Nach dem Antrag der PLO in New York schrieben und redeten alle über einen möglichen Staat Palästina. Nur hörten wenige, was die Palästinenser selbst dazu zu sagen haben. Eine Analyse aus dem Westjordanland von Anton Lenz.
Bereits vor Monaten diskutierte die Welt die Initiative von Präsident Mahmud Abbas zur Anerkennung eines palästinensischen Staates durch die UN. Während einige Analysten die Dynamik priesen, die den festgefahrenen Konflikt gepackt habe, reagierten andere mit scharfer Kritik. So hatte Bundeskanzlerin Merkel im Frühjahr das palästinensische Vorhaben als »unilateralen« Schritt verurteilt, Israels Ministerpräsident Netanjahu mit »verheerenden Konsequenzen« gedroht und US-Präsident Obama verkündet, die Vereinigten Staaten würden im Falle einer Abstimmung im Sicherheitsrat definitiv ihr Veto einlegen.
Unter Palästinensern selbst blieb es lange Zeit jedoch verdächtig still bezüglich der Initiative. Ein Rückblick auf die jüngsten Stimmungsschwankungen der Palästinenser dient nicht nur der Einschätzung der so genannten »September-Initiative«, sondern offenbart zugleich grundlegende Problemfelder im israelisch-palästinensischen Verhältnis.
Stagnation, Desinteresse, Misstrauen
Vom angeblichen Schwung, der den jahrzehntealten Konflikt erreicht haben sollte, war in Palästina in den letzten Monaten kaum etwas zu spüren. Noch im August reagierten Palästinenser häufig eher verwundert auf die angebliche Aufbruchstimmung auf der einen und die harschen Reaktionen auf der anderen Seite, die ihnen aus der ganzen Welt entgegen gebracht wurden.
Für viele handelte es sich bei der Initiative lediglich um ein politisches Schauspiel, das keinerlei Auswirkungen auf die Situation vor Ort haben würde: trotz einer Anerkennung durch die UN würde die militärische Besatzung der palästinensischen Gebiete weiter fortbestehen, und die vom Staat Israel geschaffenen Fakten könnten nicht rückgängig gemacht werden. Zudem seien bereits etliche Beschlüsse der internationalen Gemeinschaft wirkungslos geblieben, wie das im Jahr 1948 in einer UN-Resolution festgeschriebene »Recht auf Rückkehr« für die palästinensischen Flüchtlinge oder zuletzt die Verurteilung des Mauerverlaufs sowohl durch die UN-Vollversammlung als auch durch den Internationalen Gerichtshof. Kurz: die Stimmungslage unter Palästinensern zeichnete sich bezüglich des UN-Plans vor allem durch Desinteresse und Gleichgültigkeit aus.
Die Teilnahmslosigkeit vieler Palästinenser verwies dabei aber nicht nur auf die scheinbare Realitätsferne der Initiative oder auf die mangelnde Informationspolitik der palästinensischen Führungsriege. Dass die Leidenschaft unter den Palästinensern zunächst nicht aufkommen wollte, hatte einen tiefer gehenden Grund: das wachsende Misstrauen gegenüber der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA).
Schlechte Noten für die PA
Deren Ansehen hatte nicht zuletzt durch die Veröffentlichung der sogenannten »Palestine Papers« durch Al Jazeera und The Guardian stark gelitten. Die über 1000 Seiten umfassenden internen Dokumente aus den Verhandlungen zwischen Israelis und Palästinensern hätten »die tragischen Folgen eines sehr ungerechten und politisch-destruktiven Prozesses« veranschaulicht, schrieb Ziyad Clot im vergangenen Mai. Er trat 2008 nach nur einem Jahr als palästinensischer Verhandlungsberater zurück, da eine langfristige Lösung des Konflikts für ihn nicht näher zu rücken schien.
Ganz im Gegenteil. So hatte beispielsweise die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem mehrfach angemahnt, dass die Eingliederung des Westjordanlands in den Staat Israel kontinuierlich voran geschritten sei, die Abtrennung Ostjerusalems von den Autonomiegebieten durch israelische Siedlungen, Mauer und Checkpoints finalisiert wurde. B’Tselem beklagt, dass das nicht nur den palästinensischen Flüchtlingen so wichtige »Recht auf Rückkehr« beinahe aus den internationalen Debatten verschwunden und die Situation in Gaza katastrophaler denn je sei. Kurzum: die wesentlichen Anliegen der Palästinenser seien trotz jahrelanger Verhandlungen unerfüllt geblieben.
Diese Ernüchterung über den sogenannten »Friedensprozess« hatte somit auch die erst im Zuge der Verhandlungen geschaffene Autonomiebehörde diskreditiert. So war der Schritt, zur UN zu gehen, für einige Palästinenser nicht der erwartete Bruch mit den Oslo-Abkommen, als der er teilweise außerhalb Palästinas gehandelt wurde. Schließlich seien die palästinensischen Wortführer eben jene, die mit den Großmächten und Israel zusammen am Verhandlungstisch gesessen hätten, mehr noch, sie sind in den Augen vieler Palästinenser die Haupt- und auch die einzigen Profiteure der Verhandlungen.
