07.01.2012
Algerien im Arabischen Frühling: Keine Experimente
Ein Gastbeitrag von Sofian Philip Naceur Die gesamte arabische Welt ist mittlerweile vom politischen Frühling erfasst worden. Selbst das relativ stabil gebliebene Königreich Marokko hat gegenüber seiner Bevölkerung Zugeständnisse gemacht, die Verfassung liberalisiert und jüngst nach den Parlamentswahlen im November die gemäßigten Islamisten, die als stärkste Kraft aus dem Urnengang hervor gegangen sind, mit der Regierungsbildung beauftragt. Ob der historischen, politischen und wirtschaftlichen Sonderrolle blieb es einzig in Algerien im Zuge der Arabellion weitestgehend ruhig. Ende Dezember kündigten der algerische Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika und sein Ministerpräsident Ahmed Ouyahia an, im Frühjahr 2012 Parlamentswahlen abhalten zu wollen, regulär terminiert und nicht vorgezogen wie in Marokko.

Algier pflegt den Schein es gäbe keine gesellschaftlichen Spannungen, die mittels vorgezogener Wahlen kanalisiert werden müssten. Bislang hat das Regime den arabischen Frühling weitgehend unbeschadet überstanden. Die Parlamentswahlen könnten jedoch der Dynamik der Arabelion auch in Algerien neuen Auftrieb verleihen. Die Ankündigung des Wahltermins ist wie in Algerien üblich flankiert von zahlreichen Versprechungen, die soziale und ökonomische Lage der Bevölkerung in Form von Infrastrukturprojekten und Bildungsinvestitionen zu verbessern.

Angesichts der Wahlerfolge der Islamisten in Marokko und Tunesien stellt sich zudem die Frage nach dem Potential der islamistischen Parteien in Algerien bzw. der Strategien des Regimes diese Strömungen in die Institutionen einzubinden. Während seit dem Sturz des langjährigen tunesischen Diktators Ben Ali Anfang 2011 die gesamte arabische Welt in den Strudel destabilisierender Protestbewegungen gezogen wurde, konnte das Regime in Algerien seinen Status quo verteidigen, Anzeichen einer sich organisierenden Protestkultur im Keime ersticken und nach innen wie nach außen den Anschein der Stabilität und der Normalität aufrecht erhalten.

Das Regime sitzt fest im Sattel

Die Ausgangslage für Algerien war günstig, schließlich durchlief das Land Ende der 1980er Jahre bereits seinen demokratischen Frühling, allerdings mit verhängnisvollen Folgen. Der Sieg der Islamisten und der darauf folgende Militärputsch drängten das Land in einen zehn Jahre währenden Bürgerkrieg mit bis zu 200.000 Toten. Die algerische Bevölkerung ist vorsichtig geworden das mächtige Regime mit Forderungen nach Demokratie oder menschenrechtspolitischen Liberalisierungen unter Druck zu setzen, die institutionalisierte Befriedung in Algerien nach den blutigen Jahren hat die Machtverhältnisse im Land gefestigt. Zudem sorgt der hohe Weltmarktpreis für Erdöl und Erdgas für liquide Kassen im Staatsapparat und die Regierung kann regelmäßig hohe Summen in Subventionen oder Bauprojekte pumpen, um den Unmut der Bevölkerung zu besänftigen. Das Regime sitzt auffallend fest im Sattel.

Etwa ein Jahr nach den größten Demonstrationen gegen das Regime in Algerien sollen nun im April 2012 regulär terminierte Parlamentswahlen abgehalten werden. Wie die marokkanische, dem Königshaus nahe stehende Tageszeitung Le Soir kurz vor Weihnachten berichtete, plant Präsident Bouteflika die im April 2011 angekündigte Verfassungsreform erst durch das neue Parlament verabschieden zu lassen. Damals zeichnete sich bereits ab, dass sich die arabische Revolte nicht nur auf Tunesien und Ägypten beschränken würde und zahlreiche Staaten der Region begannen, kosmetische Reformen auf den Weg zu bringen, um die gesellschaftspolitischen Spannungen kanalisieren zu können. Algerien reagierte auf die vergleichsweise schlecht besuchten Proteste im Land mit einer umfassenden Machtdemonstration und mobilisierte für die Zentralkundgebung mit wenigen Tausend Teilnehmern über 30.000 Angehörige von Polizei und Gendarmerie und verwandelte die Hauptstadt in eine regelrechte Festung.

