Von Miguel A. Zamorano
Der Weg zum 20. September, an dem die Palästinenser ihren Staat ausrufen wollen, begann mit einem grundlegenden Wechsel in der Arbeitsweise im palästinensischen Lager. Der Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Ostjerusalem beschreibt diesen folgenreichen Wandel in seinem neuen Buch.
In Israel kommt man als Besucher früher oder später in einer geselligen Runde auf den Friedensprozess mit den Palästinensern zu sprechen. »Wer wird am Ende des Tages nun ein Friedensabkommen unterzeichnen?«, pflegen dann viele Israelis wie aus einem Munde zu sagen, »Hamas? Fatah? Gibt es überhaupt jemanden, mit dem man reden kann?«
Solche Fragen gehören mittlerweile zum reichen Inventar der geflügelten Wörter im Nahostkonflikt; es sind Phrasen, die immer wieder im Alltag zu hören sind, egal ob in den Medien, beim Kaffee in einer Jerusalemer Bar oder am Strand in Tel Aviv. Sätze wie »zwei Staaten, Seite an Seite«, »in Frieden und in Sicherheit«, oder eben auch: »wir haben keinen Friedenspartner«. In solchen Sentenzen schimmert oft die Hoffnung der Israelis und Palästinenser nach Frieden durch, nur: Selten kommen in diesen vermeintlichen Binsenwahrheiten die tatsächlichen Fakten zum Vorschein.
So scheint es möglich, dass die wehmütige Frage nach dem Partner für den Frieden bald eine unumstößliche Antwort bekommen könnte. Vor der UN-Vollversammlung möchte die PLO am 23. September einen Antrag zur Aufnahme als Vollmitglied der Weltorganisation stellen. Einseitig, auch gegen das Veto der US-Regierung – das sicher im Weltsicherheitsrat folgen wird, sollten die Palästinensern dieser Schritt wagen.
Auch wenn dieses letzte Manöver nicht gelingen dürfte – spätestens seit den »Palestine Papers« – an Al-Jazeera geleakt und von dem Fernsehsender aus Doha veröffentlicht – muss jedem Beobachter klar sein, dass die Palästinenser eine Führung haben, die nicht nur den Frieden will, sondern gegebenenfalls auch bereit ist, dafür den Israelis in vielen Verhandlungspunkten sehr weit entgegenzukommen. Dass die Palästinenser sich nun anschicken, einen Staat auszurufen, ist allerdings in Betracht der bewegten Geschichte ihrer Führung – namentlich der Fatah – nicht selbstverständlich.
Fakten schaffen – wie einst die frühen Zionisten
Wie es trotzdem dazu gekommen ist, dass die Palästinenser allen Unkenrufen zum trotz nun in der Lage sind, mit ihrem »State-Building« Fakten zu schaffen, kann man im neuen Buch Michael Brönning nachlesen. In »The Politics of change in Palestine. State-Building and Non-Violent Resistance« zeichnet der Leiter der Friedrich Ebert-Stiftung in Ostjerusalem den Weg der letzten Jahre nach, den die Palästinenser auf ihrem Weg zur Staatswerdung beschritten haben. Der Autor schreibt in dem klaren und nüchternen Ton eines Politikberaters und Analysten; seine Sprache ist stets verständlich – was nicht von jedem Deutschen Wissenschaftler behauptet werden kann, der auf Englisch publiziert.
Minutiös zeichnet Bröning die Schritte der vergangenen Jahre nach, die Premierminister Salam Fayyad unternommen hat, um im Westjordanland die Grundlagen für einen Staat zu schaffen. Dabei analysiert der Autor all die Details des 13. Regierungsprogramm der Palästinensischen Autonomiebehörde, das am Anfang der fayyad’schen Anstrengungen stehen: von dem Aufbau einer nutzbaren Infrastruktur und effektiven Staatsverwaltung über die Einführung eines (staatlichen) Gewaltmonopols hin zur Reform des Justiz- und Gerichtswesens im Westjordanland.
