Die Volksaufstände im Nahen Osten halten an, nur Algerien wartet noch auf seinen Frühling. Ob die Revolte auch auf das nordafrikanische Land übergreift, wird sich nach den Parlamentswahlen am 10. Mai zeigen. Entscheidend wird das Abschneiden der gemäßigten Islamisten sein. Ein Gastbeitrag von Sofian Philip Naceur.
Die zivilen Massenproteste gegen die autoritäre Führung von Staatspräsident Zine El-Abidine Ben Ali in Tunesien im Dezember 2010 ließen das seit Jahrzehnten regierende repressive Regime unter dem Druck der Straße kollabieren. Der Zusammenbruch des Systems Ben Ali entfachte eine revolutionäre Dynamik in der gesamten arabischen Welt und ließ von Marokko bis Bahrein kein Land unberührt. Einige Regime stürzten, andere leiteten politische Reformen ein und weitere antworteten auf die friedlichen Proteste mit blanker Repression. Gemeinsamkeit nahezu aller betroffenen Staaten ist jedoch der spürbare Machtzuwachs der gemäßigten Islamisten.
Nur Algerien blieb vom Arabischen Frühling bislang verschont und bis heute ist offen, ob die gemäßigten Islamisten Algeriens aus den Parlamentswahlen Kapital zu schlagen vermögen. Das islamistische Spektrum umfasst inzwischen sechs Parteien und es stellt sich die Frage nach ihrer politischen Orientierung oder Programmatik, aber auch ihren Chancen, ähnlich wie in den Nachbarländern die Wahlen gewinnen zu können.
Anfang Januar verließ die gemäßigt islamistische MSP (Mouvement de la société pour la paix) unter Bouguerra Soltani die seit 1997 bestehende Regierungskoalition mit der ehemaligen Einheitspartei Algeriens FLN (Front de Liberation National) und ihrer Abspaltung RND (Rassemblement National Démocratique). Die Eingliederung der Islamisten in die Exekutive noch unter Staatspräsident Zeroual, dem Vorgänger des seit 1999 amtierenden Staatschef Abdelaziz Bouteflika von der FLN, war ein Resultat des demokratischen Experiments der frühen 1990er Jahre und des darauf folgenden blutigen Bürgerkrieges. Katastrophale Misswirtschaft hatte das Land Ende der 1980er Jahre in den ökonomischen Kollaps geführt und nach wochenlangen Massendemonstrationen der Bevölkerung gegen das Regime eine demokratische Öffnung erzwunden.
Politische Liberalisierung, Versammlungs- und Pressefreiheit gingen einher mit dem Ende der Einparteienherrschaft der FLN. Als im Dezember 1991 die radikal-islamistische FIS (Front Islamique du Salut) nach den Kommunalwahlen auch die Parlamentswahlen erdrutschartig gewinnen konnte, da sie als einzig unverbrauchte politische Kraft eine Massenbasis zu mobilisieren vermochte, putschten sich die Militärs an die Macht und Algerien schlitterte in einen fast zehn Jahre währenden Bürgerkrieg zwischen radikalen Islamisten im Fahrwasser der 1992 verbotenen FIS und der mächtigen algerischen Armee unter Verteidigungsminister Khaled Nezzar und dem neu eingesetzten Geheimdienstchef Mohamed Mediéne – auch heute noch die graue Eminenz des Landes.
»Die islamistische Wählerschaft, die seit 1992 schläft«
Die Aufnahme der MSP in die Regierung war damals als Beruhigungspille ein geschickter Schachzug, heute jedoch hat sich die innenpolitische Situation Algeriens, aber vor allem das regionale Umfeld des Landes deutlich verändert. Der Arabische Frühling spült seit gut einem Jahr gemäßigt islamistische Parteien in die vordere Reihe der politischen Führung in der arabischen Welt. Angefangen hat die »Grüne Welle« mit dem Erfolg der tunesischen Ennahda von Rachid Ghannouchi, die noch unter Ben Ali verboten war und erst nach seinem Sturz eine Neugründung in Tunesien wagen konnte. Die Ennahda konnte die Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung vor allem aufgrund der betont moderaten politischen Programmatik für sich entscheiden. Während die erste nach dem Rücktritt von Hosni Mubaraks neu gewählte ägyptische Kammer ebenso deutlich von den inzwischen gemäßigt und strikt marktwirtschaftlich orientierten Muslimbrüdern dominiert wird, stellen die moderaten Konservativen in Marokko sogar den Regierungschef. Der marokkanische König ließ die Parlamentswahlen vorziehen und setzte im Dezember Abdellilah Benkirane von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (PJD) als Ministerpräsidenten ein.
