Regimes. Alle unter dem Dach des NK vereinigten politischen Organisationen, allen voran der Syrische Nationalrat (SNR), hatten bisher jedwede Verhandlungen mit dem Regime zurückgewiesen. Die Begründung dafür war, dass ein Regime, welches Krieg gegen sein eigenes Volk führe, jedes Recht eingebüßt habe, Verhandlungen über einen politische Übergang zu führen. Zudem waren sich die Gruppen weitgehend einig, dass das Assad-Regime keine ernsthaften Verhandlungen führen würde, solange es sich nicht militärisch in die Enge gedrängt sehe.

Motive der Initiative

Die dringlichen Appelle der Vereinten Nationen an die Konfliktparteien, angesichts der humanitären Katastrophe eine politische Lösung für den Konflikt über Verhandlungen zu finden, dürften kaum den entscheidenen Impuls für die Initiative al-Khatibs abgegeben haben. Vielmehr griff er den Aufruf Assads in dessen letzter öffentlicher, primär an seine loyale Anhängerschaft gerichteten Rede Anfang Januar 2013 zu einer nationalen Versöhnungskonferenz auf. Vor diesem „Dialogforum“ schloss Assad die exilierte Opposition, die er als „Marionette des Westens“ bezeichnete, mit dem Argument präventiv aus, dass sie durch die Unterstützung in Syrien mordender „Terroristen“ den politischen Wandel verhindere.

Al-Khatib gelang es mit seinem Angebot zum Dialog dieses mantra-gleich vorgetragene Argument Assads zu entkräften, dass sich für eine politische Konfliktlösung keine Partner finden ließen. Zuvor konnte Assad in seinem Sinne argumentieren, dass die Opposition sich Verhandlungen mit dem Regime kategorisch verweigerte und als Vorbedingung für den Eintritt zu Verhandlungen den Abgang Assads einforderte. So ließ sich die Argumentation Assads auch von seinen russischen und chinesischen Verbündeten in internationalen Foren mühelos stützen, dass die Gewalt und Zerstörung nicht ausschließlich vom Regime ausgehe und es sich bei dem Aufstand um einen gewaltsamen Regimewechsel handele, nicht aber um die Ausweitung politischer Freiheiten und ein Ende der Willkürherrschaft.

Ein Motiv für die Initiative al-Khatibs dürfte die Einsicht nach der Paris-Konferenz der Staatengruppe der „Freunde Syriens“ Ende Januar 2013 gewesen sein, dass er auf die Versprechen seiner internationalen Alliierten, die syrische Opposition zu unterstützen, nicht zählen kann. Seit ihrer Gründung Mitte November 2012 ist es der Nationalen Koalition nicht gelungen, Waffen und finanzielle Mittel in ausreichender Menge für die bewaffneten Aufständischen zu akquirieren. Die EU hält ihr Waffenembargo gegenüber der Opposition weiterhin aufrecht und die USA verhindern, dass die Golfmonarchien panzersprengende und Flugabwehr-Waffen über die türkische Südgrenze liefern. Eine mittellose Nationale Koalition, die den bewaffneten Aufständischen keine materielle Unterstützung zukommen lassen und die „befreite Gebiete“ mit Hilfslieferungen versorgen kann, dürfte sehr schnell obsolet werden und Legitimität unter Milizenführern gar nicht erst gewinnen.

Eine Reihe von Beobachtern teilt die Ansicht, dass al-Khatib mit seinem Dialog-Angebot nicht tatsächlich beabsichtigt, Verhandlungen mit dem Regime zu führen. Vielmehr ziele er darauf ab, die hervorgehobene Bereitschaft des Assad-Regimes zu Konzessionen und politischem Wandel als Bluff zu überführen. Es erscheint unwahrscheinlich, dass das Regime seiner ersten Bedingung zustimmt und 160.000 Häftlinge entlässt. Tatsächlich beabsichtigt das Regime, ausschließlich mit der offiziell sanktionierten „parlamentarischen Opposition“ und den internen oppositionellen Gruppen zu verhandeln. Diese besitzen jedoch nicht die geringsten Einflussmöglichkeiten auf die bewaffnete Opposition, welche letztlich den entscheidenden, die Agenda bestimmtende Akteur darstellt. Die Nationale Koalition, welche die militärischen oppositionellen Akteure wenn nicht kommandiert, so doch immerhin mit ihnen alliiert ist, dürfte daher von dem Regime-sanktionierten „Versöhnungsprozess“ ausgeschlossen werden.

