17.07.2011
"Widerstand ist eines Christen Recht und Pflicht“ - Interview zum Kairos Palestine Dokument

Liebe Leserinnen und Leser,
im Dezember 2009 veröffentlichten prominente palästinensische Christen das „Kairos Palestine Document“. Inspiriert von südafrikanischen Kirchenvertretern, die sich in den 1980er-Jahren gegenüber dem Apartheid-Regime positionierten und bereits damals den Begriff "Kairos" (griechisch: "Jetzt ist die Zeit") verwandten, stellt das Dokument eine theologische Auseinandersetzung mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt dar, aus der konkrete politische Handlungsempfehlungen geschlussfolgert werden. Das Dokument, das unter anderem ökonomische Sanktionen gegen Israel fordert und von einem „Apartheid-System“ spricht, hat großes internationales Aufsehen erregt.

Lukas von Nordheim, gegenwärtig tätig bei der Friedrich-Ebert Stiftung in Ostjerusalem, sprach mit Rifat Odeh Kassis, dem Koordinator und Sprecher von „Kairos Palestine“ über das Dokument. Der aus der Nähe von Bethlehem stammende Kassis leitet unter anderem die NGO „Defence for Children International“, die sich für Kinderrechte weltweit einsetzt.

Herr Rifat Kassis, was sind die drei wichtigsten Aspekte des Dokuments „Kairos Palestine – A Moment of Truth: A Word of Faith, Truth and Love from the Heart of the Palestinian Suffering“, das christliche Palästinenser unter Ihrer Leitung im Dezember 2009 veröffentlicht haben?

Rifat Odeh Kassis: Drei Fakten unterscheiden "Kairos Palestine" von anderen Dokumenten: Es ist auf Arabisch geschrieben, es richtet sich an unser Volk, und verwendet keinen Diplomatenjargon.

Zum ersten Punkt: Normalerweise sind solche Schriften von Christen, NGOs und anderen Gruppen auf Englisch verfasst. Das vermittelt den Eindruck, dass wir uns in erster Linie an die internationale Gemeinschaft und nicht an unser Volk richten. Deshalb wirft uns die israelische Propaganda vor, die Palästinenser hätten zwei verschiedene Diskurse: einen arabischsprachigen für das Volk, in dem sie sich radikal äußern und einen englischsprachigen, der sich an die Außenwelt richtet und in dem der Diskurs abgemildert wird. Wir haben das Dokument auf Arabisch geschrieben, um unsere Leute mit der Botschaft „Liebt Eure Feinde!“ herauszufordern.
Zweitens sagen wir unseren Leuten: Seid geduldig, standhaft und leistet Widerstand – natürlich gewaltlos. Christen in Palästina gelten und geben sich oft passiv (...), als diejenigen, deren Religion nur von Liebe handelt. Sie wissen schon: Liebe Deine Feinde! Wenn Dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte auch die andere hin." Aber wir brechen mit diesem Stereotyp in unserem Dokument und sagen: Widerstand – natürlich gewaltfreier Widerstand –  ist eines Christen Recht und Pflicht. Seid standhaft und geduldig! Das sind starke Worte in unserer Gemeinschaft.

Drittens ist "Kairos Palestine" kein diplomatisches Dokument, sondern ein prophetisch-mutiges. Ich denke, die Sprache ist sehr mutig. Besonders wenn wir uns an unsere Schwestern und Brüder im Westen und an die Kirchen richten und sagen: „Bereut, dass Ihr die Palästinenser und die palästinensischen Christen so lange ignoriert habt. Überdenkt Eure Einstellungen! Ändert Eure Theologie!“ Ich denke, das sind starke Punkte des Dokuments.

Sie sind seit 2005 Präsident von „Defence for Children International“, und gleichzeitig bringen Sie sich in anderen christlichen und inner-palästinensischen Organisationen ein. Was hat Sie dazu gebracht, zusätzlich die Koordination für „Kairos Palestin“ zu übernehmen?

Kassis: Ich habe den Großteil meines Lebens meinen Idealen gewidmet: der Verbreitung von Menschenrechten, den nationalen Rechten der Palästinenser und der Verhandlung über einen gerechten Frieden in der Region, mit dem alle Nationen in Sicherheit und Würde leben können. So habe ich auch meine Zeit auch in den lokalen und international Dienst für die christliche Gemeinschaft gestellt. Das ist also kein Zufall, dass ich in Entwurf und Verbreitung von "Kairos Palestine" involviert war und bin. Kairos war der Gipfel, der Höhepunkt aller Initiativen, in die palästinensische Christen bislang involviert waren. Vorherige Initiativen haben alle auf "Kairos", auf die christliche Vision hingeführt. Mein persönlicher Beitrag ist es, diese hoffnungsvolle Vision in die Öffentlichkeit zu tragen.