Der Zulauf für die gemäßigten Islamisten hat mehrere Gründe. Seit den 1980er Jahren waren Islamisten und gemäßigt Konservative neben der kommunistischen Linken das Hauptziel der staatlichen Unterdrückung in der Region, ebendiese Gruppierungen gelten daher heute meist als relativ unverbrauchte politische Kraft. Zudem haben sie sich vielerorts, wie in Ägypten oder Marokko, entradikalisiert und schlagen eine moderatere Tonart an, in vom Tourismussektor abhängigen Staaten wie Tunesien, Ägypten oder Marokko auch vor dem Hintergrund der wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen. Realpolitik scheint die Devise zu sein. In Algerien ist die Situation jedoch unweit komplexer. Die algerische Gesellschaft hat bereits vor 20 Jahren ihre Erfahrungen mit einer demokratischen Öffnung und einer Protestwahl zugunsten der Radikalislamisten gemacht. Ein islamistisches Parteienspektrum ist seither legalisiert, auch wenn die FIS nach wie vor verboten ist und erst nach Ausbruch des Frühlings zwei weitere islamistische Parteien zugelassen wurden. Der Staat vermochte seit 1990 die legal operierenden Parteien besser zu kontrollieren und durch Beteiligung an den Erlösen aus dem Erdölexport auf Linie zu trimmen.
Der Arabische Frühling hat die Parteienlandschaft Algeriens dennoch verändert. Das Regime sah sich gezwungen, zwei weitere islamistische Parteien zuzulassen. Der Politologe Rachid Tlemcani vermutet hinter dieser Strategie wahltaktisches Kalkül der Regierung, die hofft, durch die starke Zersplitterung der islamistischen Parteienlandschaft ein klares Wählervotum für eine der islamistischen Parteien verhindern zu können. Die Reaktion der Islamisten war im März 2012 der Zusammenschluss von MSP, Ennahda und El-Islah zur »Grünen Allianz«, man will beim Urnengang am 10. Mai auf einer gemeinsamen Liste antreten. MSP-Chef Soltani hatte schon 2011 dazu aufgerufen, ein solches Bündnis zu formieren, um ihre Chancen auf einen Wahlsieg im Windschatten des Machtzuwachses der gemäßigten Islamisten in Marokko oder Tunesien zu erhöhen. »Die islamistische Wählerschaft, die seit 1992 schläft« werde die Allianz unterstützen, glaubt Soltani. ihr Wählerpotenzial wird schließlich auf über 35 Prozent geschätzt. Anders als 1992 würde eine parlamentarische Mehrheit nicht mehr als Gefahr angesehen und zudem erkenne Europa die Islamisten inzwischen als »nicht in Frage zu stellende Realität« an, zitiert ihn der Journalist Rainer Wandler.
Prominente Rückendeckung aus Tunesien
Dennoch ist die Einheit des Bündnisses brüchig. Der Vorsitzende der El-Islah, Hamlaoui Akkouchi, betonte, seine Partei werde sich von der gemeinsamen Liste zurückziehen, wenn sich erneut ein Wahlbetrug abzeichnen würde. In der zweitgrößten Stadt des Landes, im westalgerischen Oran, hat sich die Partei bereits aufgrund der umstrittenen Listenaufstellung aus der Allianz verabschiedet. Zudem treten mit dem »Mouvement pour la réforme nationale« und der neu gegründeten FJD (Front de la Justice et du Développement) von Abdallah Djaballah zwei weitere Parteien bei den Wahlen im Mai an.