Der Blogger Karl Sharro ist der Meinung, dass die Initative al-Khatibs dem primären Ziel dient, seine Stellung als NK-Präsident zu festigen und die Rolle der Nationalen Koalition im oppositionellen Spektrum zu stärken. Mit dem Dialogangebot sei al-Khatib in Anbetracht der zurückhaltenden Unterstützung der westlichen Regierungen eine Flucht nach vorne angetreten, um eine neue Dynamik zu entfachen. Es sei kein Geheimnis, dass es der Nationalen Koalition, wie bereits dem Nationalrat, bisher nicht gelang, die bewaffneten Gruppen unter einem Zentralkommando zu vereinen und sie zu kontrollieren. Auch seien jegliche Versuche al-Khatibs und der Koalition gescheitert, sich als politische Führung des Aufstands im Land zu etablieren. Al-Khatib und die Nationale Koalition blieben weiterhin abhängiger von auswärtiger Anerkennung als von interner Legitimität.

Kritik aus den Reihen der Opposition

Innerhalb des oppositionellen Spektrums hat Al-Khatibs Initiative kontroverse Reaktionen ausgelöst, die von Diskussionen über Prinzipien und Taktiken der Revolution geprägt sind. Fraglos ist die Art, wie al-Khatib ohne vorherige Konsultationen diesen fundamentalen Schwenk in der oppositionellen Strategie bekannt gab, insbesondere aus der Perspektive des SNR diskussionswürdig, wie Yassin Haj Saleh kommentiert. Allerdings sei dies ein taktisch kluger und mutiger Schachzug al-Khatibs. Mit der Darstellung des Angebots als seine persönliche Initiave setzte al-Khatib zwar seine Position als Präsident der Koalition aufs Spiel, nahm das Exekutivkommittee der Koalition aber aus der Schusslinie der Kritik. Die politischen Vorteile, die aus der Initiative für die Opposition entstehen, werden al-Khatibs Rolle als Führer der politischen Opposition deutlich stärken.

Mitglieder des SNR kritisierten an der Initiative insbesondere die Tatsache, dass sie eine fundamentale Kehrtwendung von dem Prinzip der kategorischen Verweigerung jedweder Verhandlung mit dem Regime darstelle. Ein eilig verfasstes Kommuniqué des SNR wies darauf hin, dass „diese Äußerungen nicht die Position des SNR repräsentieren und im Widerspruch zu der Satzung der Koalition und dem Doha-Dokument stehen, auf dessen Basis die Koalition gebildet wurde, welches die kategorische Ablehnung jeglicher Verhandlungen mit dem verbrecherischen Regime einfordert, und dem Beharren darauf, dass das Regime und all seine Symbolen entfernt werden.“

SNR-Mitglieder insistieren, dass es ein moralisches Prinzip verbiete, mit Vertretern des kriminellen Assad-Regimes Verhandlungen zu führen, selbst wenn diesen Bedingungen vorausgingen. Andere Oppositionelle kritisierten, dass die Initiative als Zeichen der Frustration bzw. der Schwäche angesichts der nur langsamen Fortschritte der militärischen Opposition gewertet werden könne. Der ehemalige SNR-Präsident Burhan Ghalioun äußerte Besorgnis, dass die Initiative die Freie Syrische Armee schwächen werde. Die Unterstützerstaaten der Opposition würden das Angebot al-Khatibs als Vorwand nehmen, um ihr Scheitern zu rechtfertigen, der FSA militärische Unterstützung zur Verfügung zu stellen und die Bevölkerung zu schützen. Vereinzelte Stimmen stellen gar al-Khatib als Präsident bzw. die Nationale Koalition als Repräsentant der Revolutionäre in Frage, weil sie es Assad und seinen Anvertrauten eventuell ermöglichten, im Falle von Verhandlungen ihrer gerechten Strafe zu entkommen. Daher gelte es, lange, sich hinausziehende Verhandlungen, die keine Ergebnisse bringen werden, besser von vorne herein abzulehnen.

