Judith Höffkes, Studentin der Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin, machte sich im Rahmen ihrer Master-Arbeit ein Bild der Frauenbewegung im Westjordanland und in Ost-Jerusalem. Zwischen August und Oktober 2012 bereiste sie die palästinensischen Gebiete für Gespräche und Begegnungen mit Frauen vor Ort. Eine Bestandsaufnahme:
„Hier eine Frau zu sein kann sich so anfühlen wie ein Patient ohne Doktor zu sein.“ Angesprochen auf dieses Zitat der Bloggerin Mona Elfarra, die Mitte 50 ist und seit 2006 große und kleine Geschichten aus ihrem Leben als Frau in Gaza erzählt, lacht Sarah - es klingt genervt. Sie kommt grade aus einer Vorlesung an der Birzeit-Universität, ist 25, single, aktiv in einer Frauenorganisation in Ramallah. Ob sie sich als Feministin bezeichnen würde? Eher weniger, sie möchte nicht die Anliegen ihrer gesamten Generation aus den Augen verlieren. Sarah tritt für Gleichheit zwischen Mann und Frau und gegen Geschlechterdiskriminierung ein, kritisiert ihre Gesellschaft als patriarchalisch. Doch als Teil einer feministischen Bewegung möchte sie sich nicht begreifen, denn angesichts der anhaltenden israelischen Besatzung und schwierigen sozialen Entwicklung erscheinen ihr andere Fragen wichtiger. Sie demonstrierte im Juli wie viele andere junge Aktivistinnen und Aktivisten in Ramallah gegen die Autonomiebehörde und weitere Gespräche mit der israelischen Regierung. Die Proteste wurden brutal niedergeschlagen. Aber auch Steuererhöhungen und Preissteigerungen trieben sie auf die Straße. Sarah glaubt nicht an eine wirtschaftlich sichere, geschweige denn friedliche Zukunft in ihrem Land und möchte nach ihrem Studium am liebsten nach Europa auswandern.
Keine Brücke zwischen den Generationen
Auf der Suche nach feministisch aktiven Frauen im Westjordanland und Ost-Jerusalem fällt vor allem eines auf: die Bedeutung des Lebensalters. Es ist ein leichtes mit beruflich etablierten, aktiven und sich selbst klar als Feministinnen bezeichnenden Frauen um die 40 über die Frauenbewegung zu sprechen. Junge Frauen aber – ob Studentinnen oder Berufseinsteigerinnen – lassen sich nur ungern zu einem Interview überreden. Ein Gegensatz der die Gegenwart der Frauenbewegung prägt – und auf eine bedeutsame Vorgeschichte verweist.
Das Nachdenken über palästinensische feministische Bewegungen wirft eine Reihe spannender Fragen auf: Wie entwickelt sich eine nach Gleichheit und Emanzipation strebende Bewegung in einer Gesellschaft, die von außen besetzt und begrenzt und von innen durch religiös-konservative und patriarchalische Strukturen geprägt ist? Kann es Feminismus hier überhaupt geben? Welche Figuren und Ereignisse prägen und repräsentieren eine solche Bewegung? Arbeitet sie Generationen übergreifend? Streben die Vertreterinnen der verschiedenen Generationen überhaupt nach ähnlichen Zielen und Definitionen von Gleichheit? Im Kern: Existiert eine palästinensische Frauenbewegung, die stark und einflussreich genug ist, um tatsächlichen feministischen Widerstand gegen bestehende gesellschaftliche Probleme und Strukturen zu leisten?
Die jüngeren sind aufgewachsen mit der Desillusion der Oslo-Abkommen
In meinen Gesprächen mit einer Vielzahl von palästinensischen Aktivistinnen in den vergangenen Monaten kamen die Frauen immer wieder auf zwei wesentliche Entwicklungen zu sprechen: Zum Einen steht da die politische Geschichte der letzten 20 Jahre. Wie auch andere gesellschaftliche Bewegungen lässt sich die palästinensische Frauenbewegung nicht verstehen ohne den Kontext des gesellschaftlichen Wandels von allgemeiner Euphorie zu Zeiten der Oslo-Abkommen Mitte der 1990er Jahre bis hin zur gänzlich veränderten, desillusionierten Protestkultur der heutigen Zeit. Zum Anderen haben der wachsende Einfluss von Nichtregierungsorganisationen und die damit verbundene Professionalisierung des Aktivismus die Bewegung maßgeblich verändert. Zusammengefasst ergeben die Faktoren den Ansatz eines Erklärungsversuches für die signifikanten Unterschiede und Probleme zwischen den Generationen einer Frauenbewegung.
Als im Zuge des Oslo-Abkommens 1994 der Palästinensischen Autonomiebehörde in einigen festgelegten Gebieten die Regierungssouveränität in den Bereichen Bildung, Soziales, Gesundheit, Steuerwesen und Tourismus erklärt wurde und daraufhin Wahlen und der Aufbau eines Regierungsapparat ihren Anfang fanden, hatte dies weitreichende Auswirkungen auf zivilgesellschaftliche Prozesse. „Nach Oslo und der Gründung der Palästinensischen Autonomiebehörde war die Frauenbewegung eine der aktivsten in der aufstrebenden Szene sozialer Bewegungen“, erklärt Lama Hourani, damals Mitglied der kommunistischen Palästinensischen Volkspartei und Aktivistin der Frauenszene.
