Von Behrang Samsami
Warum reist ein erfolgreicher deutschsprachiger Schriftsteller wie Hermann Hesse 1911 nach Südostasien? Warum lässt sich ein wenig bekannter Expressionist namens Armin T. Wegner im Ersten Weltkrieg als Sanitäter ins Osmanische Reich versetzen? Und wie kommt 1933 die Schweizer Industriellentochter und Autorin Annemarie Schwarzenbach dazu, sechs Monate lang den gesamten Vorderen Orient zu bereisen? Was treibt alle drei dazu an, ihre Heimat und Familie zu verlassen und entbehrungsreiche und langwierige Reisen in eine ihnen unbekannte Region der Welt auf sich zu nehmen? – Es ist, kurz gesagt, der große „Zauber des Orients“, der von ihnen Besitz ergriffen hat.
Wie kein anderer Teil der Welt ist der Orient für die Identitätssuche und -findung Europas von großer Wichtigkeit. Dabei besteht bis heute allerdings eine Ambivalenz in dessen Wahrnehmung, zieht er doch die Neugierde des Abendlands genauso auf sich wie er in ihm Schrecken hervorruft. Sein Bild ist, mit anderen Worten, geprägt von den Bedürfnissen und Absichten des Westens, von seinen politischen und ökonomischen genauso wie von seinen militärischen und kulturellen.
Wie vielleicht in keiner anderen Epoche war die Widersprüchlichkeit der Vorstellungen vom „Osten“ im Okzident so prominent wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts – der Hochphase des Imperialismus und Kolonialismus. Auch der Orient sollte von der Einflussnahme der Briten und Russen, Franzosen und Deutschen nicht verschont bleiben. Doch waren es nicht nur das Öl und die geostrategische Lage, die jene reizten. Ebenso anziehend war der sich allmählich modernisierende Orient als Absatzmarkt für westliche Produkte wie auch als bisher wenig erkundete „Schatztruhe“ für Historiker, Geologen, Religionswissenschaftler und Archäologen. Schließlich stellte das „Morgenland“ für viele Westler nicht zuletzt den exotischen Raum dar – das Märchenland aus „Tausendundeiner Nacht“.
So war der Orient spätestens ab der Jahrhundertwende ein „Tummelplatz“ nicht nur mehr für Diplomaten und Militärs, sondern zunehmend auch für Gelehrte, Forscher, Touristen und Abenteurer, Einwanderer und später Exilanten aus dem Westen. Die Jahre zwischen 1910 und 1940 können dabei als eine erste Hochphase der Orientfaszination und -reisen im 20. Jahrhundert angesehen werden. Insbesondere Schriftsteller, Philosophen und bildende Künstler nutzten einen Aufenthalt fern der Heimat, um dem von Krisen und Kriegen gebeutelten Europa zu entfliehen. Denn je schneller die Industrialisierung den Kontinent veränderte, umso stärker sehnten sich viele nach neuen Strategien, mit denen die Modernisierung bzw. Dynamisierung der rasanten gesellschaftlichen Umwälzungen im Westen überwunden werden konnte.
Schriftsteller, die den Orient besuchten, nehmen hier eine besondere Rolle ein. An ihnen, die nach der Rückkehr ihre Eindrücke literarisch verarbeiteten, können die persönlichen wie sozialen (Defizit-)Erfahrungen in ihrer Heimat und die damit verbundenen Erwartungen an den Osten als einer Gegenwelt auf eindrückliche Weise nachvollzogen werden. Abgeschiedenheit, Ruhe und Einfachheit wurden im Orient genauso gesucht wie die Erfüllung der Kindheitsträume und -lektüre. Ob sie schließlich fanden, was sie suchten, dieser Frage geht die germanistische Studie „Die Entzauberung des Ostens“ nach.
Sie untersucht ausgewählte, bisher kaum behandelte, authentische und fiktive Reisetexte von Hermann Hesse (1877-1962), Armin T. Wegner (1886-1978) und Annemarie Schwarzenbach (1908-1942). Analysiert werden die Gründe für den Aufenthalt im Osten, die Reise und die Wahrnehmung der Fremde und schließlich die Verarbeitung des Erlebten. Im Mittelpunkt steht die Frage nach der Darstellung von Stadt und Land, der Ethnien und Religionen sowie der westlichen Kaufleute und Militärs, Techniker und Wissenschaftler, „Aussteiger“ und Emigranten, die dort lebten. Von besonderem Interesse ist nicht nur das – bis heute konfliktreiche – Verhältnis von traditionellem Leben und der rasanten Verwestlichung dieser Region. Es wird auch beleuchtet, wie sich die Reisen jeweils auf das Leben und Werk der drei hier ausgewählten Autoren selbst auswirkten, was jeweils ihr Fazit war.
Behrang Samsami: „Die Entzauberung des Ostens“. Zur Wahrnehmung und Darstellung des Orients bei Hermann Hesse, Armin T. Wegner und Annemarie Schwarzenbach. Aisthesis Verlag. Bielefeld 2011. Moderne-Studien 7. 432 Seiten. ISBN 978-3-89528-799-2. EUR 45.