Die Gewalt extremistischer Siedler im Westjordanland zwingt die Regierung Netanjahu zum Handeln. Doch der Premier scheut den Begriff Terror. Kein Wunder, schließlich bereitet die Politik den Nährboden für die radikale »Hilltop Youth«. Aus Ost-Jerusalem berichtet Anne-Sophie Reichert
Sie leben in rund 150 illegalen Siedlungen und circa 100 Außenposten, die im Unterschied zu Siedlungen auch nach israelischem Recht illegal sind. Die 300.000 jüdischen Siedler im Westjordanland wohnen auf Territorium, welches Israel im Zuge des Sechstagekrieges 1967 besetzte – entgegen den Normen internationalen Rechts – und innerhalb der Grenzen eines zukünftigen palästinensischen Staates, wie er im Oslo-Abkommen 1993 avisiert wurde.
Nicht erst seit dem verstärkten Medienecho der vergangenen Woche verüben extremistische israelische Siedler in den besetzten palästinensischen Gebieten brutale Gewalt im Namen der Religion. Seit 2008 verüben extremistische Siedler immer wieder so genannte »Preisschild«-Anschläge gegen Palästinenser und ihr Eigentum. Diese gelten weithin als Reaktion der Siedler auf die vereinzelten Versuche der israelischen Regierung, illegale Siedlungen aufzulösen. Den Preis zahlen jedoch die Palästinenser.
Es ist unumstritten, dass in den vielen Jahren des Nahostkonfliktes palästinensische Extremisten brutale und menschenverachtende Anschläge, die jeder rechtlichen Legitimität entbehren, gegen das israelische Volk verübten, und zum Beispiel im Falle der wiederholten Abschüsse von Raketen aus Gaza, auch immer noch verüben. Im Unterschied zu Anschlägen der Hamas spricht bei den aktuellen Vorfällen jedoch – zumindest bis vor kurzem – kaum jemand von Terrorismus.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu nannte die 50 extremistischen Siedler, die am vergangenen Dienstagmorgen in eine Militärbasis des israelischen Militärs in der Westbank eindrangen, Steine warfen, Reifen entzündeten und Fahrzeuge beschädigten, Randalierer. Der Angriff der Siedler ist eine direkte Antwort auf eine Ankündigung der »Israeli Defense Forces« (IDF) in Übereinstimmung mit einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofes in Israel, mehrere illegale Siedlungen in der Westbank zu räumen. Bisher wurden jedoch lediglich zwei Häuser im israelischen Außenposten Mitzpeh Yitzhar abgerissen.
Verteidigungsminister Barak widerspricht seinem Regierungschef
In der Nacht von Montag auf Dienstag hatten rechte Aktivisten der extremistischen »Hilltop Youth« die heilige christliche Stätte Qasr al-Yahud nahe der Grenze zu Jordanien besetzt. Sie entfachten Feuer, sangen Lieder und tanzten. Der Name der religiös motivierten nationalistischen Jugendbewegung verweist auf die Wohnsitze der Mitglieder: Die Siedlungen, Außenposten und Militärstützpunkte in der Westbank liegen oft auf Bergkämmen oder erhöhten Plateaus. Mit der Aktion wollten die »Hilltop-Youth«-Aktivisten nach eigenen Aussagen ein Zeichen gegen die Einmischung der jordanischen Regierung in die aktuelle Diskussion um die Schließung der Mughrabi-Brücke am Jerusalemer Tempelberg setzen.
So lange sich die Gewalt der radikalen Siedler nur gegen Palästinenser richtete, wurde sie von der internationalen Presse – von Ausnahmen abgesehen – weitgehend ignoriert. Nun, da Israelis selbst Ziel der gewalttätigen Siedler geworden sind, wandelt sich das Bild: Die Anschläge sorgten sowohl in Israel und Palästina, aber auch international für erhebliches Aufsehen. In Reaktion auf die Angriffe bewilligte Netanjahu im Eilverfahren zahlreiche rechtliche Schritte, unter anderem Haftbefehle für einige der mutmaßlichen Täter und eine offizielle Erlaubnis, diese vor einem israelischen Militärgericht anzuklagen. Bisher ist jedoch noch niemand festgenommen worden. Für die Aufklärung der Anschläge sollen kombinierte Teams aus IDF, dem Inlandsgeheimdienst Shin Bet und Polizei eingesetzt werden. Netanjahu verurteilte die Angriffe als nicht hinnehmbar, gleichzeitig kritisierte er jedoch seinen Vize-Premierminister Moshe Ya’alon und Verteidigungsminister Ehud Barak, die die Vorfälle als Terrorismus bezeichneten.
Übergriffe wie der auf die Militärbasis in der vergangenen Woche, bei dem die Angreifer Soldaten belästigten und einen stellvertretenden Brigadekommandeur mit Steinwürfen verletzten, stehen in keinem Verhältnis zu den Angriffen auf Palästinenser in Israel und der Westbank.
