07.01.2012
Kommentar: In Marokko ist noch alles möglich
Liebe Leserinnen und Leser,

anders als in Tunesien blieb in Marokko ein politischer Umsturz aus. Allerdings hat sich eine Bewegung gebildet, die sich für politische Reformen und mehr Demokratie einsetzt: Die Bewegung des 20. Februar, benannt nach dem Tag, an dem Tausende Marokkaner auf die Straßen gingen und auf friedliche Weise grundlegende Freiheiten einforderten. Es folgt ein Bericht eines Aktivisten der Bewegung des 20. Februar.  

Von Mehdi Bouchoua

25. Dezember 2011, Rabat.
Um 16 Uhr befindet sich bereits ein Dutzend junger Menschen der Bewegung des 20. Februar auf dem Bab Al Ahad-Platz und bereitet die erste Demonstration vor, seitdem die Islamisten von Al Adl Wal Ihsan (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit) - die größte politische Strömung Marokkos - der Bewegung des 20. Februar ihre Unterstützung entzogen haben.

Alle sind besorgt, denn es könnte das Ende der Bewegung bedeuten, die am 20. Februar 2011 als Reaktion auf den Arabischen Frühling entstanden ist und die den Marokkanern Hoffnung auf einen wahren Wandel und auf ein Ende der Despotie sowie der Korruption gegeben hat.

Diese Bewegung hat sich von Beginn an für tiefgreifende Reformen, und nicht für den Sturz der Monarchie ausgesprochen.

Vielmehr zielt sie auf die Errichtung einer parlamentarischen Monarchie ab, bei der alle Gewalten vom Volk ausgehen.


Das marokkanische Regime ist ein semiautoritäres System, das - je nachdem - politische Gegner verprügeln lässt, oder wenn es opportun erscheint Zugeständnisse macht. In den letzten zehn Monaten schwankte es zwischen dieser doppelzüngigen Strategie von Zuckerbrot und Peitsche hin und her, um die Protestbewegung so gut es geht zu neutralisieren und nicht das Los der großen arabischen Diktatoren zu erleiden.

Was wurde bislang erreicht?

Auf der politischen Ebene wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die dem Parlament mehr Macht verleiht und Fortschritte im Bereich der Einhaltung der Menschenrechte und der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen mit sich bringt. Allerdings wird auch die neue Verfassung von der Opposition abgelehnt, da es sich um eine von oben „bewilligte“ Verfassung handelt, die nicht vom Volk ausging und bei der der Großteil der Macht weiterhin in den Händen des Königs bleibt.
Außerdem fanden vorgezogene Wahlen statt, die den Islamisten der PJD (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung) zum ersten Mal erlaubten, 107 Sitze im Parlament zu gewinnen, eine Regierung zu bilden und diese zu leiten.

Auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene wurden Gehaltserhöhungen für Angestellte des öffentlichen Dienstes verfügt, einige Arbeitslose wurden für den öffentlichen Dienst rekrutiert und Jobversprechen an weitere Gruppen gegeben.

Das alles ist den Opfern junger Aktivisten zu verdanken, die bereits neun Märtyrer in ihren Reihen zählen: Fünf durch Selbstverbrennung im Kontext der Ausschreitungen des 20. Februar, eine junge alleinstehende Mutter, die sich am 21. Februar nach dem Beispiel Mohammed Bouazizis ebenfalls das Leben durch Selbstverbrennung nahm, zwei Aktivisten, die von den Sicherheitskräften zu Tode geprügelt wurden und außerdem ein Aktivist, der durch einen Regimeanhänger erdrosselt wurde. Nicht zuletzt müssen auch politische und Gewissensgefangene genannt werden, wobei Mouad Belghouate alias HAKED (der Empörte), Rapper und Aktivist, seit drei Monaten ohne Gerichtsverfahren inhaftiert ist ….

16:10 Uhr: Die Demonstration beginnt, ca. Hundert Menschen sind schon da, singen Loblieder für die Märtyrer und fordern eine wahre Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Gleichheit, während weitere Demonstranten dazu stoßen.

16:30 Uhr: Der Demonstrationszug bewegt sich in Richtung Parlament, wir sind ca. 3000 Demonstranten. Die jungen Menschen sind froh, niemand hatte mit so vielen gerechnet, nachdem die Islamisten abgesprungen waren. Noch besser, jetzt können wir Slogans für die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen singen, wir können auf der Straße tanzen, uns in den Arm nehmen, ohne den Groll islamistischer Demonstranten auf uns zu ziehen.

Gesichter, die aufgrund der Teilnahme der Islamisten die Bewegung verlassen hatten, sind wiederaufgetaucht, Feministinnen und linke Intellektuelle sind präsent und der Hauptslogan aller Teilnehmer lautet «MAMFAKINCH! » (Wir geben nicht auf!).

18 Uhr: Ende der Demonstration, Abschlussrede eines Jungen aus unserer Bewegung. Unser Kampf für Gleichheit, Freiheit und soziale Gerechtigkeit geht weiter. Unsere Strategie ist klar definiert: den Druck der Straße aufzubauen und so viele Bürger wie möglich zu mobilisieren, es lebe das Volk!

19 Uhr: Die jungen Menschen finden sich in Internetcafés ein und versuchen Informationen über die Demonstrationen herauszufinden, die parallel in 61 anderen Städten des Königreiches stattgefunden haben. – Von überall liest man gute Nachrichten: Casablanca 10.000 Demonstranten, Tanger 30.000….

In Marokko ist noch alles möglich, die Bewegung 20. Februar geht aus jeder Krise gestärkt heraus.

Sicher, es wird weniger mobilisiert als früher, die Marokkaner warten darauf, welche Reformen ihnen die islamistische Regierung bieten kann und die anderen Islamisten aus der Opposition haben sich aus Solidarität mit ihren regierenden Brüdern aus der Bewegung zurückgezogen.


Es gibt gleichwohl schlechte Entwicklungen:

Der König hat ein Schattenkabinett errichtet und von den Marokkanern verhasste Symbolfiguren für  Korruption wie Fouad Ali Lhimma als Berater eingesetzt. Nicht zuletzt hat er entgegen der neuen Verfassung 29 Botschafter ernannt, da die neue Konstitution diese Aufgabe für den Premierminister vorsieht. In der neuen Regierungskoalition soll außerdem die Istiqlal-Partei vertreten sein, die mehrheitlich aus korrupten Politikern besteht, welche die Marokkaner anwidern.

Schließlich steht eine Wirtschaftskrise bevor, da über 70% der Handelsgeschäfte Marokkos mit der Europäischen Union getätigt werden, welche derzeit eine große Krise durchläuft. Der Grad an politischem Bewusstsein der Marokkaner nimmt dank der Protestbewegung stetig zu. Überall in der Peripherie Marokkos entstehen spontane Bewegungen, die korporatistische Forderungen wie das Recht auf eine Wohnung, vereinen.

Das Bild Marokkos als Ausnahme in der arabischen Welt, das die Autoritäten mit Hilfe von katarischen und europäischen Medien von sich zeichnen möchten, wird nicht lange halten können… alles ist noch möglich!

Übersetzung aus dem Französischen von Naoual Belakhdar.
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