Ein Gastbeitrag von Tahir Chaudhry
Anfang Januar 2012 reiste eine Gruppe von vier Studenten der Islamwissenschaft von der Christian-Albrechts-Universität Kiel nach Tunesien, um die politische Lage des Landes ein Jahr nach der Revolution zu analysieren. Tunesien ist das Land, das im Winter 2010 der Ausgangspunkt für eine Protestwelle in großen Teilen arabischen Welt war. Höhepunkt der Exkursion war ein Treffen mit dem Islamistenführer Rachid al-Ghannouchi, der der Vorsitzende der islamistischen Ennahda Partei ist, die als Wahlsieger aus der ersten demokratischen Wahl in Tunesien nach dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali hervorging. Man geht davon aus, dass er der Marionettenspieler hinter den führenden Funktionären der neuen Koalitionsregierung in Tunesien ist.
Die Partei Ennahda (arab. Renaissance, Wiedererwachen), ist die Partei, die mit 41 Prozent der Stimmen als deutlicher Wahlsieger der ersten demokratischen Wahl in Tunesien nach dem Sturz von Ex-Diktator Ben Ali hervorging. Und nun bildet sie zusammen mit der sozialliberalen „Kongress für die Republik“ (13,8 %) und der sozialdemokratischen „Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit“ (9,7%) die neue Regierung der tunesischen Republik.
Ohne jeglichen Termin betreten wir die Parteizentrale der Ennahda. Wir melden uns beim Empfang und werden für eine Weile in ein Wartezimmer geleitet. Bald darauf werden wir in das Büro des Pressesprechers geleitet. Ein älterer Mann mit einem traditionellen tunesischen Gewand und einer roten Gebetsmütze betritt in Begleitung einer verschleierten Sekretärin das Büro. Während sie für ihn im Internet recherchiert, serviert er uns einige Bruchstücke auf Deutsch. Sie lächeln, wir lachen, wir fühlen uns Wohl. Wir erhalten wir eindringlichen Hinweis: „We are not terrorists!“ Wir lächeln und nicken stumm. Plötzlich ertönt der Gebetsruf aus dem Computer, worauf die Sekretärin ihre Arbeit unterbricht und dem Gebetsruf horcht. Auch der Mann ist darin vertieft bis sein Mobiltelefon klingelt; es wird moderne arabische Popmusik abgespielt. Er entschuldigt sich und spricht in üblicherweise hoher Lautstärke ins Telefon.
Nach einer Weile werden wir durch Zied Boumekhla, dem Präsidenten des studentischen Flügels der Ennahda in sein Büro geführt. Dort erzählt er uns etwas über das Engagement der studentischen Organisation in den tunesischen Universitäten und ihrer Rolle während der Revolution. Anschließend bittet unser Dozent um ein Treffen mit Rachid al-Ghannouchi, dem Parteichef der Ennahda- Bewegung. Zied erkundigt sich per Mobiltelefon direkt bei der Spitze, die im 5. Stock untergebracht ist. Der 71-jährige Ghannouchi - den wir treffen möchten, wurde bereits von Habib Bourgiba, dem ersten Präsidenten der Tunesischen Republik zu Haft, Zwangsarbeit und zum Tode verurteilt. Als Oppositioneller und Führer der erst am 1. März 2011 legalisierten islamistischen Nahda-Bewegung in Tunesien vertritt er nach eigenen Angaben einen gemäßigten Islam. Er plädiert für Demokratie und die Anwendung der Menschenrechte und sieht die Türkei als Vorbild in der Staatsführung Tunesiens.
Kurze Zeit später trifft die Bestätigung für ein 15-minütiges Interview mit dem Islamistenführer ein.
Während Sheikh Ghannouchi betet, warten wir in einem Vorzimmer. Hätten wir ihn auf das Gebet angesprochen, hätte er uns gewiss mitgeteilt – wie er es allen anderen Journalisten mitzuteilen pflegt, dass er gerade Allah für die Revolution gedankt habe, die einen Segen für ihn und sein Land war.
