Wie es dazu kam, dass We'am 17 Jahre vor Haftende entlassen wurde und in den Golan zurückkehrte. Ein Gastbeitrag von Mona Serdani.
Am 25. Juni 2006 kapern Mitglieder der Hamas einen Panzer, entführen den Soldaten Gilad Schalit und verschleppen ihn nach Gaza. Zwei andere Soldaten werden erschossen. Im Austausch für Schalit verlangen sie die Freilassung von über 1000 politischen Häftlingen. Die Verhandlungen dauern über fünf Jahre, bis es am 18. Oktober 2011 zum Austausch kommt. Aber wer waren die Häftlinge? Eine Frage, die bisher in den Medien kaum beantwortet wurde.
Fünf der entlassenen Häftlinge stammen nicht aus der Westbank, Gaza oder Ost-Jerusalem. In der Dichotomie des Nahost-Konflikts geht meist unter, dass nicht alle entlassenen Häftlinge Palästinenser sind.
Einer von ihnen ist ein Syrer aus Buqata, einem syrischen Dorf im Golan. Tatsächlich verlangte die Hamas die Freilassung aller syrischen Häftlinge – vier an der Zahl – aber die israelischen Verhandlungspartner verweigerten dies und stimmten der Freilassung eines Syrers zu, den die Hamas auswählen durfte: We'am Amasha.
Königlicher Empfang im Heimatdorf
Buqata, ein 8000-Seelendorf im Golan. Kleine Straßen schlängeln sich durch den bergigen Ort, in dem an diesem 22. Oktober auf den ersten Blick nichts ungewöhnlich scheint. Bis man an einem mit syrischen Flaggen und Bildern eines jungen Mannes geschmückten Haus vorbeikommt. Vor dem Haus steht ein Festzelt, in dem sich einige Menschen tummeln. Dazwischen sitzt ein junger Mann, dessen Poster an den Wänden des Hauses hängen. Jeder Gast, der das Zelt betritt, eilt zu ihm und begrüßt ihn euphorisch. Der junge Mann macht den Eindruck, mit der Situation gelassen umzugehen. Er heißt We'am Amasha und ist ein ehemaliger Häftling, der drei Tage zuvor im Zuge des Gefangenenaustausches mit Israel entlassen wurde. Er scheint der Begrüßungszeremonie nicht müde zu werden. Er lächelt allen Neuankömmlingen höflich zu, schüttelt ihre Hände und umarmt sie.
Trotz seines jungen Alters hat er bereits ein bewegtes Leben hinter sich: Mit 16 Jahren war er Teil einer zivilen Bewegung, die sich für die Rückgabe des Golan an Syrien einsetzte. Im Zuge dessen wurde er festgenommen und zu sechs Monaten Haft verurteilt. Wieder in Freiheit, entschloss er sich andere Wege des Widerstandes zu gehen. Er war nun überzeugt, dass nur durch Militarisierung ein Ende der Besatzung zu erreichen sei. Daher lernte er, wie man Landminen aufheben kann, ohne dass sie explodieren. Landminen sind keine Mangelware im Golan. Ganze Landstriche sind vermint. So fing We'am an, sich mit einer Gruppe Gleichgesinnter durch das Sammeln von Landminen zu militarisieren. Nach einigen Aktionen ging es dann doch einmal schief und eine der Minen explodierte und verletzte viele aus der Gruppe, sein Freund verlor seinen Fuß und sie wurden alle verhaftet. We'am wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Zu diesem Zeitpunkt war er 18 Jahre alt.
We'am Amasha mit seiner Mutter.
Im Gefängnis schließt er sich einer Gruppe an, die einen israelischen Soldaten zu entführen plant, um im Gegenzug politische Häftlinge frei zu pressen. Der Plan fliegt auf und We'am wird zu weiteren 25 Jahren verurteilt. In den nächsten Jahren in Haft verändert sich seine Gesinnung. Heute, sagt er, glaube er nicht mehr an den militärischen Widerstand. Auch Soldaten würde er nicht mehr entführen wollen. Er wirkt sehr gelassen und ausgeglichen, dass man ihm kaum glauben mag, dass er fast 13 Jahre im Gefängnis gewesen war. Während seiner Haftzeit habe er begonnen, Politikwissenschaften zu studieren, dies aber nicht fortsetzen können, weil die israelische Regierung Weiterbildungsprogramme im letzten Jahr gestrichen habe, um die Hamas in den Verhandlungen im Gefangenenaustausch weiter unter Druck zu setzen.