Insbesondere die FJD könnte der Grünen Allianz Stimmen abjagen. Djaballah, im Übrigen Ex-Parteichef und Mitbegründer von El-Islah und Ennahda, denen er jedoch den Rücken kehrte, trat 1999 und 2004 bei den Präsidentschaftswahlen an und hofft heute auf Zustimmung von Teilen der MSP-Anhängerschaft, die die Partei aus Protest gegen die Regierungsbeteiligung nicht mehr unterstützen wollen. MSP-Chef Soltani bekam unterdessen prominente Rückendeckung von Rachid Ghannouchi, dem Vorsitzenden der tunesischen Ennahda. Schwierig ist die Position für die MSP allemal, schließlich muss die Partei einerseits ihre Koalitionsfähigkeit unter Beweis stellen und andererseits ihr konservatives Profil schärfen. In der Vergangenheit unterstützte sie das Verbot des Alkoholimportes und verhinderte eine weitere Liberalisierung der Familiengesetzgebung, die 2004 angestoßen worden war.
In einer ersten in der algerischen Tageszeitung El Watan veröffentlichen Wahlumfrage erreicht der FLN 25 Prozent, weit vor der zweiten Regimepartei RND von Ministerpräsident Ouyahia mit fünf Prozent, den algerischen Trotzkisten von Louisa Hanoun mit vier Prozent und der Grünen Allianz mit nur zwei Prozent. Die Zuverlässigkeit dieser Zahlen darf bestritten werden, schließlich hat sich seit dem Bürgerkrieg in Algerien ein System etabliert, bei dem die endgültige Machtverteilung nicht an den Urnen entschieden wird, sondern vielmehr im Vorfeld der Wahlen hinter verschlossenen Türen. Die algerische Presse ist zwar relativ offen, das Gros der Publikationen jedoch mit einzelnen Fraktionen des Machtapparates verbrüdert. Die bei El Watan veröffentlichten Zahlen lassen daher durchaus darauf schließen, inwieweit die Frage der Machtaufteilung bereits im Hinterkämmerchen ausgehandelt wird.
Aufschlussreich ist in diesem Kontext auch das gegensätzliche Taktieren der beiden linksorientierten Berberparteien FFS (Front des Forces Socialistes) und RCD (Rassemblement pour la Culture et la Democratie). Während der FFS seit fast zehn Jahren die Urnengänge in Algerien boykottiert, will die Partei von Hocine Ait Achmed im Mai 2012 überraschend antreten. Das RCD hingegen nahm an den Parlamentswahlen 1997 und 2007 teil und vollzog nach dem vor kurzem erfolgten Rücktritt des langjährigen Parteichefs Said Saadi einen Wechsel an der Parteispitze. Die Partei will mit Bezugnahme auf erneuten massiven Wahlbetrug nicht am Urnengang partizipieren.
Am Status Quo in Algier wird sich wenig ändern
Ein Wahlbetrug scheint vorprogrammiert, daher ist es durchaus aufschlussreich, im Vorfeld der Wahlen zu beobachten, wie sich welche Partei zu dem anstehenden Urnengang positioniert. Die größte Sorge des vom FLN dominierten Regimes ist jedoch die Wahlbeteiligung, die bei den letzten Parlamentswahlen 2007 ihren historischen Tiefstand von knapp 35 Prozent erreichte – und selbst diese Zahl war massiv geschönt. Neben dem RCD riefen zudem die beiden Führungsköpfe der verbotenen FIS, Abassi Madani aus seinem Exil in Katar sowie Ali Belhadj aus Algier, zum Boykott der Wahlen auf. Kurz vor seiner erneuten Verhaftung in der östlich von Algier gelegenen Kabylei Anfang Februar veröffentlichte Belhadj den gemeinsamen Boykottaufruf auch in Algerien, in dem es heißt: »Ein radikaler Wandel des Regimes gibt es nur mit einer breiten Stimmenthaltung bei den Parlamentswahlen.« Wahlbetrug sei auch 2012 zu befürchten. Auch die Zulassung von inzwischen über 500 Wahlbeobachtern von der Arabischen Liga und der Europäischen Union täusche nicht darüber hinweg, dass die Wahl nicht sauber sein werde.