Welchem Ziel dient Assads Repression?

Der Schriftsteller und Aktivist Robin Yassin-Kassab hält das gesinnungsethische Argument der Kritiker al-Khatibs angesichts der katastrophalen humanitären Situation für unhaltbar. Diese Kritik weist er aus einer Perspektive des „nüchternen Realismus“ zurück und identifiziert das Wesen des Assad-Regimes als Anlass, Alternativen zu Verhandlungen und Konzessionen zu verfolgen. Seit Ausbruch des Aufstands habe sein Handeln kein einziges Mal seinen Aussagen entsprochen. Es sei nicht Ziel des Regimes, eine politische Transition zu verhandeln; sollte es ihm nicht gelingen, seine Herrschaft über die Großteil des Territoriums durch Gewalt und Repression aufrechtzuerhalten, würde es versuchen, Syrien zu fragmentieren und unregierbar zu machen. Assad hoffe auf diese Weise, als ein warlord unter anderen warlords zu überleben. Gespräche würde das Regime nur in der Absicht führen, Zeit zu gewinnen und um die Aufmerksamkeit von seinen tatsächlichen Absichten abzulenken.

Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln

Die Initiative al-Khatibs wurde von anderen Oppositionellen, Dissidenten und Aktivisten hingegen begrüßt. Sie halten die von al-Khatib gestellten Bedingungen für Verhandlungen angesichts der Gewaltorgie für gerechtfertigt. Auch wenn diese scheitern sollten, sei es der Versuch wert, das Blutvergießen zu stoppen. So begrüßt der Dissident Yassin Haj Saleh die Initiative. Er verweist darauf, dass bis zu diesem Zeitpunkt weder die Koalition noch der Nationalrat eine politische Schlüsselinitiative vorgeschlagen hätten. Das fundamentale Ziel der Revolution, auf das Menschen ihre politische Identität aufbauten, sei, das Regime zu stürzen. Daher bestünde auch kein Widerspruch zwischen diesem Ziel und politischen Initiativen, die Stationen in dem Prozess sein könnten, dieses Ziel zu erreichen. Al-Khatibs Initiative dränge das Regime so politisch in die Defensive. Auch in der syrischen Revolution könnten politische Initiativen eine Fortsetzung der Revolution mit anderen Mitteln darstellen.

Aufruf zur Ausarbeitung einer politischen Strategie der Opposition

Der libanesische Schriftsteller Elias Khoury, der sich trotz all der Herausforderungen mit der Revolution solidarisch erklärt, hält jegliche Verhandlungen mit dem Regime für obsolet. Seine Konzeption von Politik erlaube es dem „repressiven, monströsen und mafiösen Regime“ nicht, Konzessionen mit politischen Gegnern einzugehen; stattdessen würden diese getötet, gedemütigt und unterworfen. Verhandlungen mit dem Regime stellten eine Einladung zur Untätigkeit dar. Nur der Sturz des Regimes könne die humanitäre Tragödie in Syrien beenden. Solange der Assad-Clan an der Macht bleibe, werde er das Volk tyrannisieren, da Repression und Unterdrückung des Volkes Voraussetzungen seiner Herrschaft darstellten.