Das Regime blieb sozialpolitisch nicht tatenlos und nahm die angekündigten Subventionskürzungen für Lebensmittel wieder zurück, kündigte umfangreiche Investitionsprogramme im Wohnungsbau an, erlaubte die Gründung einiger kleinerer Parteien und versprach eine Verfassungsrevision. Seither blieb es im Land weitgehend ruhig, abgesehen von bereits seit über zehn Jahren regelmäßig statt findenden lokalen Aufständen gegen einzelne kommunale Einrichtungen und Polizeiwachen.

Trotz Reformen bleibt die FIS verboten

Die regierungsnahe Presse befürchtet zwar auch für das Jahr 2012 andauernde Proteste gegen die Lebensbedingungen im Land und das Regime sowie weitere Streikwellen in bestimmten Branchen, das Regime in Algier hofft dennoch mittels der Umsetzung der Verfassungsreform und der Liberalisierung der Parteiengesetzgebung dem arabischen Frühling im eigenen Land den Wind aus den Segeln nehmen zu können.

Bereits im Frühsommer 2011 wurden durch das algerische Innenministerium vier kleinere Parteien offiziell zugelassen, die Front Islamique du Salut (FIS) bleibt jedoch nach wie vor verboten, politische Betätigung ist ihren führenden Köpfen untersagt. Beide Eminenzen der Partei  - Ali Belhadj und der im Exil in Katar weilende Abassi Madani  - haben diese Entscheidung scharf kritisiert, Madani kündigte prompt an, man werde Algerien vor internationalen Institutionen des Verfassungsbruches verklagen, wie die exiloppositionelle Internetzeitung Le Matin berichtet.

In Algerien sind mehrere religiös ausgerichtete Parteien zugelassen, das Mouvement pour la société pour la paix (MSP) ist seit 1999 an der Regierung beteiligt. Die Einbindung dieser Partei in die algerische Exekutive schien für die Erhaltung des Status quo angesichts des Erdrutschwahlsiegs der FIS bei den Wahlen 1990 und 1991 unumgänglich. Doch mittlerweile sind die Risse in der Regierungskoalition nicht mehr zu kaschieren. Während die ehemalige Einheitspartei Front de Liberation National (FLN) und ihre linke Abspaltung Rassemblement National Démocratique (RND) den Regimes in der Region die Treue hielten – die teils unverfroren direkte Unterstützung Ben Alis in Tunesien und Gaddafis in Libyen steht stellvertretend für die hogra, die Arroganz der Mächtigen – solidarisierte sich die MSP mit ihren Bruderparteien in den Nachbarstaaten und den Protestbewegungen. Zum Jahreswechsel hat die Partei die Koalition verlassen und hofft wohl mit diesem strategischen Schachzug ein besseres Wahlergebnis einfahren zu können oder sich für eventuelle Protestwellen im eigenen Land möglichst regimefern zu positionieren.

Ob der arabische Frühling anno 2012 auch in Algerien ankommen wird hängt nicht zuletzt davon ab, inwiefern oppositionelle Gruppen vor allem jenseits der religiös ausgerichteten Parteien dazu in der Lage sind den Druck der Straße zu institutionalisieren und damit das Regime zu Zugeständnissen oder gar unpopulären Gegenreaktionen zu zwingen. Spielt die Straße vor und nach der Wahl keine nennenswerte Rolle, wird sich das Regime wieder entlang bereits bewährter Linien konsolidieren können.

Milliarden sollen in die Hauptstadt investiert werden

Wie vor jedem Wahlgang in Algerien wird die Bevölkerung im Vorfeld des Urnengangs mit zahlreichen Versprechungen überhäuft, in der Hoffnung die Menschen an die Urnen zu lotsen. Nachdem im Herbst das erste Teilstück der Metro von Algier feierlich eröffnet werden konnte, einem Prestigeprojekt der Regierung zur Verbesserung der katastrophalen Verkehrslage in der Hauptstadt, verkündete der Wali von Algier, Mohamed Kebir Abbou, jüngst umfangreiche Investitionspläne für den Großraum Algier und betonte die Bevölkerung werde in wenigen Jahren stolz sein auf ihre Hauptstadt, berichtete die staatsnahe Tageszeitung El Watan. Abbou spricht von einer Investitionssumme von 200 Milliarden Dinar (etwa 2 Milliarden Euro) mit der der Ausbau der Straßen, die Verschönerung der Verkehrswege, die Renovierung der Strandgebiete um Les Sablettes und der Ausbau der beiden Fußballstadien in Baraki und Douéra voran getrieben werden sollen.

