12.08.2011
»Freedom Theatre« in Jenin: Warten auf Rami
Drei Mitglieder des »Freedom Theatre« in Jenin werden aus ungeklärten Gründen verhaftet. Die Kultureinrichtung im Flüchtlingslager hat nach dem Mord an ihrem Gründer auch so genug Probleme.
Von Lydia Ziemke
Als Palästina-Koordinatorin der Berliner Schaubühne steht die Autorin in engem Kontakt mit dem Freedom Theatre. Sie hat mehrmals in Jenin unterricht und fungierte während der Deutschland-Tour des Theaters als Assistentin des ehemaligen Leiters des Projekts, Juliano Mer Khamis, der im April 2011 ermordert wurde. 
3.30 Uhr am Morgen, die Mitarbeiter des »Freedom Theatre« im Flüchtlingslager von Jenin  werden von Lärm geweckt: es klingt, als würden Steine geworfen. Vor den Theatergebäuden sehen sie sich vermummten und schwer bewaffneten israelischen Soldaten gegenüber.


 Sie werden gezwungen, in der Hocke auszuharren, einer der Theaterleute muss sich ganz ausziehen. Sie versuchen zu erklären, dass es sich beim »Freedom Theatre« um eine kulturelle Einrichtung handelt – vergeblich. Als Reaktion kommen lediglich Schreie und Drohungen. Schließlich werden Adnan Naghnaghiye, der technische Leiter, und Bilaal Saadi, Mitglied des Beirates, festgenommen und abgeführt, ohne dass ihnen oder den Theaterangestellten gesagt wird, wohin oder warum.

Das war am 27. Juli. Seitdem ist jeder Kontakt zu den Gefangenen untersagt und ihr Aufenthaltsort bleibt geheim – auch für ihre Anwälte, die immer wieder hingehalten werden. Zusagen für Zugang zu ihren Mandanten, so etwa für den 5. August, werden – ohne Begründung – abgesagt.

Am 6. August folgt eine weitere Festnahme. Rami Hwayel studiert im dritten Jahr an der Schauspielschule des »Freedom Theatre«. Seit Frühling 2010 war ich als Regisseurin mehrfach Gast am Freedom Theatre, unter anderem um den Studenten Leben, Werk und Lehre von Bertold Brecht nahezubringen. Rami war besonders begeistert davon, dass man mit Theater das Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch mobilisieren könnte. Im Moment arbeiten die Studenten in Ramallah, und nicht in Jenin, da ihr Projekt kontrovers und ihr Regisseur Amerikaner ist. Zurzeit arbeiten sie an Samuel Becketts »Warten auf Godot«, Rami übernimmt dabei die Rolle des Pozzo.

Anwälte erhalten keinen Zugang zu den verhafteten Theaterleuten

Auf ihrem Weg von Ramallah ins nördlich gelegene Jenin, wo er seine Familie zum Beginn des Ramadan sehen wollte, wurde das Auto mit mehreren Studenten am »Shave Shomeron« Checkpoint nahe Nablus angehalten und kontrolliert. Als Rami seine Papiere reichte, wurde er aus dem Wagen geholt. Nach Aussagen seiner Schauspielkollegen wurden ihm sofort die Augen verbunden und Handschellen angelegt. Anschließend wurde er in einem Armeefahrzeug weggebracht. Auch Rami wird bisher jeder Kontakt zur Außenwelt und zu seinem Anwalt verwehrt. Mittlerweile deutet vieles darauf hin, dass alle Verhafteten im Jalame-Gefängnis, nördlich von Jenin, inhaftiert sind. Bei den Einwohnern von Jenin ist das Gefängnis als brutaler Ort berüchtigt. Darüber hinaus berichtet das »Freedom Theatre« auf seiner Homepage, dass das israelische Militär eine so genannte »Gag Order«, also ein Berichterstattungsverbot in Israel, über die Verhaftung erlassen habe.