Die von Fayyad ins Rollen gebrachte »technokratische Revolution« hatte von Beginn an das Ziel, Fakten zu schaffen, die zu einer Staatsgründung führen könnten. Der frühere IWF-Mitarbeiter Fayyad ist dabei eine große Wette eingegangen ist, dessen Ergebnis wir in den kommenden Tagen und Wochen erleben dürften. Schließlich wenden hier die Palästinenser nicht andere Praktiken an als seinerzeit die Gründungsväter Israels während des britischen Mandates. Bröning zitiert Noam Chomsky, der über Fayyads Methode sagt: »Ich denke, es handelt sich um eine bewusste Imitation von frühzionistischer Praxis – Fakten schaffen und hoffen, dass die darauf folgende Politik durch diese Fakten bestimmt wird.«
Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Anspannung und die Zahl der diplomatischen Gegenmaßnahmen von israelischer Seite aus gestiegen ist, je näher wir uns dem September 2011 genähert haben. Für Israel kann es nur einen palästinensischen Staat geben, der aus bilateralen Verhandlungen und damit nach Abschluss eines Friedensvertrags entsteht.
Wandel durch Verantwortung
Die Fayyad-Methode hat auch ihren Preis. Sicherheit zu schaffen hat die Zahl der Menschenrechtsverletzungen erhöht. Man sagt dem von der EU und den USA trainierten Polizeiapparat im Westjordanland nach, nicht besonders zimperlich zu sein, wenn es darum geht, ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung durchzusetzen. Im Zweifel schrecken Polizisten nicht davor zurück, Journalisten bei kritischer Berichterstattung einzuschüchtern oder gar zusammenzuschlagen.
Dem Prozess der Staatswerdung geht ein Wandel bei den beiden Hauptakteuren im palästinensischen Lagern voran. Die Regierungspartei Fatah, von den USA dazu gedrängt, hält 2009 den ersten Parteitag seit 1989 ab. Strukturelle Veränderungen und programmatischer Neubeginn sind die Folge. Auch die Hamas erlebt einen Wandel im Regierungsamt, das sie seit 2006 im Gazastreifen innehat. Der Moment, in dem die islamistische Bewegung die Verantwortung übernimmt, markiert auch den Beginn des Wandels, der noch lange nicht abgeschlossen ist, wie Bröning schreibt.
Dabei liegen dem Wandel zu einer verantwortungsvollen Staatspartei oft Steine in dem Weg. Etwa wenn die Partei ideologischen Ballast ohne weiteres nicht abwirft – dies könnte die Anhängerschaft in der Bevölkerung gefährden – sondern verschiedene Fraktionen den Disput um Form und Farbe politischer Überzeugungen innerhalb von Hamas austragen. Ein Beispiel: Wenn die Hamas politische Gegner eingeschüchtert und gleichzeitig die Amtsträger und Mitglieder der Partei davon sprechen, den Rechtsstaat zu achten. Dieser ambivalenten Entwicklung widmet Bröning ein sehr aufschlussreiches Kapitel.
Der Westen muss den politischen Dialog mit der Hamas aufnehmen
Auffallend ist, dass er den Mut hat, brisante Empfehlungen auszusprechen. So erläutert der Leiter der Friedrich Ebert-Stiftung in Ostjerusalem gleich zu Beginn unmissverständlich, dass der Westen den politischen Dialog mit der Hamas aufnehmen sollte. Allein schon deshalb, weil der Boykott der Hamas zu gar nichts geführt hat. Er ist ineffektiv, politisch nicht zielführend. Das dürfte für viele westliche Ohren revolutionär klingeln. Und wenn man sich die Führer der westlichen Welt vor Augen führt, die auf das Nichtgespräch mit der Hamas beharren, kann man sich nicht dem Eindruck verwehren, dass Brönings Anweisungen um so lauter klingen.
Dabei drückt er lediglich das aus, was schon andere Politikberater – auch deutsche – im Westjordanland stets unter vorgehaltener Hand sagen: Wir müssen die Islamisten mit ins Boot holen, ohne sie wird es nicht gehen. Es ist eine Empfehlung, die jetzt, wo sich nach dem Arabischen Frühling langsam Nüchternheit breit macht, auf die gesamte Region des Vorderen Orients angewendet werden kann. So oder so, der Tag scheint gekommen zu sein, an dem die Palästinenser einen eigenen Staat haben werden. Brönings Buch erklärt anschaulich und übersichtlich, wie die Grundlagen dafür gelegt wurden.
The Politics of change in Palestine. State-Building and Non-Violent Resistance
Michael Bröning
Pluto Press, 2011
256 Seiten, 25 Euro