Der Arabische Frühling hat im Jahr 2011 autokratische Herrschaftssysteme herausgefordert, destabilisiert und in einigen Fällen gestürzt. Eine neue politische Ordnung im Nahen Osten und damit eine Neuordnung des regionalen Mächtegleichgewichts sind zwangsläufig. Dadurch werden auch diejenigen politischen Akteure zu einer Neujustierung ihrer Bündnispolitik gezwungen, die nicht direkt von der grenzüberschreitenden Protestbewegung herausgefordert werden. Das betrifft nicht zuletzt einen zentralen Akteur des Nahostkonflikts: die Hamas.
Seitdem die Proteste auch Syrien erfasst haben und das Assad-Regime ihnen mit einer kompromisslosen Gewaltstrategie begegnet, befindet sich die Hamas in einem Dilemma. Sie will einerseits nicht mit der brutalen Niederschlagung friedlicher Proteste in Zusammenhang gebracht werden, weil das ihren Anspruch, eine Volksbewegung zu repräsentieren, konterkarieren würde. Zudem schadete es ihrer Glaubwürdigkeit, wenn sie sich in dieser Phase der Gewalteskalation weiterhin gegen die oppositionellen syrischen Muslimbrüder stellen würde, die eigentlich ihre Schwesterorganisation sind. Andererseits ist aber auch eine Aufkündigung der Partnerschaft mit der syrischen Führung mit erheblichen Risiken und Verlusten verbunden.
Solange sich der Arabische Frühling noch auf nordafrikanische Staaten beschränkt hatte, zeigte sich die Hamas solidarisch mit den Protestierenden. Im von ihr regierten Gazastreifen organisierte die Hamas sogar anti-Gaddafi Demonstrationen. Doch als auch das syrische Regime von der eigenen Bevölkerung unter Druck gesetzt wurde, wurde es still um die Hamas. Die syrische Führung ist ein langjähriger Verbündeter und der einzige arabische Staat der die Hamas allumfassend unterstützt und ihrer Exilführung seit 1999 ein sicheres Domizil bietet. Beide Akteure stehen zusammen mit dem Iran und der schiitisch-libanesischen Hisbollah in der so genannten Achse des Widerstands, die sich als Allianz gegen Israel sowie gegen pro-westliche Staaten der Region formiert hat. Diese Allianz gerät durch die aktuellen Ereignisse unter Druck.
Während sich die Hisbollah uneingeschränkt solidarisch mit dem Assad-Regime zeigt und ihr hauseigener Nachrichtensender Al-Manar fortdauernd das Narrativ des syrischen Regimes verbreitet – danach versuchen vom Ausland unterstützte Terroristen, das vom syrischen Volk getragene Regime zu stürzen und das Land ins Chaos zu treiben – beruft sich die Hamas auf das Neutralitätsgebot und schweigt. Die bemerkenswerte Passivität der „Islamischen Widerstandsbewegung“ ist zum einen damit zu erklären, dass ihre bisherige Allianz mit dem syrischen Regime rein strategischer Natur ist. Sie basiert weder auf einer geteilten politischen Ideologie noch auf einer gemeinsamen konfessionellen Identität. Zum zweiten fällt der Hamas eine Distanzierung von Syrien auch deshalb leichter als der Hisbollah, weil sie ihre alten Kontakte zu den arabischen Monarchien am Golf nie abgebrochen hat und somit über potentielle alternative Schutzmächte verfügt. Selbst Saudi-Arabien hat die Hamas ungeachtet ihres Bündnisses mit Syrien und Iran nie zum Gegner erklärt – sie galt weiterhin als potentieller Partner im sunnitisch-schiitische Regionalkonflikt. Gelänge es Riad, die Hamas in der gegenwärtigen Situation stärker ans eigene Lager zu binden, würde Syrien – und damit Irans engster Verbündeter – zusätzlich isoliert. Der erstarkende iranische Einfluss im Irak ließe sich aus Sicht der arabischen Golfstaaten so neutralisieren. Die Berichte über den Unmut syrischer Führer wegen der fehlenden Solidarität der Hamas haben das bilaterale Verhältnis schon jetzt stark belastet. Auch scheinen viele Hamas-Kader das Land bereits verlassen zu haben.