Eine Teilung der Macht sei für das Regime inakzeptabel, denn eine „Mafia mag mit einer anderen Macht ein Abkommen abschließen, um seinen Einfluss zu teilen, aber nicht ein Übereinkommen, welches auf Recht und Gesetz basiert“. Daraus sei aber nicht der Schluß zu ziehen, dass die Revolutionäre keine Politik betreiben sollten. Man müsse sich nicht der Logik dieser Politik verweigern, wenn man das mörderische Regime so in Verlegenheit bringen könne. Khoury appelliert daher an die Opposition, „eine politische Strategie zu implementieren, um die internationalen Alliierten Assads, insbesondere seinen russischen Alliierten, in Verlegenheit zu bringen, welcher seine Straftaten in einem Ausmaße gedeckt hat, dass er an dem Verbrechen bereits als Teilhaber angesehen werden kann.“

Die internationale und regionale Rezeption der Initiative

Auf der Münchner Sicherheitskonferenz Anfang Februar lobten die Alliierten der Opposition und des Regimes unisono den Richtungswechsel der Opposition. Um das Blutvergießen zu beenden, müsse man aufhören, die Schuld ausschließlich der anderen Seite zuzuschieben, merkte der iranische Außenminister Ali Akbar Salehi an. Er betonte ausdrücklich die Bereitschaft seiner Regierung, mit der Opposition in ständigem Austausch zu stehen. Der russische Außenminister Sergej Lavrov bezeichnete die Initiative al-Khatibs als äußerst wichtigen Schritt angesichts der Tatsache, dass die Nationale Koalition auf der Basis der kategorischen Zurückweisung jedweder Gespräche mit dem Regime gegründet worden sei. Die Bedeutung des halbstündigen Treffens zwischen Lavrov und al-Khatib, das hinter verschlossenen Türen stattfand, wurde im Nachhinein von russischen Diplomaten heruntergespielt. Es habe sich lediglich um Routinegespräche gehandelt, in denen die jeweiligen Perspektiven ausgetauscht worden seien. Allerdings habe Moskau positiv zur Kenntnis genommen, dass immer noch eine Chance zum Dialog mit der syrischen Regierung bestehe, was seit langem die russische Position gewesen sei. Inwieweit diese Chance zum Dialog eine realistische sei, stehe allerdings auf einem anderen Blatt.

Es ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Initiative al-Khatibs einen fundamentalen Wandel der Position der Alliierten Assads einleitet wird. Angesichts der anhaltenden militärischen Übermacht des Regimes wird Moskau das Assad-Regime vorerst nicht zu an Verhandlungstisch drängen. Es ist daher wahrscheinlicher, dass Russland und der Iran ihre militärische Unterstützung für das Regime kurzfristig noch ausweiten. Allerdings lässt sich nach Khatibs Initiative das Argument Russlands nicht mehr aufrecht erhalten, dass die „Verweigerungshaltung“ der Opposition für das Blutvergießen mitverantwortlich sei und eine politische Lösung des Konflikts unmöglich mache. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist die Unterstützung der westlichen und arabischen Alliierten der Opposition vonnöten, indem sie in internationalen Foren den Druck auf Moskau erhöhen, um es zu einer Veränderung ihrer Position zu bewegen und seinen Einfluss auf das syrische Regime geltend zu machen. Im Interesse Syriens täte die US-Administration deshalb gut daran, die Anerkennung der Einflusssphäre Moskaus in der Region zu signalisieren. Um Fortschritte im Hinblick auf eine Konfliktlösung zu erzielen, gilt es, Russland als Teil der Lösung und nicht ausschließlich als Teil des Problems zu behandeln.

Auch US-Vizepräsident Biden lobte al-Khatibs Bereitschaft zum Dialog, stellvertretend für einen Teil der Staatengruppe der„Freunde Syriens“, die in den vergangenen Wochen ihren Einfluss geltend gemacht hatten, um die Opposition zu Verhandlungen mit dem Regime zu bewegen. Er drückte die Hoffnung aus, dass die Opposition in den nächsten Monaten mehr internationale Unterstützung erfahre werde, um gegen Assad vorzugehen, der nicht länger in einer Position sei, Syrien politisch zu führen. Der US-Administration kam auch die Aufgabe zu, die geäußerten Bedenken auszuräumen, dass Verhandlungen mit dem Regime gleichbedeutend seien mit einer Immunität für Assad und alle weiteren Verantwortlichen für die Zehntausenden von Toten. Victoria Nuland, Sprecherin des US-Außenministeriums, bekräftigte einen Tag nach Ende der Münchner Sicherheitskonferenz, dass diejenigen mit Blut an den Händen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden müssten und das Regime auf das Angebot zum Dialog eingehen solle, falls es Interesse an Frieden habe.

