Über die israelische Armee ranken sich gerade hierzulande Mythen. Nun kommen die Soldaten erstmals selbst zu Wort – David Ranan hat es mit seinen Interviews geschafft, eines der momentan wichtigsten Bücher über Israel zu veröffentlichen, das durch die Causa Shalit aktueller ist denn je.
David Ranan stellt die Gretchenfrage: »Ist es noch gut, für unser Land zu sterben?« Er stellt sie aber nicht abstrakt, er beschäftigt sich nicht mit Statistiken, sondern befragt die Beteiligten selbst: israelische Wehrdienstleistende, Reservisten – und auch diejenigen, die den Dienst an der Waffe verweigert haben. In mehr als zwei Dutzend Monologen erfährt der Leser in Ranans Sammelband so, was die jungen Frauen und Männer denken, fühlen, welche Erlebnisse sie in der Armee gemacht haben – und was diese mit ihnen.
Da ist Ofer, 19 Jahre alt und Teilnehmer an einem vormilitärischen Lehrgang, der sich seine Wunscheinheit via youtube-Video ausgesucht hat. Er würde gerne Elitesoldat werden– und hält die, von Ariel Sharon angeordnete, Evakuierung der jüdischen Siedler aus Gusch Katif im Gaza-Streifen im Jahr 2005 für richtig.
Oder der ultraorthodoxe Mosche, der 23 Jahre alt ist und mit dem Ranan das Interview zwei Wochen vor seiner Hochzeit geführt hat. Bei der Musterung bekam er vom Militärpsychologen das »Profil 21«, auf Deutsch: T5, untauglich. Das wollte er vor seiner Ausreise in die USA unbedingt haben – sonst wäre er nicht als Talmudstudent, sondern als Fahnenflüchtiger nach Israel zurückgekehrt.
Ebenfalls verweigert hat der 20-jährige Amir. Er will seinen Dienst für die jüdische Heimat leisten – aber nicht betend, also als Religionsschüler, oder mit der Waffe in der Hand, also in der Armee, sondern in einem Freiwilligen Sozialen Jahr. Damit Amir diesen Schritt gehen konnte, musste er erst seine Mutter überzeugen – und dann den Armeepsychologen, dessen Fragen nach Problemen beim Geschlechtsverkehr und möglichen Suizidversuchen er über sich ergehen lassen musste.
Ein differenziertes Meinungsmosaik
Das wäre Dana nie in den Sinn gekommen. Ihre Eltern sind beide Berufssoldaten. Die heute 21-Jährige empfand den Staat Israel als rassistisch, gerierte sich als Anti-Zionistin – und landete schlussendlich doch bei der Armee. Als Lehrerin brachte sie dort äthiopischen Einwanderern und Angehörigen der Minderheiten – Tscherkessen, Beduinen und Drusen – Hebräisch bei.
Und Omer hat wiederum seine ganz eigene Geschichte. Er ist heute 30 Jahre alt und Lehrer von Beruf, aufgewachsen zwischen dem Militärstützpunkt seines Vaters, einem Piloten, und einer linken Landwirtschaftskommune, einem »Moschav«. Er hat aus Gewissensgründen verweigert – und wanderte dafür in den Knast.
Für solche Leute hat Lior wenig Verständnis. Der 28-Jährige verheiratete Student war während seines Wehrdienstes im Gaza-Streifen und auf den Golanhöhen stationiert – und im Libanonkrieg 2006 im Offiziersausbildungslehrgang seiner Panzereinheit. Auch Alon, ebenfalls 28, verheiratet und bereits Vater zweier Kinder, hat für Verweigerer nichts im Geringsten übrig. Er hat noch in seiner religiösen Schule, einer »Jeschiwa«, einen vorbereitenden Fitness- und Kampfkurs besucht und dann in einer Kampfeinheit gedient.