Dann ist es endlich soweit. Wir betreten erstaunlicher Weise ohne jegliche Sicherheitschecks das Büro des Sheikhs. Seine Bodyguards mustern uns kurz mit ernsten Blicken und verschwinden rasch aus dem Büro. Vor uns sitzt nun der mächtigste Mann Tunesiens in seinem ziemlich bescheiden eingerichteten Büro. Wir geben ihm die Hand und uns wird gestattet Platz zu nehmen. Wir werden ihm vorgestellt und beginnen damit unsere Fragen auf Deutsch zu stellen, damit unser Dozent sie für den Sheikh auf Arabisch übersetzen kann.
Studenten: Welche Rolle spielt Deutschland in den internationalen Beziehungen Tunesiens?
Ghannouchi: „Uns verbindet mit Deutschland eine sehr gute Freudschaft. Dementsprechend sind die Beziehungen sehr solide. Deutschland ist für die Investitionen, den Tourismus, die Bildung etc. in Tunesien sehr wichtig. Unsere wirtschaftlichen Beziehungen sind sehr stark. Deutschland ist (nach Frankreich) unser zweitwichtigster Markt im Tourismusbereich. Zudem gibt es in Deutschland viele tunesische Studenten; also unsere Elite wird zum Teil in Deutschland ausgebildet.
Leider baut Deutschland seine Beziehungen mit Tunesien oft über Frankreich aus. Ich denke, Deutschland hat es nicht nötig, mit uns über Frankreich zu verhandeln oder seine Sicht zu Tunesien durch Frankreich bestimmen zu lassen. Daher hätten die deutschen Regierungen eine andere Haltung zu der langjährigen Diktatur in unserem Lande nehmen sollen, als die die französischen Regierungen genommen haben.“
Der Sheikh lässt sich sehr viel Zeit. Ist es vielleicht eine Taktik? Man weiß es nicht. Er spricht scheinbar altersbedingt langsam und wiederholt sich immer wieder. Wir werden unruhig und blicken panisch auf all unsere Fragen, die noch unbeantwortet geblieben sind. Die 15 Minuten kommen uns erstaunlich kurz vor. Ein Student schlägt sich unabsichtlich, reflexhaft auf seinen Schenkel, als er vom Sheikh bei der Stellung der nächsten Frage unterbrochen wird. Zum Glück bemerkt der Sheikh nichts und setzt unbehelligt fort.
Studenten: Wie schätzen Sie die Reaktion der EU auf die tunesische Revolution?
Ghannouchi: „Vorweg möchte ich sagen: Die EU hat keine Maßnahmen gegen die Diktatur Ben Ali ́s ergriffen. Alle deutschen Regierungen schwiegen über Ben Ali ́s undemokratischen und korrupten Machenschaften. Gerade von Deutschland, die unter einer schlimmen Diktatur gelitten haben, hätte ich Solidarität während unserer Diktaturzeit erwartet. Denn wir haben nicht weniger gelitten als die Deutschen unter ihrer Diktatur.“
Studenten: Wollen Sie etwa die Diktatur während des Nationssozialismus in Deutschland mit Ben Ali ́s Diktatur vergleichen?