Regionale Unterstützer der Opposition üben Kritik

Die wichtigen regionalen Verbündeten der Opposition wurden von der Initative al-Khatibs, mit dem Regime Verhandlungen führen zu wollen, ebenso überrumpelt wie die oppositionellen Akteure, denen sie Unterstützung zukommen lassen. Der türkische Außenminister Davutoglu zeigte sich skeptisch, dass ein Dialog zwischen Regime und Opposition zu einer Lösung des Konflikts führen könne. Davutoglus Position spiegelte die seines engsten Verbündeten in der syrischen Opposition, der Muslimbruderschaft wider, Verhandlungen zwischen dem Regime und der Opposition seien die falsche Herangehensweise. Niemand könne die Sicherheit von Oppositionellen in Syrien gewährleisten, sollte ein politischer Prozess eingeleitet werden. Assad solle erst für die Massaker zur Verantwortlichkeit gezogen werden, bevor Verhandlungen eingeleitet würden. Die Nennung Istanbuls als möglichen Verhandlungsort dürfen als Entgegenkommen al-Khatibs an die türkischen Regierung gewertet werden. Ihr bleibt so ein gewisser Grad an Einfluss auf die Verhandlungen erhalten. Ebenso zeigte sich der katarische Außen- und Premierminister Hamad bin Jassim al-Thani kritisch gegenüber einer Verhandlungslösung und wiederholte seinen Vorschlag, militärisch zu intervenieren.

An wen richtet sich al-Khatibs Initiative?

Einen Tag nach seiner Rückkehr aus München wiederholte al-Khatib sein Dialog-Angebot in Interviews mit arabischen TV-Sendern. Darin bekräftigte er, dass das Regime am Zuge sei, den beiden Bedingungen zuzustimmen und damit einen Dialog zu implementieren. Als Verhandlungspartner würde er Vizepräsident Farouq al-Shar'a akzeptieren. Die Frage, ob der Einfluss der Alliierten der Opposition ihn zu diesem strategischen Schwenk bewogen hatte, verneinte der Scheich und antwortete, dass diese im Gegenteil auf die mangelnde Vision der internationalen Mächte zurückgehe, eine Konfliktlösung zu finden. Den Syrern sei es alleine überlassen, eine Konfliktlösung zu finden und das Regime von seinem Abgang zu überzeugen.

Entgegen der Einschätzungen und Befürchtungen vieler richtet sich die Initiative al-Khatibs in diesem Sinne auch nicht an Assad selbst, sondern an gemäßigtere Kräfte innerhalb des Regimes. Sie zielt darauf ab, diese Kräfte innerhalb des Regimes zu stärken, auf Verhandlungen und eine politische Lösung zu drängen. Assad und die ihn umgebenden Hardliner werden nur bei substantiellen militärischen Fortschritten der bewaffneten Rebellen Verhandlungen aufnehmen. Obwohl der Kohäsionsgrad des Assad-Regimes den entscheidenden Unterschied zu anderen arabischen Regimen darstellt und einer der Hauptfaktoren für seine Widerstandsfähigkeit ist, besteht das Regime dennoch aus verschiedenen Fraktionen.

