13.07.2012
Israel legalisiert Besatzung: Wild-Westbank

Eine von Premier Netanjahu beauftragte Kommission erklärt, dass es sich bei der Westbank nicht um besetztes Gebiet handelt. Setzt sich diese Sichtweise in Israel durch, ist die Zwei-Staaten-Lösung endgültig tot. Von Ingrid Ross und Alexander Rüsche


Anfang dieses Jahres geriet der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu in der Frage der Räumung von Außenposten zunehmend unter Druck. Außenposten unterscheiden sich von israelischen Siedlungen, da sie nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch nach israelischem Recht bislang illegal sind. Trotzdem werden sie durch den Staat – zumindest indirekt, etwa durch die Bereitstellung von Infrastruktur und Sicherheitskräften –  massiv gefördert. Im Westjordanland existieren derzeit nach Angaben der israelischen NGO Peace Now über 100 Außenposten mit insgesamt mehr als 5.000 Bewohnern.

Während der israelische Oberste Gerichtshof immer wieder auf die Einhaltung israelischen Rechts pocht, sind zunehmend große Teile des politischen Establishments bemüht, Wege zu finden, die Fortsetzung der Siedlungsaktivitäten zu gewährleisten. So auch im Fall der illegalen Außenposten Ulpana und Migron, deren Räumung das Gericht angeordnet hatte. Daraufhin planten Ende Januar 2012 mehrere israelische Parlamentarier ein Gesetz zur Legalisierung der Außenposten. Um dies zu verhindern und negative Reaktionen der internationalen Gemeinschaft zu vermeiden, setzte Netanjahu eine Kommission ein, die ein Gutachten zum rechtlichen Status der Außenposten und israelischem Landbesitz im Westjordanland erstellen sollte. Netanjahu erklärte, Ziel der Kommission sei es, »verschiedene Wege zu untersuchen, den Bau zu legalisieren und den Siedlern minimalen Schaden zuzufügen.«

Um diese Wege zu finden, wurde die dreiköpfige Kommission ausschließlich mit der Siedlerbewegung nahestehenden Juristen besetzt. Der Kommissionsvorsitzende Edmund Levy hatte während seiner Zeit am Obersten Gericht in einem Urteil zum Rückzug aus dem Gazastreifen im Jahr 2005 als einziger von elf Richtern gegen den Abzug israelischer Siedler gestimmt. Angesichts dieser Zusammensetzung ist es kaum verwunderlich, dass ihre Schlussfolgerungen in nahezu allen Punkten die Ansichten der Siedlerbewegung widerspiegeln. Unter anderem wird die Legalisierung des Großteils der Außenposten empfohlen. Yariv Oppenheimer, Direktor von »Peace Now«, bezeichnete den Kommissionsbericht vor diesem Hintergrund als »politisches Manifest«, das kein Jurist dieser Welt ernst nehmen könne.

Die Levy-Kommission stellt eine 45-jährige Rechtsprechung in Israel in Frage

Der Levy-Bericht geht jedoch weit über die Frage des Status der Außenposten hinaus. Weitreichendere Implikationen hat seine Einschätzung, bei der Westbank handele es sich nicht um besetztes Gebiet. Im Land zwischen Jordan und der Grünen Linie, das im Bericht als »Judäa und Samaria« bezeichnet wird, sei Israel somit keine Besatzungsmacht. Mit dieser Sichtweise stellt die Levy-Kommission nicht nur eine 45-jährige, anderslautende Rechtsprechung in Israel in Frage, sie begibt sich auch in fundamentalen Widerspruch zur Position der internationalen Gemeinschaft und herrschender Meinung im internationalen Recht. Mit ihren Handlungen haben sich israelische Regierungsbehörden allerdings seit Jahrzehnten über diese hinweg gesetzt und eine Realität geschaffen, die einer militärischen Besatzung heute tatsächlich kaum noch entspricht.

So ist eine Situation entstanden, in der mehr als eine halbe Million israelische Siedler im Westjordanland leben. Gemäß der Vierten Genfer Konvention ist die Ansiedlung von Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten untersagt. Auch das über die Jahre gewachsene rechtliche Konstrukt passt kaum noch zur Kategorie der Besatzung. Auf dem gleichen Gebiet gelten zwei verschiedene Rechtssysteme: Für die israelischen Staatsbürger gilt israelisches Recht, das von der israelischen Polizei durchgesetzt wird, während für Palästinenser einerseits vom israelischen Militär gesetzte und implementierte Normen und Regeln gelten und andererseits Gesetze, die von der palästinensischen Autonomiebehörde erlassen werden.