Alon ist das Paradebeispiel für den Wandel, der sich in den vergangenen Jahren in der israelischen Armee abzeichnet. Früher stellten die Kibbuzniks und ihre Söhne die Offiziere in den Infanterie- und Eliteeinheiten; heute sind es die national-religiösen, oftmals aus den Siedlungen der Westbank, die sich freiwillig melden. »Ich glaube, dass ich einen Mehrwert einbringe, dass ich meine Aufgabe besser erfülle, mit mehr Sendungsbewusstsein, mehr Opferbereitschaft, mehr Verantwortung für die Zukunft,« sagt Alon mit Blick auf seine säkularen Offizierskollegen. »Der Unterschied rührt von der Quelle, aus der ich schöpfe, und das äußert sich später in der Fähigkeit, Opfer zu bringen. Ich glaube, den Säkularen etwas vorauszuhaben. Das ist der Vorteil. Mehr Tiefgang.«
»Mehr Tiefgang als die Säkularen«
Neben all diesen jungen Männern und Frauen, die zum Teil ihre intimsten Erlebnisse bei der Armee preisgeben, gibt es auch noch Menschen wie Nofar. Sie ist heute 29 und als Kind von Äthiopien aus nach Israel eingewandert. Sie wollte unbedingt in eine Kampfeinheit der Armee – und landete beim, berüchtigten, Grenzschutz. Wie sie es dort empfand? »Die Grenzschützer erzeugten Abschreckung durch die Art, wie sie mit den Arabern umsprangen. Sie ließen keinen einzigen Araber das Maul aufreißen. Von wegen: ›Wer bist du denn, dass du mir Antwort gibst?‹ Sie haben ihnen keine Erklärungen abgegeben. Wenn sie meinten, ein Stand befände sich nicht dort, wo er sein sollte, haben sie ihn einfach abgeräumt. Kumpels von der Armee hätten sich solches Verhalten nicht erlaubt. Sie hätten es sich zweimal überlegt: ›Moment, vielleicht bitte ich ihn darum.‹ Die Grenzschützer kannten diesen Begriff gar nicht: ›Ich bitte ihn drum.‹ Sie fühlten sich als Hausherren im Dorf, denn wenn sie nicht Herr im Haus waren, gefährdeten sie ihr Leben.«
Genau solches Verhalten entsetzt Nir. Der 30-Jährige kritisiert, dass zu bestimmten Einheiten, in diesem Fall dem Grenzschutz, Rekruten nur aus bestimmten sozialen Schichten kommen. »Dort wollen sie Jasager haben, die mit der örtlichen Bevölkerung hart umspringen. Ich verallgemeinere, aber da sind Assis dabei, das ist furchtbar. Grenzschützer misshandeln systematisch Palästinenser an den Kontrollpunkten. Mehr als die normale Armee. Ich sag dir, ich komme viel rum, und ich sehe das. Das tut der Staat bewusst, völlig bewusst. Die stehen erst mal drei Jahre lang an Kontrollpunkten, und das allein reicht schon, um einen Menschen so auszulaugen, dass er mit der Zeit schreckliche Dinge tut. Die Leute, die zum Grenzschutz kommen – du siehst sie, du siehst sie auf den Stützpunkten –, das ist nicht die grün uniformierte Armee, das ist eine minderwertigere blaue Polizeitruppe.«
Nir selbst war bei einer Eliteeinheit, die dem militärischen Geheimdienst »Schabak« untergeordnet ist. In zivil und als Araber verkleidet verrichtete er seinen Dienst, der größtenteils darin besteht, Zielpersonen, die vom Schabak als Terroristen identifiziert werden, in Gewahrsam zu nehmen, notfalls umzubringen. Mit ihm hat David Ranan wohl das intensivste Interview geführt. Manches, was er erlebt hat, kann er bis heute nicht vergessen. »Wir gingen ins Flüchtlingslager und nahmen Männer fest, von denen ich nicht wusste, was sie verbrochen hatten. Im Haus gab es kleine Mädchen. Sie waren so hübsch, das weiß ich noch. Den Blick des einen kleinen Mädchens habe ich bis heute nicht vergessen. Vier Jahre alt, mitten in der Nacht, in so einem verschlissenen Pyjama. Es war kalt. Ich erinnere mich, dass wir Frauen und Männer im Haus trennten, erinnere mich, dass ein Kamerad von mir dasaß, das Gewehr auf die Kleine und die anderen Kinder gerichtet, und ich ihn ansah, als wollte ich sagen: ›Was machst du da? Nimm die Knarre runter. Siehst du denn nicht, dass das hier kleine Kinder sind?‹ Und dann hat er tatsächlich nachgedacht und die Waffe gesenkt. Du überlegst gar nicht, sondern arbeitest wie ein Roboter.« Intensive Einblicke wie diese sind es, die David Ranans Buch zweifellos zu einem der interessantesten, aufschlussreichsten und vor allem wichtigsten über das Israel der Gegenwart machen. Es zeigt alle Facetten, geht in die Tiefe – und nimmt den Leser mit.
Einblicke ohne Gesichter
Bereichernd ist Ranan Schluss, in dem er die Monologe der Interviewten noch einmal analysiert, sowie das Glossar, in dem der Leser nicht nur erfährt, wer oder was »Bnei Akiva« ist – die größte national-religiöse Jugendbewegung –, dass »Duvdevan«, »Egos« und »Orev« Spezialeinheiten der israelischen Armee sind, sondern auch, dass das erfolgreiche Absolvieren des sogenannten »Gadna-Tauchens« Elftklässlern eine Einladung zum Eignungstest der »Flotille 13« einbringt. Jener Kommandogruppe, die seit dem Vorfall auf der Flaggschiff der »Gaza-Hilfsflotte« »Mavi Marmara« weltbekannt ist.
Zwei kleine Schwachpunkte hat das Buch indes. Ruth Achlama, eine mehrfach ausgezeichnete Übersetzerin, die seit Jahren die Werke von Amos Ozs’ meisterhaft in deutscher Sprache wiedergibt, hat bei dieser Publikation einen erstaunlich sperrigen und umständlichen Stil. Das größte Manko ist jedoch, dass die Interviewpartner, die den Leser durch ihre Äußerungen zum Nachdenken anregen und viele Antworten auf die Gretchenfrage liefern, nicht zu sehen sind. Es wäre interessant zu wissen, wie Ranans Interviewpartner, von denen man so viel liest und die so viel preisgeben, aussehen. Trotz der fehlenden Bebilderung: Dieses Buch ist ein Meilenstein. Jede einzelne Antwort auf die Frage »Ist es noch gut für unser Land zu sterben?« gibt dem deutschen Leser einen Einblick in eine ihm ansonsten völlig unbekannte und wohl auch fremde Welt.
David Ranan
»Ist es noch gut, für unser Land zu sterben?«
Junge Israelis über ihren Dienst in der Armee
Berlin (Nicolai) 2011,
272 Seiten, 19,95 Euro.