Es ist ein weiterer schwerer Schlag für das Theater. Nach dem gewaltsamen Tod des Begründers und Leiters Juliano Mer Khamis Anfang April ist die Einrichtung noch immer auf der Suche nach einem neuen Gleichgewicht. Engagement und Teamarbeit solch unterschiedlicher Menschen unter solch schwierigen Bedingungen wurden nicht unwesentlich vom Charisma des Sohnes einer jüdischen Mutter und eines christlich-arabischen Vaters getragen. Mer-Khamis` schwedischer Kollege Jonatan Stanczak und mehrere langjährige Mitarbeiter aus dem westlichen Ausland treten nun zusammen mit den Mitarbeitern vor Ort ein schweres Erbe an.

Aber eben darin besteht für die engagierten Theaterleute ein weiteres Problem. Denn im Prinzip ist man sich beim »Freedom Theatre« einig, dass die neue Führung von Einheimischen übernommen werden muss, die vor allem aber mit den Bewohnern des Flüchtlingslagers, in das die Kultureinrichtung eingebettet ist, in engem Kontakt stehen. In den Wochen nach der Ermordung von Mer-Khamis tauchten in der Moschee des Lagers immer wieder Drohungen gegen Ausländer auf; einige Mitarbeiter und Freunde des Theaters, auch Einheimische, haben daraufhin Jenin verlassen, oder trauen sich nicht zurück. Auch das »Cinema Jenin« hat letztendlich dem Druck nachgegeben und seine unter anderem deutschen Mitarbeiter abgezogen – es hatte seit der Eröffnung im August letzten Jahres Misstrauen und Attacken gegeben, bis April konnte das Vertrauen der Bewohner nicht gewonnen werden.

Neues Vertrauen im Lager schaffen

Dass diese Drohungen im direkten Zusammenhang mit dem Mord an Mer-Khamis stehen, glaubt niemand. Vielmehr benützten die Kritiker des Theaters das Ereignis für sich. Es sind Menschen, die aus religiösen Gründen die Kunstform Theater ablehnen und kritisieren, dass Mädchen gemeinsam mit Jungen auf der Bühne stehen, sich dabei körperlich berühren und laut ihre Gefühle und Meinungen herausschreien. Für viele im Flüchtlingslager von Jenin, das bereits seit 1948 besteht, ist Religion der einzige Halt in ihrem Leben geblieben und deshalb eine harte Schale, die Mer Khamis und das »Freedom Theatre« langsam aufweichen wollten – und das in vielen Fällen auch geschafft haben.

Auch Adnan Naghnaghiye ist sehr religiös und stellt eine Art Brücke dar zwischen den Einwohnern im Lager und dem Theater mit seinen vielen ausländischen Besuchern. Er ist von Anfang an ein integraler Bestandteil des Theaters, hat sein Haus als Gästehaus und für Büroräume des Theaters zur Verfügung gestellt. Als wir zu Besuch waren, hat er jeden Tag darauf geachtet, dass wir  außerhalb des Theaters nichts tun, was von den Nachbarn im Lager als anstößig oder respektlos hätte verstanden werden können. 

Das Theater wird weiter existieren, wenngleich zunächst die Neustrukturierung eine starke Basis mit klarem Profil hervorbringen muss. Die Mitarbeiter werden dann wieder die Menschen im Lager aufsuchen, und weiter versuchen, sie langsam wieder vom Wert des Theaters – für ihre Kinder und für die Gemeinschaft – zu überzeugen. Derweil touren die Studenten international: der erste Jahrgang in Frankreich, Deutschland und Österreich, und, wenn sich die Dinge um Rami bald klären, der dritte Jahrgang durch die USA. Jetzt bezieht sich das quälende Warten bei Beckett nicht nur auf eine Verbesserung der Zustände in Jenin und ganz Palästina, sondern immer noch auf die Aufklärung des Mordes an Mer Khamis – und auf jegliche Neuigkeiten von Adnan, Bilaal und Rami.

Anfang September beginnt die zweite lange Deutschland/Österreich-Tour des »Freedom Theatre« – der erste Jahrgang kommt mit seiner Premieren-Produktion »Sho Kaman – Was noch?« auf Einladung der »Kinder-Kultur-Karawane«. In Berlin sind sie vom 24.-27. September an der Schaubühne zu Gast. Weitere Informationen unter:
www.schaubuehne.de
www.kinderkulturkarawane.de