Am 22. Januar wird in Israel ein neues Parlament gewählt. Die Wahlen spiegeln wider, wie tiefgreifend sich die israelische Gesellschaft in den letzten 20 Jahren gewandelt hat. Eine Innenansicht aus Israel kurz vor den Wahlen von Doron Gilad.
Oft fällt es nicht-Israelis schwer zu verstehen, wie dieser Staat, der sich zu seiner Gründung auf die Werte der Aufklärung, des Säkularismus und Sozialismus berief, zu dem werden konnte, was er heute ist. Eine deutsche Fernsehjournalistin bat mich vor einigen Tagen an der Jerusalemer Universität um ein Statement zu den kommenden Wahlen. Sie fragte mich, wie es im vergangenen Jahrzehnt zu diesem starken Rechtsruck in der israelischen Gesellschaft kommen konnte. Unbedacht antwortete ich, dass viele Israelis die Hoffnung auf Frieden verloren hätten und deshalb zu rechteren Parteien tendierten. Das war eine schwache Antwort. Ich möchte ausführlicher erklären, welche Faktoren das Hoch des rechten Lagers beeinflusst haben.
Der Likud, die Partei des jetzigen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu, wird diese Wahl mit großer Wahrscheinlichkeit wieder gewinnen und die nächste Regierung stellen. Im Oktober war Netanjahus Likud eine Allianz mit der Partei seines Außenministers Avigdor Libermann, „Israel Beitenu", zu Deutsch „Israel unser Heim“, eingegangen. Die gemeinsame Liste als „Likud Beitenu“ vereint die radikalsten Politiker, die der Likud je aufstellte. Egal, wie kompromissbereit sich die Palästinenser zeigen, diese Politiker werden nicht bereit sein, sie anzuhören oder gar mit ihnen zu verhandeln.
Lange war die Rechte pragmatisch, inzwischen ist sie dogmatisch
Bislang zeichnete sich der Likud durch eine ausgesprochen nationalistische und wirtschaftsliberale Haltung aus. Das Hauptanliegen der Partei war die Sicherheit Israels nach außen, während sie innenpolitisch für die Stärkung der Staatsbürgerrechte eintrat. Der Likud von einst war auf gewisse Weise pragmatisch. Eben jener Pragmatismus machte Abkommen und Verträge mit arabischen Ländern und auch mit den Palästinensern unter Federführung des Likud möglich. Die Abkommen gelangen vor allem dann, wenn sie Israels nationalen Interessen zugute kamen.
Der Likud von heute ist nicht wie der Likud von damals. Schon in der letzten Legislaturperiode begannen Likud und Israel Beitenu, die letzten Bastionen an Widerstand in der israelischen Gesellschaft gegen ihre rechte Regierungspolitik zu zerschlagen: den obersten Gerichtshof, die Medien, akademische Eirichtungen, Nicht-Regierungsorganisationen und die arabische Minderheit. Sie alle wurden Zielscheibe von Gesetzesentwürfen, die ihre zivilgesellschaftlichen Kräfte schwächen sollten. Es überrascht nicht, dass eben diejenigen Abgeordneten, die diese Gesetzentwürfe unterstützten, sich bei den parteiinternen Vorwahlen gegen moderatere Parteikollegen durchgesetzt haben.
Im heutigen Israel scheinen sich freiheitliche Grundwerte und die politische Rechte gegenseitig auszuschließen. Das war nicht immer so: Im Likud von damals gab es immer auch Stimmen, die politische Lösungen mit den Palästinensern forderten, gegeben die Sicherheit Israels stehe bei den Verhandlungen im Vordergrund. Diese Stimmen sind aus dem Likud verschwunden. An ihrer Stelle stehen nun Radikale, die von Gesprächen nichts wissen wollen, schon gar nicht wenn es um die Palästinenser geht. Das rechte Lager hat die Grundwerte der Demokratie aufgegeben. Anstatt mit der Opposition zu debattieren, soll sie zerschlagen werden.
Überraschungserfolg der Siedlerpartei mit poliertem Image
Die größte Überraschung dieses Wahlkampfes ist die Partei HaBeit HaYehudi (zu Deutsch: „Das Jüdische Heim“). Sie tritt in die Fußstapfen der national-religiösen Mafdal-Partei, der traditionell viele Siedler in den besetzten Gebieten anhingen. Im Vorlauf zu den Wahlen hat HaBeit HaYehudi einen Image-Wandel forciert und präsentiert sich jetzt als jüdische Partei auch für die weniger Gläubigen. Mit dieser Strategie ist die Partei zur dritt-größten Partei in Israel angewachsen und damit potenzieller Koalitionspartner für Netanjahus neuen Likud.
