Ein Beitrag von Alexander Rüsche
Israel reagiert mit Luftschlägen auf das Attentat von Eilat. Bisher scheut die Regierung Netanjahu einen neuen Gaza-Krieg – zumindest bis zum September.
In seiner Rede vor dem amerikanischen Kongress im Mai dieses Jahres hatte der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu mit den Worten »Die Grenzen von 1967 sind nicht zu verteidigen« der Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt de facto eine Absage erteilt. Hinter dieser Ablehnung stand – wie so oft – das Argument der Sicherheit: Zu lang und zu verschlungen sei die Grenze auf der Grundlage der Waffenstillstandslinie von 1949, die bis zur Eroberung und Besetzung des Westjordanlandes im Zuge des Sechs-Tage-Kriegs von 1967 Bestand hatte. Zu nah verlaufe sie an israelischen Ballungszentren und zu wenig strategische Tiefe böte sie.
Eine Gruppe ehemaliger israelischer Offiziere und Diplomaten widersprach dieser Einschätzung Netanjahus umgehend: Die Grenzen von 1967 seien sehr wohl zu verteidigen – die Frage sei lediglich, gegen welche Bedrohung. Die Anschläge im Süden Israels vom Donnerstag vergangener Woche unterstreichen diesen Einwand. Sie zeigen, dass selbst eine schnurgerade verlaufende Grenze mit der strategischen Tiefe von rund 12.000 Quadratkilometern der Negev-Wüste nicht gegen jede Form von Bedrohung zu verteidigen ist. Militärische Mittel allein werden Israel letztlich keine nachhaltige Sicherheit bringen. Das können nur politische Lösungen. Die Reaktion auf die Attentate unweit der israelischen Touristenhochburg Eilat demonstriert jedoch, dass die derzeitige israelische Regierung weiterhin auf eine Strategie der militärischen Härte setzt, um Sicherheit herzustellen.
Nur gut eine Stunde nachdem vor einer Woche im Süden Israels die ersten Schüsse gefallen waren, verkündete der israelische Verteidigungsminister Ehud Barak, die Anschläge hätten ihren Ursprung im Gazastreifen. Die Gefechte zwischen israelischem Militär und den aller Wahrscheinlichkeit vom Sinai aus auf israelisches Gebiet vorgedrungenen Angreifern waren zu diesem Zeitpunkt noch in vollem Gange. Kurze Zeit später wurde der Verdacht präzisiert: Die in Gaza ansässige Organisation »Popular Resistance Committees« (PRC) sei für die Anschläge verantwortlich. PRC-Mitglieder seien durch die Tunnel an der Grenze zwischen Gaza und Ägypten in den Sinai gelangt und von dort aus auf israelisches Territorium vorgestoßen, um ihre Morde zu begehen.
Identität der Attentäte von Eilat noch immer nicht geklärt
Dieses Szenario klingt durchaus plausibel, ist aber bislang durch nichts bewiesen oder auch nur belegt worden. Die PRC bestritt eine Beteiligung an Planung oder Durchführung der Anschläge ebenso wie die den Gazastreifen kontrollierende Hamas umgehend. Mittlerweile werden die Zweifel, dass die Anschläge auf das Konto der PRC gehen, immer größer: Ägyptische Medien berichteten am Montag, dass mindestens drei der 15 bis 20 Angreifer Ägypter gewesen seien. Über die Identitäten der übrigen Attentäter ist auch eine Woche nach den Anschlägen bislang nichts bekannt geworden.
Obwohl sich niemand zu den Taten bekannte, denen 8 Israelis zum Opfer fielen und durch die circa 30 weitere verletzt wurden, flog die israelische Luftwaffe noch am frühen Donnerstagabend – wenige Stunden nach dem Beginn der Attentate – die ersten Angriffe auf Gaza. Dem israelischen Premierminister Netanjahu zufolge stünden die Bombardierungen im Einklang mit der israelischen »Politik, einen sehr hohen Preis von jedem zu fordern, der uns Schaden zufügt«. Teil dieser Politik scheint zu sein, dass der Gazastreifen die Rechnung pauschal begleichen muss, wenn unklar ist, wer genau der Verursacher des Schadens ist.