Die Debatte erreicht die Palästinenser, überall
Ende August änderte sich die Stimmung schließlich dennoch - die Debatte um Implikationen und mögliche Folgen einer Anerkennung Palästinas durch die UN erreichte die palästinensische Öffentlichkeit. Doch anstelle für Zustimmung und Optimismus zu sorgen, wurden zunächst mehr Fragen aufgeworfen, als dass Antworten geliefert werden konnten. Im Zentrum der teils sehr rechtlich und abstrakt geführten Diskussion stand dabei ein Gutachten von Guy Goodwin-Gill und die von ihm aufgeworfene Frage, welchen tatsächlichen Gewinn die Initiative mit sich bringen würde.
Während die Befürworter des UN-Plans damit argumentierten, dass Israel international delegitimiert, der Zugang der Palästinenser zu internationalen Institutionen erleichtert und die Repräsentationsmöglichkeiten allgemein verbessert würden, hinterfragte der Professor für Internationales Recht in Oxford jenen Optimismus. So brachte die Debatte um Goodwin-Gills Analyse vor allem die vielen Unklarheiten zum Vorschein, die die Initiative umwölkten.
Würde eine Anerkennung des Staates durch die UN den Status der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) als „Observer Entity“, den sie bereits 1974 erringen konnte, ablösen? In welcher Rolle würde Präsident Abbas vor die UN treten – als Oberhaupt der PLO oder der PA? Welche Auswirkungen könnte die Anerkennung für die Palästinenser innerhalb Israels haben? Die Brisanz dieser Fragen erschließt sich vor dem Hintergrund der von vielen Palästinensern beklagten Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft und insbesondere des sogenannten Flüchtlingsproblems. Nach Angaben verschiedener internationaler, israelischer und palästinensischer Organisationen gelten heute etwa 60 Prozent aller Palästinenser als Vertriebene, und für einige Analysten stellt die Flüchtlingsfrage nach wie vor den Kern des palästinensisch-israelischen Konfliktes dar.
„Die Rechte und Bedürfnisse der Palästinenser in den Flüchtlingslagern im Libanon, in Syrien, Ägypten, Jordanien, Saudi-Arabien, Israel und der ganzen Welt“ würden dabei unter den Tisch fallen, schrieb Ahmed Moor für Al Jazeera, da sich die Autonomiebehörde »ausschließlich auf die Palästinenser in den besetzten Gebieten« konzentriere. Letztlich nährten die Unklarheiten der Initiative die Sorge, dass sie implizit die Repräsentationsfähigkeit der rund 6 Millionen palästinensischen Flüchtlinge schwächen und die Fragmentierung der palästinensischen Gesellschaft vorantreiben könnte.
Der Palästinensische Frühling kommt noch
Im Laufe der Debatte konnten viele der vorgebrachten Zweifel jedoch ausgeräumt werden: einerseits betonte Präsident Abbas in einer öffentlichen Ansprache, er wolle als Vertreter der PLO vor die UN treten und besänftigte damit einige Skeptiker, andererseits erklärten verschiedene Analysten, dass die Anerkennung eines palästinensischen Staates nicht zwangsläufig eine Auflösung des aktuellen Status der PLO innerhalb der UN bedeuten müsse – kurzum, der Weg für eine breitere Unterstützung der Initiative war geebnet.
Spätestens als der Palästinenserpräsident Abbas nun vor die UN trat, war tatsächlich ein erneuter Stimmungsumschwung unter Palästinensern spürbar, und selbst unter Kritikern der Autonomiebehörde wurden leise Erwartungen und Hoffnungen geschürt. Die PA hatte an dem Wandel keinen unwesentlichen Anteil. Mit Textnachrichten, Stickern und Flaggen zur Unterstützung der Initiative gab sie ihr Bestes, um die Bevölkerung mitzureißen und für den Moment so etwas wie eine Hochstimmung zu erzeugen. Trotz der Euphorie: Abbas sitzt weiterhin auf einem wackeligen Stuhl.
Die aktuelle Situation ist trügerisch, und die Folgen der Initiative werden sich wohl erst in den kommenden Monaten abzeichnen. Denn auch wenn einige der Befürchtungen bezüglich der Initiative entkräftet wurden und Abbas sich als starker Führer darstellen konnte, der dem internationalen Druck standhält, wird das Misstrauen gegenüber der Autonomiebehörde insbesondere außerhalb von Fatah-Kreisen nicht einfach verschwinden. So deutet einiges darauf hin, dass der wahre Effekt des arabischen Frühlings Palästina erst noch erreichen wird. Die geschürten Hoffnungen und Erwartungen könnten ebenso schnell in Enttäuschung und Frustration umschlagen, wie sie erzeugt wurden.
In einigen Wochen wird sich die palästinensische Führungsriege und die sich scheinbar verbesserte Verhandlungsposition an tatsächlichen Veränderungen im Alltag aller Palästinenser messen lassen müssen. Sollte sich Abbas auf seinem Erfolg ausruhen und die Initiative nicht tatsächlich eine Abkehr der palästinensischen Strategie der letzten 20 Jahre, also einen Bruch mit Oslo bedeuten, und sollte sich die Position der Großmächte und Israels bezüglich Palästinas nicht wesentlich verändern, dann werden auch die Spannungen innerhalb der palästinensischen Gesellschaft wieder stärker hervortreten, die Existenz der Autonomiebehörde wird weiter in Frage gestellt werden und das Gefühl vieler Palästinenser zurückkehren, dass sie in ihren wesentlichen Anliegen ignoriert werden.