Naftali Bennet, Vorsitzender des „Jüdischen Heims“, passt kaum in das Klischee eines Siedlers. Gerade das macht ihn so populär. Bennett ist ein erfolgreicher und betuchter Hi-Tech-Manager. Seine Frau ist nicht religiös und betreibt eine eigene Konditorei. Hinter dem süß-bourgeoisen Schein aber verbirgt sich eine radikale Partei: Bennet hat seine politische Karriere als Vorsitzender des Yesha-Rates begonnen, der Dachorganisation der Siedlerbewegung. Sein politisches Programm sieht vor, das Westjordanland größtenteils zu annektieren und die dort lebenden Palästinenser in Bantustans zu isolieren. Die Partei lehnt jegliches Gespräch mit den Palästinensern ab.
Unglücklicherweise scheint Gott der Hamas das selbe Stück Land versprochen zu haben
In den Augen Bennets hat Gott selbst das Land von Mittelmeer bis Jordan-Fluss allein den Juden versprochen. Es in Teilen aufzugeben ist damit inakzeptabel. Für HaBeit HaYehudi zählen nicht zuallererst Sicherheitsinteressen, sondern die Gebote Gottes. Unglücklicherweise scheint der Gott der Hamas der islamistischen Bewegung den gleichen Landstrich versprochen zu haben.
Sobald aber Gottes Wort den politischen Diskurs bestimmt, ist eine rationale Debatte mit Blick auf tatsächliche Realitäten unmöglich. Am Ende ist jeder bereit, im Namen des Glaubens immer weiter Krieg zu führen. Es scheint, als müssten die Menschen im Nahen Osten mit ihrem Blut für die Heiligkeit des Landes bezahlen. Dass der Glaube an Gott im Nahen Osten Politik bestimmt, ist der Hauptgrund für dieses Blutbad. Der Großteil der Zionisten Israels scheinen Herzls Worte vergessen zu haben:
Werden wir also am Ende eine Theokratie haben? Nein! Der Glaube hält uns zusammen, die Wissenschaft macht uns frei. […] Wir werden sie in ihren Tempeln festzuhalten wissen, wie wir unser Berufsheer in den Kasernen festhalten werden. […] In den Staat, der sie auszeichnet, haben sie nichts dreinzureden, denn sie würden äussere und innere Schwierigkeiten heraufbeschwören.
Die arabische Minderheit könnte Politik beeinflussen – und boykottiert sie
Wirklich Einfluss auf die politischen Gegebenheiten könnten die arabischen und palästinensischen Bürger und Bürgerinnen Israels nehmen. Sie stellen immerhin ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Träten sie geschlossen auf, könnten sie das mitte-links Lager stärken und damit eine rechte Regierung verhindern. Das große Problem hierbei, ist die geringe Wahlbeteiligung in der arabisch-palästinensischen Bevölkerung. Viele arabische Israelis entziehen sich bewusst der israelischen Politik: Sie wollen den Staat durch ihre Beteiligung an den Wahlen nicht legitimieren. Andere sind einfach frustriert, denn die Politik benachteiligt die arabisch-palästinensische Bevölkerung strukturell. Die arabische Bevölkerung Israels ist in Fatalismus gesunken: Egal was wir tun, wir werden doch nichts ändern können.
Es erstaunt, dass gerade die arabisch-palästinensische Bevölkerung die Drohungen der Rechten, ihnen ihre staatsbürgerlichen Rechte zu nehmen, ignoriert. Sehen sie die Gefahren und Chancen der Wahlen nicht oder fühlen sie sich nicht direkt betroffen?
Arabische Israelis gehen nicht wählen, weil sich für sie doch nichts ändern wird
Das Bessere ist bekanntlich der Feind des Guten. Auf diesen Kontext übertragen: Die arabische Bevölkerung geht nicht wählen, weil sie unter keinen Umständen erwartet, dass sie unter der nächsten Regierung als gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger Israels behandelt würden. Sie riskieren damit, alles zu verlieren, was sie sich in den vergangenen 60 Jahren bewahren und aufbauen konnten. Wäre es nicht besser, sie gingen geschlossen zur Wahl und unterstützten ein mitte-links Bündnis wie unter Rabin in den 90ern? Rabins Regierung sprach nicht nur mit dem Palästinensischen Volk im Westjordanland, sondern bedachte auch die arabische Bevölkerung Israels mit stärkerer finanzieller Unterstützung. Schaffte es eine solche Regierung, Frieden mit einem unabhängigen palästinensischen Staate zu schließen, profitierte auch die arabische Bevölkerung Israels. Große Veränderungen beginnen mit kleinen Schritten.
Das ist Israel im Jahr 2013: Ein Israel, das an Gott glaubt und jede Verantwortung für sein Handeln von sich weist. Ein Israel, das vor Gedanken an Fortschritt, Aufklärung und Liberalismus zurückschreckt. Ein Ort, an dem polternde Politiker jede rationale Debatte schmähen und sich darauf verlegt haben, Widerspruch zu ignorieren.
Text: Doron Gilad
Aus dem Hebräischen: Amina Nolte
Aus dem Englischen: Lea Frehse
Foto: Tobias Pietsch