90 Prozent der Fälle von Siedlergewalt kommen nicht zur Anklage
Für diese kam ebenfalls postwendend eine Antwort: In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch verübten extremistische Siedler Brandanschläge auf drei palästinensische Fahrzeuge in den Regionen Nablus und Salfit in der nördlichen Westbank. Sie versuchten ebenfalls, einen Wassertank und einen Bus anzuzünden und hinterließen rassistische Graffitis in hebräischer Sprache. Am Mittwoch und Donnerstag wurden Brandanschläge auf eine Moschee in Westjerusalem und eine Moschee im Westjordanland nahe Ramallah verübt. Die Gebäude wurden mit Schriftzügen wie »Nur ein toter Araber ist ein guter Araber« beschmiert.
Die Gewalt extremistischer rechter Siedler in der Westbank und in Ostjerusalem eskaliert in besorgniserregendem Maße. Nach neuesten Zahlen des »Office for the Coordination of Humanitarian Affairs« (OCHA) der Vereinten Nationen in den Palästinensischen Gebieten sind Anschläge von israelischen Siedlern im Vergleich zum Jahr 2010 um mehr als 50 Prozent gestiegen, im Vergleich zum Jahr 2009 sogar um 160 Prozent. Die Täter müssen faktisch keine Strafverfolgung fürchten. Laut der israelischen Menschenrechtsorganisation »Yesh Din« kamen zwischen 2005 und 2010 über 90 Prozent der Fälle von Siedlergewalt nicht zur Anklage.
Dabei beschränken sich die Verbrechen der Siedler nicht nur auf das Schänden von Moscheen. Es vergeht kaum ein Tag ohne Siedlergewalt. Menschen werden beschimpft, bespuckt, belästigt und mit Steinen beworfen, Privatfahrzeuge werden demoliert und Landwirte daran gehindert, ihr Land zu betreten. Weiteres beliebtes Ziel sind palästinensische Olivenbäume, von deren Ernte das Einkommen von Tausenden palästinensischen Familien abhängt. Allein im September dieses Jahres wurden nach Angaben der Vereinten Nationen circa 7.500 Olivenbäume zerstört. Insgesamt schätzt Oxfam die Verluste für dieses Jahr bislang auf über eine halbe Million US-Dollar.
»Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wir waren geschockt«
Die israelische Armee sieht die fanatischen Siedler im Westjordanland zunehmend als größere Bedrohung als die Palästinenser. So sagte ein Zugführer der IDF, der zuletzt in den Bergen südlich von Hebron am Außenposten Mitzpeh Eshtamoa stationiert war, der israelischen Tageszeitung Haaretz: »Wir standen als Puffer zwischen palästinensischen Schäfern und israelischen Siedlern. Die Siedler fingen an, sich aufzuregen und uns übel zu beschimpfen. Wir wussten nicht, was wir tun sollten, wir waren geschockt. Wir dachten, dass Problem würden die Palästinenser sein, aber das Problem waren die Juden.«
Die palästinensische Führung reagierte auf die Anschläge mit scharfer Kritik. Nach eigenen Angaben wolle sie die Eskalation israelischer Siedlergewalt auf dem internationalen diplomatischen Parkett zur Sprache bringen. Geplant sei, alle Fälle von Siedlergewalt vor dem UN-Sicherheitsrat zu präsentieren. Des Weiteren sollten die Unterzeichner der Genfer Konvention angerufen werden, die Anschläge zu untersuchen. »Dies sind keine isolierten Ereignisse, sondern sie passen vielmehr in ein langjähriges Muster von Siedlerextremismus und Terrorisierung der Palästinenser sowie ihrer heiligen Stätten«, konstatierte Hanan Ashrawi, palästinensische Abgeordnete und Mitglied des Exekutivkomitees der PLO. Das palästinensische Kabinett unter dem Vorsitz von Premierminister Salam Fayyad verurteilte in seiner wöchentlichen Sitzung das Verhalten der israelischen Regierung und kritisierte sowohl deren Sprachlosigkeit als auch die Straflosigkeit, die die Täter in Israel erfahren.
Trotz der offiziellen Verurteilung der Siedlergewalt, kann die israelische Regierung nur schwerlich verneinen, dass die aktuellen Vorfälle maßgeblich Resultat ihrer eigenen Siedlungspolitik sind. Die aktuelle Regierung unter Netanjahu und seiner rechts-konservativen Partei Likud unterstützt seit Jahren aktiv den Bau neuer Siedlungen und deren infrastrukturelle Versorgung. Erst in der letzten Woche bewilligte die israelische Regierung 1028 neue Wohneinheiten in Ostjerusalem und Bethlehem. Der fortschreitende Siedlungsbau fragmentiert das Westjordanland zunehmend und macht eine Zwei-Staaten-Lösung somit immer unwahrscheinlicher. Dieses Vorgehen nicht als gezielte Politikstrategie zu interpretieren, fällt gerade im Angesicht der politischen Entwicklungen der letzten Monate nicht leicht.
An den Reaktionen auf die Anschläge der vergangenen Woche lässt sich ablesen, dass Terrorismus nach wie vor eine umkämpfte Umschreibung für politisch motivierte Gewalt bleibt. Dabei liegt es in der Macht exklusiver politischer Eliten zu entscheiden, welche Ereignisse das Label »Terror« verdienen und welche nicht. In Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten liegt die Definitionsmacht nach wie vor in den Händen der Herren des Landes.