Als Juniorpartner der Arbeitspartei prägte die links-zionistische Meretz die hoffnungsvollen Anfangsjahre des Oslo-Prozesses. Je mehr die Frustration angesichts des stagnierenden Friedensprozesses innerhalb der israelischen Gesellschaft stieg, desto mehr verlor Meretz als offensiver Verfechter eines Ausgleichs mit den PalästinenserInnen an Einfluss. Von 12 Sitzen 1992 schrumpfte die Meretz-Fraktion über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg auf 3 Sitze. Die Partei drohte in der Versenkung zu verschwinden - und sieht nun Licht am Ende des Tunnels.
Die Prognosen im Herbst 2012 sahen düster aus. Zwischenzeitig musste man sogar befürchten, dass Meretz die 2-Prozent-Hürde des israelischen Parlaments nicht überwinden würde. Der Trend schien sich fortzusetzen, dass Parteien, die sich auf den Nahostkonflikt und eine Verhandlungslösung mit der palästinensischen Führung fokussieren, von der nach rechts rückenden israelischen Gesellschaft an der Wahlurne abgestraft werden. Zudem war es Meretz in den letzten Jahren nicht gelungen, seine Wählerschaft auszubauen: Europäischstämmig, säkular, gut gebildet und größtenteils der Mittel- und Oberschicht Tel Avivs zugehörend, so das leicht eingrenzbare Profil der meisten SympathisantInnen. Um das Wählerpotential zu erhöhen und ihre Inhalte einem größeren Teil der Bevölkerung zugänglich zu machen ließ Meretz während des Wahlkampfs ihre Website auf Russisch und Arabisch übersetzen. Zudem versuchte Meretz, die palästinensische Minderheit in Israel anzusprechen, indem mit Issawi Freij ein neues, palästinensisches Parteimitglied auf Listenplatz Fünf gesetzt wurde.
Um die Jahreswende schnellten die Umfragewerte für Meretz deutlich nach oben. Die Partei könnte am heutigen Wahltag die Zahl ihrer Knesset-Abgeordneten von drei auf sechs womöglich verdoppeln. Wie kam es zu diesem kleinen Wunder, wie Meretz-AktivistInnen die Trendwende unter der Hand beschreiben?
Da sich die israelische Arbeitspartei im Wahlkampf fast ausschließlich auf innenpolitische Themen konzentrierte, erlangte Meretz im Laufe der letzten Monate die linke Deutungshoheit in der Frage des Friedensprozesses. Bereits vor der Ankündigung der vorgezogenen Neuwahlen hatte die Parteivorsitzende Zahava Gal-On einen ambitionierten Friedensplan vorgestellt, der den Oslo-Prozess ablösen soll. Die Initiative sieht einen sofortigen Siedlungsstopp und direkte Verhandlungen mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung binnen eines Jahres vor. Darüber hinaus unterstützt Meretz offensiv die volle Anerkennung des palästinensischen Staates durch die Vereinten Nationen.
Meretz profitiert davon, dass sich im zionistischen Mitte-Links-Spektrum mit der Arbeitspartei, Yesh Atid, HaTnuah und Kadima viele Parteien ballen, deren Inhalte sich zum Teil stark überschneiden und die nur punktuell progressive Werte und Wahlprogramme vertreten. Beispielsweise forciert die Arbeitspartei eine progressive, sozialdemokratische Wirtschaftspolitik, jedoch kommt aus der Perspektive mancher linken Israelis der Friedensprozess zu kurz. Anders herum verhält es sich mit Tzipi Livnis HaTnuah, die eine Verhandlungslösung mit der PLO in den Vordergrund ihres Wahlkampfes stellt, der aber aufgrund ihrer parteipolitischen Vergangenheit nicht zugetraut wird, mehr soziale Gerechtigkeit in Israel durchzusetzen.
Meretz hat es im Wahlkampf sehr gut verstanden, sich als einzige genuin linke zionistische Partei mit einem umfassenden Ansatz darzustellen. Neben der friedenspolitischen Agenda nimmt sich Meretz dem allseits beliebten Thema der sozialen Gerechtigkeit an. Darüber hinaus schärft Meretz ihr Profil, indem die Partei auf ihre traditionellen Kernthemen wie Menschenrechts- und Umweltfragen setzt. Hiermit lassen sich jedoch wenige Stimmen gewinnen. Zulauf erhält Meretz in einem Klima der Polarisierung zwischen religiösen und säkularen Kräften nicht zuletzt aufgrund ihrer kompromisslosen Forderung nach einer Trennung von Staat und Religion. Der ausgeprägte Säkularismus brachte der Partei etwa bei den Lokalwahlen in Jerusalem, wo sich die nicht-religiöse Bevölkerung zunehmend von Orthodoxen in ihren Freiheiten eingeschränkt fühlt, ein gutes Ergebnis und Stimmen von einer Wählerschaft, die andere linke Werte von Meretz nicht teilt. In der säkular geprägten Metropole Tel Aviv genießt die Meretz-Politikerin Tamar Zandberg große Beliebtheit, weil sie sich für eine Aufhebung des Fahrverbots für Busse am Schabbat einsetzt.
Auch wenn Meretz mit größter Wahrscheinlichkeit nicht Teil der nächsten Regierung sein wird und mit ihren linken politischen Inhalten im israelischen Parteienspektrum recht isoliert dasteht, darf der prognostizierte Prestigeerfolg als positives Signal für die arg gebeutelte israelische Linke und das dem Friedensprozess mit der arabischen Umwelt zugewandte Lager gewertet werden. Ein kleiner Hoffnungsschimmer, mehr nicht.