Zudem versprach Abbou zusätzliche Gelder für die Universitäten, eine Ankündigung, die in engem Zusammenhang mit den inzwischen ausufernden Bildungsprotesten im Maghreb zu stehen scheint – vor allem in Marokko gehen seit Monaten arbeitslose Akademiker auf die Straßen und fordern eine binnenorientierte Arbeitsmarktpolitik. Des Weiteren sollen explizit Gelder in die ärmeren Regionen Algiers gepumpt werden. Der Bau eines Schwimmbades in Bab El Oued, einem der zentralen „Volksviertel“ Algiers sowie umfangreiche Zuschüsse für die dringend notwendige Restauration der Kasbah, der historischen Altstadt im Zentrum der Hauptstadt, sollen den Volkszorn über die miserable Arbeitsmarktpolitik des Staates kaschieren und besänftigen. Neben dem Ausbau der Metro wollen die Behörden des Weiteren den Anschein erwecken man werde im Wahljahr 2012 die Verkehrsprobleme der Hauptstadt lösen.

Die algerische Presse berichtet seit der Wahlankündigung fast täglich über neu geplante Infrastrukturprojekte im Straßenbau. „Wir hoffen, die geplanten Projekte gemeinsam bereits im ersten Quartal 2012 lancieren zu können“, zitiert die Tageszeitung El Watan den Wali von Algier Abbou in Bezug auf die Terminierung der angekündigten Investitionen, eine wenig überraschende Wortmeldung aus den Reihen der etablierten und herrschenden politischen Klasse des Landes. Bereits vor den letzten Wahlen zum Parlament sowie dem vergangenen Präsidentschaftswahlgang versuchte das Regime mittels umfangreicher Versprechungen die Menschen zum Wählen zu bewegen, jedoch mit mäßigem Erfolg. Die offizielle Wahlbeteiligung der Parlamentswahlen 2007 betrug lediglich gut 35 Prozent und selbst diese niedrige Zahl dürfte massiv geschönt worden sein.

Der Schein des Parlamentarismus trügt 

Zudem sind die Urnengänge in Algerien alles andere als frei. So dominieren und bestimmen FLN und ihre linke Abspaltung RND das politische Geschehen nach Belieben. Zwar war neben diesen Parteien noch die gemäßigt islamistische MSP an der Regierungskoalition beteiligt, ihr Einfluss blieb jedoch beschränkt. Das Parlament hat zudem nur stark beschnittene Befugnisse. Die teils offene Kritik am Regime seitens der algerischen Trotzkisten sowie des laizistischen Rassemblement pour la Culture et la Démocratie (RCD) täuschen nicht über den trügerischen Charakter des algerischen Parlamentarismus hinweg.

Die einzig authentische Stimme des etablierten algerischen Parteiensystems, die linksgerichtete Front des Forces Socialiste (FFS) von Hossine Ait Ahmed boykottiert seit Jahren die Urnengänge, auch wenn Ministerpräsident Ouayhia jüngst ankündigte, dass die kommende Parlamentswahl von internationalen Wahlbeobachtern aus den Reihen der Arabischen Liga, der Vereinten Nationen, der EU sowie der Afrikanischen Union überwacht werden solle. Wie anhand der derzeitig statt findenden Beobachtermission in Syrien erkennbar ist, bieten derartige Missionen ausländischer oder gar suprastaatlicher Delegationen jedoch Möglichkeiten die vom jeweiligen Regime gewünschten Ergebnisse zu produzieren.