Einem Medienbericht zufolge hat zumindest ein Mitglied der syrischen Regierung, welches auf Anonymität beharrte, die Initiative al-Khatibs inoffiziell begrüßt. Man sei bereit, Gespräche in Kairo, Tunis oder Istanbul zu führen. Da al-Khatib das Abdanken Bashar al-Assads nicht zur Bedingung für Verhandlungen mit dem Regime gemacht habe, sei die Initiative positiv zu bewerten und würde hoffentlich Vorschritte machen. Nun gilt es, Assad und die Hardliner zu schwächen, indem gleichzeitig auf den russischen Alliierten Druck ausgeübt wird, um von Assad, aber nicht notwendigerweise von allen Fraktionen des Regimes abzurücken. So ergänzt die Initiative al-Khatibs die bisher noch zaghaften Botschaften der Nationalen Koalition an die sozialen Gruppen, welche nicht aus Ideologie oder Überzeugung, sondern aus Angst vor der Zukunft am Regime festgehalten haben: die konfessionell-religiösen Minderheiten und die Soldaten der nationalen Armee.

Assad schweigt

Weiterhin wird eine offizielle Reaktion des Regimes auf die Initiative mit Spannung erwartet. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass es die Bedingungen al-Khatibs ablehnen wird oder die Initiative einfach unbeantwortet lässt, um dem NK-Präsidenten die Anerkennung als politischer Gegner zu verwähren. Darauf lassen bereits die am vergangenen Dienstag getroffenen Äußerungen des syrischen Parlamentariers Fayez Sarah schließen. Der Baathist ging in einem Interview nicht einmal auf den Kern der Initiative al-Khatibs ein, sondern wies lediglich die von al-Khatib genannte Zahl der politischen Gefangenen als Übertreibung zurück; damit versuche die Opposition lediglich, das Regime zu beschämen. Anstatt Vorbedingungen zu stellen sei es vonnöten, eine gemeinsame Grundlage für Gespräche zu vereinbaren. Die Freilassung der Gefangenen sollte sich aus einem Dialog ergeben und nicht als Vorbedingung gestellt werden.

Neben Sarah hat sich bisher noch kein höherrangiges Regierungsmitglied zur Initiative al-Khatibs geäußert. Aller Voraussicht nach wird deren Reaktion auf der gleichen Linie liegen wie der Tenor eines Leitartikel mit dem Titel „Zwei Jahre verspäteter Dialog“, der am 5. Februar in der syrischen Tageszeitung al-Watan veröffentlicht wurde. Hierin wird die Dialoginitiative als politisches Manöver beurteilt und al-Khatib als Verhandlungsführer zurückgewiesen. Die Äußerungen des Scheichs kämen trotz ihrer politischen Bedeutung zwei Jahre zu spät, in denen die Wirtschaft, Infrastruktur und Industrie des Landes von mit al-Khatib alliierten Mächten und Terroristen zerstört worden seien. Auch der wirtschaftliche Niedergang sei eine Folge der Wirtschaftssanktionen, welche auf Drängen der Exil-Opposition erlassen wurden.

Die Exil-Opposition wird darüber hinaus auch für die vermeintlich mangelnde Verteidigungskapazität gegen die angreifenden israelischen Flugzeuge verantwortlich gemacht, da die Armee von „Terroristen“ gezwungen worden sei, Radaranlagen und Luftverteidigungssysteme aufzugeben. Das Angebot al-Khatibs sei nicht ausreichend, um ihn zu einem Verhandlungsführer oder einem Gesprächspartner zu machen, der von der Bevölkerung akzeptiert würde. Falls die Initiative eine ehrliche Bemühung darstelle, müsste er ihr eine detaillierte, an alle Syrer gerichtete Erklärung vorausschicken, warum er Jabhat al-Nusra und den Terrorismus im Allgemeinen unterstützt habe und was das Motiv für seine gewandelte Position darstelle. Zuerst müsse er dafür sorgen, dass die unfairen Sanktionen gegen das leidende Volk aufgehoben würden. Nicht der syrische Staat sei am Zuge, wie al-Khatib es ausgedrückt habe, sondern vielmehr diejenigen, welche sich bisher jeglichem Dialog verweigert hätten und nun Vorabbedingungen stellten. Das Hauptproblem sei nicht die Freilassung der politischen Gefangenen und die Verlängerung von Reisepässen, sondern eine Verpflichtung des Scheichs an alle Syrer – Opposition und Regimeanhänger – und ihre Überzeugung, gemeinsam den Terrorismus zu bekämpfen.