Am Freitag stellte Netanjahu klar, dass die Luftangriffe, die sich zunächst gegen PRC-Mitglieder gerichtet hatten, nur der Anfang der »Reaktion auf die Anschläge im Süden Israels« seien. Laut einer Erklärung des israelischen Militärs sei »die Terrororganisation Hamas der Adressat« der Angriffe. Während des Wochenendes flog die israelische Luftwaffe rund 30 Angriffe auf Gaza. Hinzu kam Artilleriebeschuss des Küstenstreifens durch Armee und Marine. Bis Sonntagabend kamen dabei insgesamt 14 Palästinenser ums Leben, darunter vier Zivilisten und 41 Personen wurden verletzt, davon 35 Zivilisten.
Kadima würde Militäroffensive mittragen
Infolge der israelischen Luftangriffe wurden während des gesamten Wochenendes verstärkt Raketen aus dem Gazastreifen auf israelisches Gebiet abgeschossen. Kleinere palästinensische Gruppierungen – die PRC, der Islamische Dschihad und die PFLP – bekannten sich zum Abfeuern der Projektile. Die Hamas und ihr militärischer Arm, die Kassam-Brigaden, verkündeten zwar, man werde entschieden »Vergeltung für jede Aggression gegen den Gazastreifen verüben« und stünde an der »Spitze der Verteidiger Gazas«, verhielten sich de facto aber zurückhaltend. Nichtsdestotrotz schienen sich die Luftangriffe im Laufe des Samstags immer stärker auf die Hamas zu konzentrieren. Dabei kam es erstmals seit etwa einem Jahr auch zur Bombardierung von Zielen im besonders dicht bevölkerten Zentrum von Gaza-Stadt.
Auch rhetorisch wurde auf israelischer Seite weiter gegen die Hamas aufgerüstet: Verteidigungsminister Barak sprach davon, dass »die Köpfe derjenigen, die gegen uns arbeiten, von ihren Körpern abgetrennt« werden würden. Diskutiert wurden bei einem Treffen israelischer Spitzenpolitiker unter anderem die Möglichkeit einer Ausdehnung der gezielten Tötungen sowie eine umfassende Bodenoffensive der israelischen Armee im Gazastreifen. Führende Politiker der größten Oppositionspartei Kadima sagten der Regierung Unterstützung für eine groß angelegte Militäroffensive zu, deren Ziel in der Zerschlagung der Hamas-Infrastruktur bestehen solle.
Ebenfalls am Samstag wurde gemeldet, die Hamas habe den von ihr unilateral ausgerufenen Waffenstillstand für beendet erklärt. Dieser hatte mehr oder weniger seit 2009 Bestand gehabt. Auch während des Bestehens des Waffenstillstandes war es allerdings immer wieder zu Gewalt von beiden Seiten gekommen: Laut Angaben des israelischen Außenministeriums wurden aus dem Gazastreifen 2011 bis Mitte August insgesamt 320 Raketen und Granaten auf israelisches Gebiet abgefeuert, wobei nach unterschiedlichen Angaben zwischen 11 und 20 Personen verletzt und eine getötet wurde. Bei Luftangriffen des israelischen Militärs gegen Ziele im Gazastreifen kamen in der ersten Jahreshälfte 2011 nach Angaben der Vereinten Nationen 54 Palästinenser ums Leben und über 300 wurden verletzt.
Neuer Druck aus Kairo
Die hohe Zahl der Raketen- bzw. Luftangriffe – insbesondere auf das Stadtgebiet Gazas – des vergangenen Wochenendes bedeuteten jedoch eindeutig eine neue Stufe der Eskalation. In der Nacht von Samstag auf Sonntag ging das israelische Militär zudem auch im Westjordanland gegen die Hamas vor: Mit über 100 Armeefahrzeugen stürmten israelische Soldaten Hebron und nahmen zwischen 50 und 100 Palästinenser – zumeist Hamas-Mitglieder – gefangen. Es handelte sich dabei um die größte Militäroperation in dieser Gegend seit dem Ende der Zweiten Intifada. In der Folge kam es zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen dem israelischen Militär und palästinensischen Jugendlichen. In Jerusalem hatten israelische Sicherheitskräfte bereits am Freitag eine friedliche Demonstration vor dem Damaskustor aufgelöst. Deren Teilnehmer hatten dagegen protestiert, dass die Altstadt für Palästinenser gesperrt worden war.