Sicher ist, das religiös motivierte Wählerpotenzial in Algerien darf nicht unterschätzt werden und es könnte sich im Zuge des Arabischen Frühlings und des Machtzuwachses der gemäßigten Islamisten in der Region noch vergrößert haben. Anders als die Touristenziele Tunesien und Marokko war Algerien seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich 1962 ein zutiefst isoliertes Land. Der Staat war angesichts der hohen Einkünfte aus der Erdöl- und Erdgasbranche nicht zwingend auf den Ausbau weiterer Wirtschaftszweige angewiesen und vernachlässigte das Potenzial des Tourismus vollkommen. Zudem regierte von 1965 bis 1980 mit Houari Boumediénne ein religiös konservativer Staatspräsident, der neben den Plänen zur touristischen Erschließung der Küste auch die französische Sprache aus dem Schulunterricht in der Schublade verschwinden ließ. Die staatlich verordnete Islamisierung blieb nicht folgenlos, wie die Ergebnisse der ersten freien Wahlen in Algerien 1991 beweisen. Gewiss, die Höhe des Wahlsieges der FIS war auch Symbol einer radikalen Protestwahl gegen die korrupte und diskreditierte ehemalige Einheitspartei FLN, aber auch ein Anzeichen für den regional überdurchschnittlich ausgeprägten Konservatismus der algerischen Gesellschaft.
Gewiss scheint heute genau einen Monat vor den Parlamentswahlen, dass die im Hintergrund die Fäden ziehenden Militärs auch weiterhin der FLN die politische Führung des Landes anvertrauen werden. Ein Szenario, bei dem die gemäßigten Islamisten die Exekutive übernehmen, der FLN aber aufgrund des Machtungleichgewichtes zwischen Regierung und Präsidentenamt weiterhin die absolute Kontrolle über die politischen Geschicke des Landes behält, ist zwar im Bereich des Möglichen, aber inzwischen nahezu ausgeschlossen. Das algerische Regime wird das Risiko einer unkontrollierten Machtaufgabe nicht eingehen und auch 2012 wieder alles auf eine sichere Karte setzen. Dennoch wird das Regime gezwungen sein, die islamistischen Parteien in die algerische Exekutive zu integrieren.
Bislang deutet alles auf eine erneute Beteiligung der MSP an der Regierung hin, in diesem Falle zusammen mit der El-Islah und der Ennahda, die gemeinsam mit der MSP die Grüne Allianz aus der Taufe gehoben haben. Ob der in den 1990er Jahren erfolgten Diskreditierung des radikalen politischen Islams haben sich insbesondere die etablierten islamistischen Parteien Algeriens wie die MSP deutlich moderater positioniert, es bleibt jedoch abzuwarten ob und inwiefern sich die gemäßigt islamistischen Parteien auf der Zielgraden einen wertebezogenen Wahlkampf um die Deutungshoheit in religiösen Fragen liefern werden.
Wären die Wahlen frei, hätten Grüne Allianz aber auch die FJD von Abdallah Djaballah Chancen auf deutliche Stimmenzuwächse. Angesichts der tatsächlichen Zusammensetzung des vom FLN dominierten Machtgefüges in Algerien wird sich am Status Quo in Algier wenig ändern. Entscheidend für die langfristige politische Stabilität des Landes wird jedoch sein, ob und wie stark der Arabische Frühling nach den Wahlen am 10. Mai die innenpolitische Situation zu bestimmen vermag. Angesichts der historischen Erfahrungen Algeriens und aufgrund des derzeit in Mali ausgebrochenen Staatszerfalls hat das Militärregime in Algier jedoch Rückenwind. Die Angst vor dem Zusammenbruch der staatlichen Ordnung oder gar einer ausländischen Intervention wie in Libyen werden den möglicherweise ausbrechenden Protesten gegen die Wahlergebnisse schnell den Wind aus den Segeln nehmen. Das Regime in Algier wird wanken und sich neu formieren müssen – stürzen wird es kaum.