Ghannouchi: „Nun möchte ich noch hinzufügen, dass die EU sehr zögernd auf die jüngsten Ereignisse in Tunesien reagiert hat, als ob sie die französische Entscheidung gegenüber der tunesischen Revolution abgewartet hätte. Allerdings möchte ich auch dankbar erwähnen, dass Deutschland vielen Ennahda-Aktivisten während der Ben Ali ́s Diktatur Asyl und Exil gewährte. Ferner hat Deutschland im Gegensatz zu anderen Staaten unsere Aktivisten nicht an den Diktator Ben Ali ausgeliefert.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an einen Vorfall in Deutschland: Mitte der Neunziger Jahre haben die deutschen Behörden mehrere unserer Aktivisten, die Ben Ali auf die Interpol-Liste setzen ließ, festgenommen. Dann warteten sie 40 Tage vergeblich auf die von der tunesischen Regierung geforderten Akten mit den Anklagepunkten. Am Ende mussten sie unsere Aktivisten frei lassen.“
Studenten: Ihr Ministerpräsident, Hammadi Jebali, beschrieb den Sieg der Ennahda in den letzten Wahlen als Beginn des 6. „Rechtgeleiteten Kalifats“. Glauben Sie, dass das islamische Kalifat-System mit den Grundsätzen einer modernen Demokratie konform ist?
Ghannouchi: „Ja, das Kalifat-System ist mit den Grundsätzen einer modernen Demokratie konform, denn alle Kalifen [Abu Bakr, Umar, Uthman, Ali und Umar Ibn Abd al-Aziz] wurden vom Volk gewählt.“
Studenten: Aber Herr Ghannouchi, abgesehen davon, dass die ersten vier Kalifen nicht vom Volk, sondern von einer kleinen Gruppe der Stadt Medina mehr oder weniger gewählt wurden, gehört der fünfte Umar Ibn Abd al-Aziz weder zu den Rechtgeleiteten Kalifen, noch wurde er gewählt, sondern kam Thronfolger in der Umayyaden-Dynastie an die Macht. Stimmen Sie dem zu?
Ghannouchi: „Die Herrschaft dieser fünf Kalifen zeichnet sich durch die Gerechtigkeit und die Prosperität aus. Das ist, was der Ministerpräsident, Hammadi Jebali, als nachahmungswürdig ansieht. Es gilt also nicht das politische, sondern das Wertesystem dieser frühislamischen Herrscher für Hammadi Jebali als Vorbild. Abgesehen davon, weiß der Ministerpräsident, dass die Partei Ennahda eine tunesische nationale Partei ist, die keinerlei panarabische noch panislamische Bestrebungen hat. Unser Programm ist ein nationales Programm für ein nationales System und kein panarabisches oder panislamisches Programm eines Kalifat- Systems.“
Studenten: Wie stehen Sie zur Tahrir-Partei und anderen salafistischen Bewegungen in Tunesien?
Ghannouchi: „Sie sind islamische Parteien. Wir sind mit ihnen einig über den Islam, den Koran und die Sunna. Im Islam gibt es kein Monopol auf den Glauben. Somit ist es ihr Recht, den Islam anders zu verstehen. Allerdings teilen wir ihre Ansicht nicht, dass die Demokratie eine Sünde sei, oder dass laizistische Parteien verboten werden müssten. Trotz alldem haben sie das Recht auf freie Meinungsäußerung. Folglich werden wir Parteibildungen zulassen, solange keine Gewalt von ihnen ausgeht.“
Studenten: Finden Sie die Freizügigkeit und liberalen Lebensstil vieler Tunesier/innen unmoralisch? Falls ja, was gedenkt Ennahda, dagegen zu unternehmen?
Ghannouchi: „Es gibt keine ideale Gesellschaft. Die Moral kann und darf nicht staatlich durchgesetzt werden, denn es ist die Gesellschaft selbst, die ihre Werte bestimmt. Vielmehr wäre es unmoralisch, die Moral staatlich festlegen zu wollen.“
Studenten: Sehen Sie die Zwei-Staaten-Lösung für den palästinensischen-israelischen Konflikt als akzeptabel an?
Ghannouchi: „Meine Meinung ist da unwichtig. Wichtig ist allein die Meinung der Palästinenser. Daher wird ihre Meinung auch die unsere sein. Momentan ist aber der Ball auf der Seite Israels. Israel ist nun am Zug, die UNO-Resolution, der sogar die Hamas zugestimmt hat, anzuerkennen.“
Studenten: Vielen Dank für das Interview, Herr Ghannouchi.