Was folgt auf das „Münchner Manöver“ des Scheichs?

Es bedarf dringend einer politischen Strategie der Opposition, damit Syrien als Staat überleben kann. Jedweder Versuch, den Konflikt ausschließlich auf militärischem Wege zu lösen, wird zum Zusammenbruch der Nation führen. So lassen sich weder die ursprünglichen hehren Ziele der Aufstands verwirklichen (i.e. die Einführung einer pluralistisch, demokratischen Ordnung, nicht der Tod des Tyrannen), noch ist das Regime militärisch im Stande, einen „tyrannischen Frieden“ und damit seine Herrschaft über das gesamte Territorium wiederzuherstellen. Die Initiative al-Khatibs, welche in einem arabischen Kommentar als „Münchner Manöver“ bezeichnet wurde, sollte die Opposition bestärken, eine politische Strategie auszuarbeiten, die das weitere militärisches Vorgehen nicht ausschließt. Die Alliierten sollten den bewaffneten Rebellen ermöglichen, ein militärisches Gleichgewicht herzustellen, um den Fall Assads zu beschleunigen. Der Diktator wird seinen Platz nicht eher räumen und Bereitschaft zu Verhandlungen signalisieren, bis sich das politische und militärische Gleichgewicht entschieden gegen ihn wendet.

Al-Khatibs Initative kann als Erfolg verbucht werden, wenn es durch sie gelingt, eine politische Führung mit einer Vision zu etablieren, die auch die Interessen sozialer Gruppen anspricht, die sich bisher weder vom Regime noch von der politischen Opposition in ihren Interessen vertreten fühlen. Es bleibt abzuwarten, ob dies auch die Teile des oppositionellen Spektrums verstehen werden, die weiter ausschließlich auf eine militärische Lösung setzen. Dreißig Mitglieder der Nationalen Koalition haben bereits zu einer Dringlichkeitssitzung der Hauptversammlung in Amman aufgerufen, um eine politische Strategie im Anschluss an die Initiative al-Khatibs zu entwerfen und die Dynamik auszunutzen, welche durch sie geschaffen wurde. Ein Wiederaufflammen der Diskussion über Legitimation und Repräsentativität der Nationalen Koalition wäre ein fatales Signal an das syrische Volk und die internationale Gemeinschaft. Hiermit würde sich explizit das vielerorts vorgetragene Argument, dass die Opposition hoffnungslos zerstritten sei und für das Regime keine echte Alternative darstellt, bewahrheiten. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch im Syrischen Nationalrat die Überzeugung durchsetzt, dass eine Forderung nach Abberufung al-Khatibs als NK-Präsident zu negativen Konsequenzen für alle oppositionellen Akteure führt.

Die größte gegenwärtige Herausforderung der Koalition unter der Führung al-Khatibs aber stellt es dar, die bewaffneten Kräfte zu steuern und ihre politischen Entscheidungen durch sie zu implementieren. Sollte ihre politische Führerschaft nicht von der Mehrheit der oppositionellen Milizenführern akzeptiert werden, ist jede Strategie zum Scheitern verurteilt. Sollte es der Koalition nicht gelingen, die vom Regime aufgegebenen Territorien zu verwalten und sich dort zu etablieren, wird sie nur sehr unwahrscheinlich eine Rolle im zukünftigen Syrien einnehmen. Ihr Testgelände sind die „befreiten Gebiete“. Die „Freunde Syrien“ sollten sie dahingehend unterstützen, damit es ihr gelingt, die Interessen und Ziele der Bevölkerung zu repräsentieren.

Erik Mohns ist PhD Fellow am Centre for Contemporary Middle East Studies der Süddänischen Universität.

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