Auch sei der Kontakt zur Familie verboten worden. Vorher, so We'am, durfte er alle zwei Wochen seine Familie ersten Grades, durch eine Glasscheibe getrennt, für 20 Minuten treffen. Auch dies sei im letzten Jahr seiner Haft nicht mehr erlaubt gewesen. Er und einige seiner Mithäftlinge wären deswegen in den Hungerstreik getreten. Allerdings sei diese Benachteiligung für ihn nicht der einzige Grund für den Hungerstreik gewesen: »Ich wollte meine Solidarität mit den syrischen Demonstranten zeigen, die gegen das Baath-Regime kämpfen. In meiner öffentlichen Erklärung zum Hungerstreik habe ich die Gewalt, die das syrische Regime gegen Demonstranten anwendet, verurteilt.«
Während er sich im Hungerstreik befand, erfuhr er durch Zufall, dass er einer der Gefangenen sei, die ausgetauscht werden sollen. Die Gefühle, die er in diesem Augenblick gehabt habe, seien sehr komplex gewesen. »Auf der persönlichen Ebene habe ich unendliches Glück verspürt und es erscheint mir wie ein Traum. Aber auf der anderen Seite sind meine Gedanken mit den verbliebenen Häftlingen, die unter den harten Konditionen leiden. Die israelische Regierung wird nun eine neue Ära beschreiten, in der sie viele politische Häftlinge durch Isolationshaft und andere Formen der Folter tötet. Jetzt, da ich in Freiheit bin, wird eines meiner Ziele sein, die Welt über diese Zustände wissen zu lassen und ein öffentliches Bewusstsein über das Leben in israelischen Gefängnissen zu schaffen.«
Willkommen im größeren Gefängnis
We'am wurde am Donnerstag, dem 18. Oktober 2011, entlassen. Am Samstag, dem 15. Oktober wurden, alle Gefangenen, die ausgetauscht werden sollten, in einem Gefängnis gesammelt. Dort erfuhren sie von offizieller Seite, dass sie freigelassen werden. We'am wurde 17 Jahre vorzeitig entlassen. Er ist heute 30 Jahre alt. Auf die Frage, was der Grund gewesen sei, warum gerade er ausgewählt wurde, vermutet er, dass zum einen Mitglieder der Hamas bei der damals geplanten Entführung des Soldaten, für die er verurteilt wurde, involviert waren. Zum anderen sollte ein Gefangener aus dem Golan frei gelassen werden – und er wäre derjenige gewesen, der die längste Haftstrafe vor sich hatte.
Als er im Golan ankam wurde er von der syrischen Bevölkerung heroisch empfangen und durch die Dörfer getragen. Zuvor kam es zu einem Streit zwischen Pro-Assad Vertretern
und der Familie Amasha. Diese weigerte sich, Assads Bilder während der Feierlichkeiten zu zeigen. Das führte dazu, dass besonders die religiösen Autoritäten der Zeremonie fernblieben und der Menschenzug spontan zu einer Anti-Assad Demonstration wurde.
We'ams Kampf für ein freies Syrien
In der syrischen Protestwelle wird We'am als Star gehandelt. Denn die syrische Regierung sieht sich in der Rolle der letzten Festung gegen Israel und hat dies zur tragenden Staatsideologie gemacht, sie wollte We'am als Volkshelden feiern lassen. Seine Abfuhr an die Regierung bedeutet einen weiteren Gesichtsverlust für die Autoritäten in Syrien. We'am wäre ein willkommenes Werkzeug zu Gunsten der Baath gegen Israel und vor allem gegen die Opposition im eigenen Lande gewesen. Syrien, das sich als einzige arabische Instanz versteht, die sich immer noch gegen Israel stellt, hätte den syrischen We'am als Propagandamittel dringend gebrauchen können. Für We'am wäre es auch bequemer gewesen, diese Rolle für sich anzunehmen und sich auf die Seite der Regierung zu stellen.
Doch We'am entschied sich anders: »In Zukunft werde ich nicht davon ablassen, mich am Kampf gegen das Assad-Regime zu beteiligen. Meine ganze Solidarität gilt der syrischen Bevölkerung und ihrem Bestreben nach Freiheit.« In den syrischen Medien wurde We'ams Freilassung kaum Beachtung geschenkt. Jedoch wurde er von den Protestierenden auf den Straßen Syriens die gesamte Woche nach seiner Freilassung gefeiert. Überall wurden Parolen wie »Willkommen We'am (!) im größeren Gefängnis« oder »We'am Amasha, Gott schütze dich!« in den Protestzügen gerufen.
We'am möchte sich in Zukunft für die syrische Anti-Assad Bewegung einsetzen und die Öffentlichkeit auf die Zustände dort aufmerksam machen. »Wenn ich die Nachrichten sehe und wie dort das Thema Schalit behandelt wird, finde ich das sehr tragisch und gleichzeitig irgendwie komisch. Aber ich will nicht zynisch werden. Ich hoffe, dass unsere offiziellen Vertreter eines Tages genauso viel Aufmerksamkeit ihren Leuten schenken, wie es die Israelis mit den eigenen tun. Es ist offensichtlich, dass unsere Führer uns niemals genug respektiert haben.«