Innerhalb der christlichen Gesellschaft wird kritisiert, dass „Kairos Palestine“ zu sehr auf die Außenwirkung und zu wenig auf das eigene Volk fokussiert ist. Andere Stimmen sagen, dass das Dokument wenig Rückhalt in palästinensischen Gemeinden hat. Nur wenige kirchliche Oberhäupter haben es unterzeichnet...

Kassis: … überhaupt kein kirchliches Oberhaupt hat es unterzeichnet. Die Menschen, die das Dokument entworfen haben, repräsentieren nur sich selbst. Das haben wir bewusst so gemacht, weil wir ein Dokument vom Volk wollten und "Kairos" die Stimme des christlichen Volkes ist. Das heißt nicht, dass der offizielle Standpunkt schlecht oder weit von den christlichen Sorgen entfernt ist. Aber dies ist eine Meinung aus dem Volk heraus, das heißt, eine prophetische Stimme. Nachdem das Dokument veröffentlicht wurde, haben es die 13 anerkannten Oberhäupter der Kirchen in Israel und Palästina gebilligt. Vielleicht entspricht das Dokument nicht exakt ihren Ansichten, aber das sie stellen sich jedenfalls nicht gegen "Kairos".

Die zweite Kritik, Kairos sei nur auf die internationale Ebene fokussiert, ist schlicht falsch. Ich denke nicht, dass Leute, die das behaupten, das Dokument genau gelesen haben. Das Dokument spricht von der christlichen Präsenz hier, vom palästinensischen Volk. Mit anderen Worten: Wir reden über unser Leben, unsere Gegenwart und unsere Zukunft. Dies ist unser Land. Die Probleme und die Mauer hier, das Leiden dieser Leute, ihr Leben – wir reden von uns. Was auf internationaler Ebene passiert ist, war eine Nebenwirkung des Dokuments. Es war, wie gesagt, nicht an die internationale Gemeinschaft gerichtet, sondern an uns.

Zwei Zitate aus dem Dokument: Unter der Überschrift „Unser Wort an die Kirchen der Welt“ steht: „Könnt Ihr uns helfen, unsere Freiheit zurückzuerlangen?“ Da fordern Sie konkrete Unterstützung von außerhalb ein. Und das zweite Zitat steht unter der Überschrift: „Unser Wort an die internationale Gemeinschaft“, dort steht: „Beendet die Doppelmoral auf und besteht darauf, dass die internationalen Resolutionen auf alle Parteien angewendet werden.“ Hat dieser Aufruf Früchte getragen?

Kassis: Er trägt Früchte: Wir haben die Kirchen weltweit um ihre Unterstützung gebeten, weil wir das Gefühl hatten, dass die Kirchen nicht genug taten. Sie haben – bewusst oder unbewusst – den Status Quo unterstützt. Manche haben sogar theologische pseudo-Rechtfertigungen für diese Unterdrückung geliefert. Wenn wir also den Kirchen sagen: „Könnt Ihr uns unterstützen?“, heißt das: „Wenn Ihr es nicht könnt: Hört auf, die Unterdrückung zu rechtfertigen.“ Deshalb sagen wir an einer anderen Stelle: „Überdenkt Eure Theologie – Eure Doppelmoral“, da auch die Kirche eine Doppelmoral verfolgt. Ich denke, das ist ebenfalls eine der stärksten Botschaften Kairos‘: Vergesst, was draußen passiert! Vertraut auf Gott und auf Euch! Diese Vision geben wir unserem Volk und unserer Jugend. Aber unsere Rolle ist es genauso, die Kirchen und die internationale Gemeinschaft an ihre Verpflichtung zu erinnern, die Wahrheit zu sagen und für die Gerechtigkeit zu arbeiten. Viele Kirchen haben positiv auf diesen Aufruf reagiert. Sie sahen dieses Dokument als neue Chance zum interreligiösen Dialog, als einen neuen Einstieg, ihr Verständnis des Konflikts zu überdenken. Denn man kann dieses Dokument nicht beschuldigen, die Palästinenser über die Israelis stellen zu wollen. Im Gegenteil – wir sagen der Welt: Ersetzt Juden nicht durch Palästinenser, weil das wieder ein Blutvergießen geben wird. Aber wir haben auch Kritik erhalten: „Diese Leute meinen es nicht ernst genug. Sie versuchen, ihren Hass und Antisemitismus in weiche Worte zu verpacken.“

Häufig erfährt Kritik an Israel den Vorwurf antisemitisch zu sein. Was antworten Sie wenn “Kairos Palestine” des Antisemitismus beschuldigt wird?

