Am 1. September 2011 verstarb in Beirut im Alter von 82 Jahren Kamal Sulaiman Salibi, der vielleicht bedeutendste und auch international bekannteste libanesische Historiker der Gegenwart. Der Tod Salibis stellt einen großen und schmerzlichen Verlust dar, sowohl für die akademische Welt des Libanon und die Gemeinschaft arabischer Gelehrter und Intellektueller insgesamt als auch darüber hinaus auf der internationalen Ebene der Libanonhistoriker und Wissenschaftler des Christlichen Orients. Daneben bedeutet sein Tod den Verlust eines Mannes mit herausragenden menschlichen Qualitäten, wie einer beeindruckenden Bescheidenheit, einer gemäßigten und selbstdiszplinierten Haltung, einem Auftreten mit Scharfsinn und Klugheit, menschlicher Wärme und Hilfsbereitschaft. Salibi lebte still und zurückgezogen und war doch gleichzeitig immer für andere da, seine Schüler, Kollegen und Freunde.
Geboren in Beirut als Sohn einer Familie griechisch-orthodoxer Herkunft, die im 19. Jahrhundert zum Protestantismus konvertierte, besuchte Salibi amerikanische Missionsschulen im Libanongebirge, studierte in Beirut und später in London Geschichte und semitische Sprachen. Nach der Promotion 1953 arbeitete er die meiste Zeit seiner akademischen Karriere an der AUB in Beirut als Professor für Geschichte, daneben hatte er zahlreiche Gastprofessuren in England und den USA inne. Von 1994 bis 2003 war er Direktor des Royal Institute for Interfaith Studies in Amman/Jordanien. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er als Prof. em. vorwiegend in seinem Beiruter Apartment, weiterhin wissenschaftlich sehr aktiv und literarisch produktiv. Besonders lag ihm dabei auch die Druze Heritage Foundation am Herzen, für die er sich wissenschaftlich und administrativ stark engagierte.
Salibis Werk ist von zwei Schwerpunkten bestimmt, einmal der älteren und neueren Geschichte Libanons einschließlich der Geschichte der arabischen Christenheit, zum anderen der Bibelforschung bzw. der Archäologie des Alten und Neuen Testaments. Zu jedem dieser Bereiche hat er bahnbrechende Bücher veröffentlicht, deren Bedeutung ich an anderer Stelle ausführlich gewürdigt habe. Hier sei nur noch einmal das Buch „A House of Many Mansions“ und „The History of Lebanon Reconsidered“, erwähnt, das mit Abstand wichtigste und einflussreichste Werk zur modernen Entwicklung im Libanon, in dem Salibis historisch-kritische Arbeitsweise am besten deutlich wird. Leitfaden ist die Dekonstruktion der historischen Mythen der verschiedenen christlichen und muslimischen Religionsgemeinschaften, besonders der Maroniten und Drusen, Kerngedanke das Plädoyer für die Überwindung des Konfessionalismus in Politik und Gesellschaft sowie das Eintreten für eine säkulare, nationallibanesisch orientierte Ordnung. Das Buch spiegelt aber auch die Weltsicht des Autors wider, die er in den letzten Jahren zunehmend deutlicher artikulierte, nämlich ein gehöriges Maß Skepsis über die Zukunft Libanons und über das Schicksal der Christen in der arabischen, nicht nur libanesischen Welt.
Kamal Salibi hinterlässt einen sehr großen Einfluss, auf wissenschaftlicher Ebene, im politischen und gesellschaftlichen Bereich und in persönlicher bzw. menschlicher Hinsicht. Seine erfolgreichen Schüler und Studenten sind zahlreich, in der Universität wie auch außerhalb des akademischen Bereichs. Eines seiner großen Verdienste ist es, die Brücke zwischen professionellem Fachpublikum und breiterer Öffentlichkeit geschlagen zu haben, in seinen Schriften ebenso wie in seinem Umgang mit historischen und politischen Fragen des allgemeinen Interesses.
Für mich war Kamal Salibi in vieler Hinsicht ein Lehrer, geistiger Mentor und Berater, ein hoch verehrter und geachteter Kollege und ein persönlicher Freund. Die vielen Gespräche und gemeinsamen Erlebnisse in Beirut, Amman, Oxford und Berlin werden mir immer in Erinnerung bleiben.
Prof. Dr. Axel Havemann
Freie Universität Berlin
Institut für Islamwissenschaft