Nach wie vor werden die politischen Geschicke Algeriens vornehmlich durch den FLN gelenkt und der Koloss hat keine Ambitionen dieses Privileg aufzugeben. Sollten wirklich Wahlbeobachter ins Land gelassen werden, wird es die Regierung verstehen, deren Arbeit nach Gutdünken zu beeinflussen. Seit der demokratischen Öffnung des Landes nach den landesweiten Aufständen Ende der 1980er Jahre und dem blutigen Militärputsch Anfang der 1990er Jahre nach dem Wahlsieg der radikal islamistischen FIS dienen Wahlgänge in Algerien weniger einer partizipierenden Einbindung des Volkes in die Entscheidungsstrukturen des Staates als vielmehr dazu, dem Regime einen demokratisch legitimierten Anstrich zu verleihen.

Die Staatsklasse des Landes klammert sich mit allen Mitteln an den Machterhalt und sucht stetig seinen Einfluss und seine privilegierte Stellung mit Hilfe der Erdölrente abzusichern und auszubauen. Der Staat und die führende politische Klasse leben einzig von den Einkünften aus dem Öl- und Gassektor und sind ob der enormen Renteneinkünfte nicht auf einen funktionierenden Arbeitsmarkt angewiesen. Bei gesellschaftlichen Spannungen kann das Regime Rentengelder aus dem Energiesektor in die Wirtschaft pumpen und strebt dementsprechend ständig danach, die Einnahmen aus der Kohlenwasserstoffförderung zu steigern. Solange der Staat nur den Erdöl- und Erdgassektor als lohnende Investitionsmöglichkeit betrachtet und Rent-Seeking- Tendenzen der Dreh- und Angelpunkt jedweder Wirtschaftsentwicklung bleiben, ist ein Aufbruch der verkrusteten politischen und wirtschaftlichen Strukturen Algeriens nicht zu erwarten.

Der Ölpreis sichert die Finanzierung des Regimes

Das Regime konsultiert zudem im Vorfeld der Wahlen seine europäischen Partner. Bouteflika will nicht die gleichen Fehler machen wie andere arabische Staaten im Zuge der Revolten und sich lieber von Beginn an mit den EU-Staaten absprechen. So erwartet das Land eine Delegation britischer Parlamentsabgeordneter sowie den am Wochenende stattfindenden Staatsbesuch des deutschen Außenministers Guido Westerwelle.

Die jüngsten Ankündigungen des algerischen Energieministers Youcef Yousfi, die staatliche algerische Erdölfirma Sonatrach habe Kohlenwasserstofffunde im Norden des Landes gemeldet und der Konzern plane die Errichtung einer neuen Erdölraffinerie in Tiaret, stimmen angesichts der sozioökonomischen Strukturen Algeriens wenig optimistisch für eine wirtschaftspolitische Transformation des Rentierstaates. Die Parlamentswahlen 2012 dürften das Regime erneut bestätigen, auch wenn keiner mehr an den Wahrheitsgehalt der offiziellen Zahlen glauben mag. Dennoch ist ein Ausbruch von massenwirksamen Revolten wie in den anderen arabischen Ländern zumindest zum gegenwärtgien Zeitpunkt nicht zu erwarten.

Das demokratisches Experiment Algeriens vor 20 Jahren hat der Bevölkerung ihre Ohnmacht gegenüber dem übermächtigen Staatsapparat vor Augen geführt und solange der Weltmarktpreis für Rohöl auf einem derart hohen Niveau verbleibt, stehen dem Regime genügend finanzielle Mittel zur Verfügung durch Subventionen oder den Ausbau der Sicherheitsorgane seine privilegierte Stellung abzusichern. Allzu sicher sollte sich das Regime dennoch nicht sein, die Entwicklungen im Maghreb im vergangenen Jahr haben gezeigt wie schnell sich eine nicht mehr zu stoppende Protestdynamik auch in Ländern formieren kann, die über ausreichend finanzielle Mittel verfügen.

Algeriens Chancen auf einen neuerlichen Frühling sind dennoch gering, zu gering ist die innergesellschaftliche Polarisierung, die in Libyen einen ausschlaggebenden Faktor bei der Radikalisierung der Proetste gespielt hat. Die Art und Weise der parlamentarischen und exekutiven Einbindung der algerischen Islamisten dürfte für die Zukunft Algeriens im kommenden Jahr eine Schlüsselrolle spielen.

Sofian Philip Naceur ist diplomierter Politikwissenschaftler und bloggt als Gestiefelter Kater

Alsharq gibt es, weil wir es machen. Schreibe uns gerne, falls Du auch Lust hast, einen Artikel beizusteuern.