Für das syrische Regime ist der sich abzeichnende Bruch mit der Hamas mit noch größeren Risiken verbunden. Damaskus würde dann nicht mehr auf die Solidarität der palästinensischen Flüchtlingsgemeinschaft im Land bauen können, die immerhin eine halbe Million Menschen umfasst. Bislang erfüllte die Hamas für Syrien die Funktion, die palästinensische Loyalität zum syrischen Regime aufrechtzuerhalten. Da die Fatah-Organisation in Syrien nicht geduldet wird, konnte die Hamas praktisch konkurrenzlos ihrem politischen Führungsanspruch im palästinensischen Milieu Syriens gerecht werden. Wie auch kleinere pro-syrische palästinensische Akteure konnte die Hamas ein Netzwerk sozialer und religiöser Dienste aufbauen, eigene Zeitschriften publizieren und politische Veranstaltungen und Demonstrationen organisieren – Privilegien, von denen unabhängige syrische Parteien nur träumen können. Diese Privilegien stehen für die Hamas im Falle einer radikalen Wende ihrer Syrienpolitik auf dem Spiel.
Priorität hat gegenwärtig jedoch die Frage nach einem alternativen Standort für die Exilführung um Khaled Mishaal, dem Chef des Politbüros der Hamas. Ein Umzug in den von der Hamas regierten Gazastreifen gilt weiterhin als zu riskant, weil dort ein effektiver Schutz vor gezielten israelischen Angriffen nicht gegeben ist. Jordanien, von wo aus die Hamas-Kader 1999 auf Anweisung des jordanischen Königs Abdullah II verbannt wurden, könnte durch eine Aufnahme der Hamas-Führer zwar seine politische Rolle in der Region stärken und oppositionelle Kräfte im Land besänftigen. Von Bedeutung ist dabei auch, dass die meisten Exilführer die jordanische Staatsbürgerschaft tragen. Jedoch hat sich die jordanische Monarchie noch nicht zu einem Angebot an die Hamas durchringen können. Um die lukrativen Beziehungen Jordaniens zu den USA nicht zu gefährden, ist eine entsprechende Entscheidung ohne amerikanische Unterstützung nicht zu erwarten.
Das an den Gazastreifen angrenzende Ägypten bietet aus geostrategischer Sicht die meisten Vorzüge als Standort der Exilführung, jedoch befindet sich das zurzeit vom ägyptischen Militärrat regierte Land noch immer in einer prekären Übergangsphase. Bis eine legitimierte Zivilgerierung an der Macht ist, fällt Ägypten wohl als Standort für die Hamas aus. Gleichwohl dürfte sich mittelfristig die Lage in Ägypten zu Gunsten der Hamas entwickeln, da sowohl die Islamisten als auch linke Kräfte die bisherige Israel- und Palästinenserpolitik Ägyptens scharf kritisieren. Sie setzen sich für ein Ende der Blockade des Gazastreifens und für eine Anerkennung der dortigen Hamas-Regierung ein.
Die häufig in den Medien verbreiteten Gerüchte, die Hamas würde in Katar ihr Hauptquartier errichten, könnte als Übergangslösung durchaus realistisch und sinnvoll sein. Katar beheimatete bereits den „spirituellen Führer“ der internationalen Muslimbruderschaft Yousef al-Qaradawi, bis dieser 2011 in Folge der Revolution in Ägypten zurück in seine ägyptische Heimat kehrte. Qaradawi gilt als einer der einflussreichsten islamischen Gelehrten und übt auch auf die Hamas-Führung großen Einfluss aus. Er könnte die Details eines Hamas-Aufenthalts in Katar vermitteln und in Kairo zugleich eine spätere Übersiedlung nach Ägypten vorbereiten. Brisant ist, dass das syrische Regime Qaradawi für religiös motivierte Gewalteskalationen im Land verantwortlich macht. Die Hamas-Führung könnte in Katar das Ende der ägyptischen Übergangsphase abwarten und währenddessen ihre Beziehungen zu den Golfstaaten konsolidieren.
Zwar ist die notwendig gewordenen Neuausrichtung der Hamas mit Risiken und Ungewissheiten verbunden, aber generell läuft die Zeit zugunsten der Hamas. Islamisten verschiedener Couleur scheinen als Gewinner des Arabischen Frühlings hervorzugehen; Ergebnisse erster freier Wahlrunden in Tunesien und Ägypten lassen keinen anderen Schluss zu. Über kurz oder lang wird auch die Hamas von der steigenden Zahl potentieller Verbündeter profitieren. Als strategisch handelnder Akteur kann sich die Hamas nicht mehr gegen die syrischen Muslimbrüder stellen bzw. sich „neutral“ verhalten. Folgt die Hamas konsequent einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung, dann ist das Ende der strategischen Partnerschaft mit Syrien besiegelt.