Die Bewegung konzentrierte sich zunächst ganz konkret auf geschlechterdiskriminierende Aspekte wie das Familienrecht, hierbei vor allem das Recht auf Scheidung und Unterhalt, die Bekämpfung von Polygamie sowie das Recht auf Abtreibung. Doch auch andere Themen, wie zum Beispiel arbeitsrechtliche Fragen ungerechter Bezahlung und die Förderung von Frauen in Führungspositionen wurden angegangen. Büchereien für Frauen, Frauennetzwerke, Anwaltskanzleien von und für Frauen, Frauenhäuser - die damals geschaffenen Strukturen sind weiterhin vorhanden. Noch heute ist in Gesprächen und auf Veranstaltungen das damals entstandene Selbstbewusstsein zu spüren. „Wir brachten eine Menge Probleme auf die Tagesordnung, berührten viele Tabus und fühlten uns ziemlich mutig und aktiv und unterstützt von einigen politischen Gruppierungen. Trotz starker Kritik von verschiedenen Seiten war unser Einfluss von Medien, Gesellschaft und Politik anerkannt.” Zu solch einem Selbstbewusstsein, wie hier von Hourani geäußert, trugen wohl auch über die Zeit etablierte Strukturen bei.
In Interviews mit den Protagonistinnen von damals scheint es häufig, als würde sich dieses damals entwickelte, stolze Selbstbild heute auf drei Gegner konzentrieren: „Natürlich befinden wir uns unter israelischer Besatzung. Aber da ist noch mehr. Ich nenne es die mentale Besatzung. Mentale Besatzung durch Männer. Und mentale Besatzung durch Religion“, sagt Kholoud Baddar, Aktivistin aus Ramallah. Ein Kontrast zur Euphorie und den messbaren Erfolgen von damals? In der Tat wirkt ein Blick auf heutige Zustände der Frauenbewegung ernüchternd. Schlechter organisiert, weniger aktiv, keine einheitliche Zusammenarbeit – dies ist die kritische Selbstbeschreibung einiger Frauen, die sich sowohl damals als auch heute zur feministischen Szene zählen.
Männer mögen bevorteilt werden, ganz ernst nehmen kann frau sie jedoch nicht
In meinen Gesprächen mit Frauen fällt noch etwas auf: Männer werden häufig klar herabgesetzt. Die existierende ökonomische und politische Überlegenheit der Männer dient zwar stets als Legitimierung für die Notwendigkeit von Feminismus in Palästina. Gleichzeitig wirkt es jedoch, als würden Männer nicht als würdige Kontrahenten ernst genommen: „Männer können mit gesellschaftlichem Druck nicht umgehen. Sie sind nicht so stark“, fasst Baddar ein oft gehörtes Argument zusammen. Ausschließlich Frauen könnten wirkliche gesellschaftliche Veränderungen anstoßen, Männer seien dazu schlicht nicht in der Lage. Lassen sich diese Feindeslinien zwischen Männern und Frauen mit den Ansprüchen jüngerer Generationen vereinbaren?
Die palästinensische Frauenbewegung kämpft mit einem ernsten Generationenproblem. Es ist den Vorkämpferinnen der feministischen Bewegung der 1990er Jahre nicht gelungen, ihre inhaltlichen Anliegen und ihre Form des politischen Protestes mit denen der heute aktiven jungen Frauen Palästinas abzustimmen. Für die jungen steht soziale Ungerechtigkeit im Mittelpunkt. Sie kämpfen gegen eine immer autoritärer agierende palästinensische Regierung an. Die ältere aktive Frauengeneration ist vom herrschenden Regierungssystem nicht mehr zu trennen. Während nämlich die durch Oslo politisierte Frauenbewegung erstarkte, soziale Reformen bewirkte und nach einiger Zeit durch gesellschaftliche Veränderungen an Kraft verlor, war das für die einzelnen Frauen anders: Diese hatten an Einfluss gewonnen, drängten in politische Ämter oder besetzten führende Stellen in Nichtregierungsorganisationen. Sie professionalisierten sich. „Wir wurden durch unsere Arbeit so institutionalisiert, dass wir unsere wesentlichen Anliegen vernachlässigten und aufhörten mit Graswurzel-Bewegungen zu arbeiten“, kritisiert Hourani, die heute selbst für eine politische Stiftung arbeitet.
Mit der Professionalisierung entfernte man sich von der Realität
In der Tat führt die Suche nach aktiven und sich selbst als Feministinnen bezeichnenden Frauen durch Ministerien, Stiftungen, Universitäten und Organisationen: eine kleine Szene von selbstbewussten, intelligenten und sehr selbstbestimmten Frauen, die sich untereinander kennen. Sie zeichnen allesamt ein sehr positives Bild über den Einflussbereich und die Möglichkeiten der palästinensischen Frauenszene und sehen der Zukunft der palästinensischen Gesellschaft zwar besorgt, aber keineswegs pessimistisch entgegen. So habe zwar der Wirkungsbereich der Bewegung abgenommen, jener ihrer Mitglieder aber sei eher stärker geworden. Wie empfänglich können diese Frauen für Gesellschaftskritik und Inhalte der neuen Generation sein? Die jüngeren Frauen kritisieren in Gesprächen weniger den Einfluss von Männern und gläubigen Muslimen als das bestehende System und ihre Chancenlosigkeit. Der Traum davon in einem selbstständigen Palästina eine wirtschaftlich selbstständige Zukunft aufbauen zu können, scheint schier unerreichbar.
Was bleibt also von einer starken und einflussreichen feministischen Bewegung in Palästina? Vielleicht die Hoffnung auf eine Generation, die nicht durch Euphorie, sondern durch Stagnation politisiert wird. Eine Generation, welche durch ihre eigenen Wege der Kommunikation und ihre eigenen Definitionen von Gleichheit und Gerechtigkeit gemeinschaftliche Lösungen der bestehenden Probleme findet.