Anfang der Woche kam es dann zu einer überraschenden Kehrtwende im Vorgehen der israelischen Regierung. Aus regierungsnahen Kreisen war zu vernehmen, man habe an einer Eskalation kein Interesse. Ein Berater Netanjahus erklärte, der Premierminister sei der Ansicht, derzeit wäre es falsch, einen umfassenden Krieg gegen Gaza zu führen.
Eine zentrale Rolle in dieser 180-Grad-Wendung scheint Ägypten gespielt zu haben: Einerseits hatten ägyptische Unterhändler eine inoffizielle Verständigung zwischen Israel und der Hamas vermittelt, die gegenseitigen Angriffe einzustellen bzw. zu unterbinden. In der Folge entspannte sich die Situation, obwohl es weiterhin zu gegenseitigem Beschuss kommt. Andererseits hatte Ägypten intensiven Druck auf Israel ausgeübt und vor allem die Tötung von drei ägyptischen Grenzschützern – vermutlich durch israelisches Militär bei der Verfolgung der Attentäter – scharf kritisiert: Zeitweise kursierten Gerüchte, der ägyptische Botschafter in Israel werde abberufen. In Kairo fanden Demonstrationen vor der israelischen Botschaft statt, die ihrerseits die Ausweisung des israelischen Botschafters forderten.
Offenbar fürchtete Israel, dessen Beziehungen zur Türkei sich nach der gewaltsamen Stürmung eines Schiffes der Freedom-Flotilla im letzten Jahr dramatisch verschlechtert hatten, mit Ägypten einen weiteren Staat in der Region gegen sich aufzubringen und im Nahen Osten vollends isoliert zu werden. Nach intensiven diplomatischen Bemühungen scheinen sich die Wogen mittlerweile wieder geglättet zu haben. Eine derart massive Intervention Ägyptens war zu Zeiten Mubaraks vollkommen undenkbar gewesen. Sie zeigt erstmals konkret, dass sich Israel mittlerweile in einem erheblich veränderten politischen Umfeld bewegt.
Warten auf »Iron Dome«
Neben der Intervention Ägyptens trug vermutlich ein weiterer Umstand zu Verhinderung einer militärischen Eskalation bei: Der so genannte »Iron Dome«, ein Raketenabwehrsystem rund um den Gazastreifen, ist noch nicht voll einsatzfähig. Hätte die Hamas sich am Abschuss von Raketen beteiligt, wäre zu befürchten gewesen, dass neben den Grad- und Kassamraketen auch weiter reichende Flugkörper zum Einsatz hätten kommen können; in diesem Fall befürchtet das israelische Militär, dass sogar Tel Aviv ins Visier der Angriffe geraten könnte. Die Fertigstellung des »Iron Dome« soll nun beschleunigt werden.
Es steht somit zu befürchten, dass eine noch größere militärische Offensive nicht durch eine genuine Einsicht der israelischen Regierung verhindert, sondern lediglich vorübergehend verschoben wurde. Für diese Interpretation spricht eine weitere Begründung, die Netanjahu für die Entscheidung, von einer militärische Eskalation abzusehen, anführte: Im Moment fehle die internationale Legitimität für einen Krieg gegen die Hamas. Grundsätzlich, so die Vermutung des Außenbeauftragten der Fatah, Nabil Shaath, sei Netanjahu an einer militärischen Eskalation interessiert, um den für September geplanten Gang der Palästinenser vor die Vereinten Nationen in letzter Minute zu diskreditieren.
Ein tatsächlicher Richtungswechsel der israelischen Regierung und eine Revision des Paradigmas, allein mit militärischen Mitteln für Sicherheit sorgen zu wollen, sind derzeit jedenfalls nicht erkennbar. Hierfür wäre zuvorderst die Bereitschaft notwendig, den Siedlungsbau in den besetzten Palästinensischen Gebieten zu stoppen, um den Weg für eine Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der palästinensischen Führung zu ermöglichen. Die Ankündigungen der vergangenen Wochen, die völkerrechtlichtswidrigen israelischen Siedlungen in den Palästinensischen Gebieten erneut um insgesamt 2700 Häuser zu erweitern, macht eine solche Entwicklung wenig realistisch.