Ein weiteres Merkmal von Besatzung ist, dass es sich um einen temporären Zustand handelt. Im Fall der Westbank dauert dieser Zustand nun seit fast einem halben Jahrhundert an und ein Ende ist kaum in Sicht. Auch seiner völkerrechtlichen Pflicht, als Besatzungsmacht für die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten zu sorgen, vernachlässigt Israel. Ein Beispiel: Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt eine tägliche Mindestmenge von 100 Litern Wasser pro Person. Einem Palästinenser stehen im Westjordanland durchschnittlich nur 70 Liter Wasser am Tag zu. In den ausschließlich von Israel kontrollierten und verwalteten C-Gebieten, die über 60 Prozent der Westbank ausmachen, sind es teilweise sogar nur 30 Liter.

Wenn das Westjordanland kein besetztes Gebiet ist, was ist es dann?

Vor diesem Hintergrund erscheinen die Empfehlungen des Levy-Berichts als Versuch, das wachsende Dilemma der israelischen Regierung zu lösen, indem die geltende Rechtslage an die de facto seit langem herrschende Praxis der israelischen Behörden und die sich daraus ergebenen Realitäten im Westjordanland angepasst werden soll. Dabei hält die Levy-Kommission allerdings auf halbem Weg inne. Denn die Frage ist: Wenn das Westjordanland kein besetztes Gebiet ist, was ist es dann? Eine explizite Antwort bleibt der Bericht – soweit bisher geleakt – schuldig. Sie liegt indes auf der Hand: Wenn das Westjordanland kein besetztes Palästinensisches Gebiet ist, dann ist es als »Judaä und Samaria« ein Teil von Israel.

Die Entwicklung in Richtung einer De-Facto-Annektierung der besetzten Gebiete stellte der Internationale Gerichtshof bereits 2004 in seiner »Advisory Opinion« im Hinblick auf die Palästinensischen Gebiete fest, die durch den Bau der Sperranlage dem israelischen Kernland zugeschlagen werden. Sollte sich die israelische Regierung den Empfehlungen der Levy-Kommission anschließen, wäre diese Entwicklung de jure vollendet. Die israelische Rechte und insbesondere die Siedlerbewegung hätte ihr erklärtes Ziel eines »Eretz Israel« zwischen Jordan und Mittelmeer erreicht.

Das würde den endgültigen Tod der schon heute komatösen Zwei-Staaten-Lösung bedeuten. Israel sähe sich im Rahmen dieser unilateral diktierten Ein-Staaten-Lösung aller Voraussicht nach schon bald mit Forderungen der Palästinenser nach Bürgerrechten, Partizipation und Demokratie konfrontiert. Die Konsequenzen dieses Schrittes skizzierte der damalige israelische Ministerpräsident Ehud Olmert bereits im Jahr 2007: »Israel würde sich einem Kampf um gleiche Wahl- und Bürgerrechte nach südafrikanischem Muster entgegen sehen. Und sobald das passiert, ist der Staat Israel erledigt.«

Netanjahu steht unter massivem Druck aus den eigenen Reihen

Ob die Empfehlungen des Levy-Berichts akzeptiert werden, ist noch nicht absehbar. Die USA haben sich bereits besorgt über den Bericht gezeigt und erklärt, dass sie israelische Siedlungsaktivitäten nicht als legitim anerkennen. Auch innerhalb Israels wird der Bericht kritisiert. Im Regierungslager trifft er indes auf Unterstützung. Schas-Innenminister Eli Jischai lobte den Bericht. Die beiden Likud-Minister Yuli Edelstein und Gilad Erdan hießen den Bericht ebenfalls willkommen, da er das »natürliche Recht zu siedeln« betone und »juristische und historische Gerechtigkeit« herstelle.

Netanjahu steht vor diesem Hintergrund unter massivem Druck aus den eigenen Reihen, sich die Empfehlungen der Levy-Kommission zu Eigen zu machen. Vorerst hat er den Bericht an das von ihm unlängst ins Leben gerufene »Ministerialkomitee für Siedlungsfragen« weitergeleitet. Es besteht aus dem Premierminister selbst und zehn weiteren Ministern, von denen fünf bereits öffentlich erklärt haben, den Empfehlungen der Levy-Kommission folgen zu wollen. Die restlichen Mitglieder des Komitees haben sich noch nicht geäußert. Das Votum des Komitees hat den Rang eines Kabinettsbeschlusses.

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