Kassis: Wenn jemand dieses Dokument des Antisemitismus bezichtigen würde, dann würde ich lachen und sagen: „Ok. Zeige es mir.“ Denn in diesem Dokument findet sich eine klare Verurteilung von Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie in jeder Form. Wir haben auf Arabisch geschrieben, um unser Volk herauszufordern sich mit Antisemitismus, Rassismus und dem Gebot der Feindesliebe auseinanderzusetzen. Ich denke, dass dieser Antisemitismusvorwurf nur ein Trend ist, der von der israelischen Propaganda verwendet wird – überall, bei jeder Gelegenheit und jederzeit. Und es gibt diese Chöre die dem nachlaufen und stets wiederholend rufen: „Antisemitismus, Antisemitismus!“ Das ist Teil der Propaganda. Jede Kritik an Israel soll als antisemitisch motiviert diffamiert werden und für mich ist das nur Unsinn!

Über welche Grenzen reden wir eigentlich, wenn es in dem Dokument heißt, dass die Besetzung palästinensischen Landes ein Unrecht war? Die Grenzen von 1900, 1948, 1967 oder die von heute?

Kassis: Diese Frage sollten Sie Israel stellen, damit wir überhaupt erkennen können, welche Gebiete als besetzt gelten. Israel weigert sich bis heute, seine Grenzen zu ziehen. Seine Grenzen verlaufen überall, wo man eine israelische Flagge hissen kann – in Jordanien, Ägypten, ich weiß es nicht. Das ist Israels Problem, nicht das Problem des besetzten Volkes. Aber das ist eine allgemeine Antwort. Eine präzise Antwort geben wir in dem Dokument: Dies ist kein religiöser Konflikt. In diesem Konflikt sollte nach internationalem Recht und den UN-Resolutionen verfahren werden. Und ich denke, die UN-Resolutionen und das internationale Recht sind in diesem Punkt eindeutig: Wir reden über die Grenzen von 1967. Das ist meine Antwort, wenn die Leute sagen: „Ihr fordert die Zerstörung Israels und die Ein-Staaten-Lösung“, und so weiter. Das ist falsch. Unsere Forderungen basieren auf internationalem Recht und UN-Resolutionen. Und in diesem Punkt ist das internationale Recht eindeutig: Ost-Jerusalem ist eine besetzte Stadt, das Westjordanland und Gaza sind besetzte Gebiete, und wir sprechen von den Grenzen von 1967.

Jerusalem wird in dem Dokument als einende Macht begriffen, als Symbol für Hoffnung und Frieden. Wie nutzen Sie Jerusalem als vereinende Macht und nicht als teilende, wie es in der Realität bisweilen erscheint?

Kassis: Wissen Sie, Jerusalem hat – wie alles in diesem Land – zwei verschiedene Bedeutungen, eine spirituelle und eine physische. Wenn wir Jerusalem als vereinende Macht betrachten, reden wir über das spirituelle Jerusalem, in das Jesus Christus wiederkehren wird, und über die Stadt als solche. Jerusalem ist eine uinternationale Stadt, etwa für Deutsche oder Philippiner, aber auch eine regionale Stadt für Palästinenser. Wenn wir sagen: „Jerusalem kann das Symbol der Einheit sein“, meinen wir dies sowohl auf physische als auch auf spirituelle Art und Weise. Für Juden und Araber, für alle Religionen Abrahams, für alle Völker ist Jerusalem ein Symbol des Friedens. Daher sagen wir den politischen Kräften auf beiden Seiten: Statt die Jerusalem-Frage ans Ende zu stellen, wie Ihr es in den Verhandlungen bisher getan habt, fangt mit Jerusalem an, denn wenn ihr das Problem erst mal gelöst habt, könnte das ein Beispiel für alles andere sein, eine offene, vereinte Stadt für alle Religionen, für alle Völker. So wie es auch bei Jesaja heißt: „Es wird zur letzten Zeit der Berg, dades Herrn Tempel ist, fest stehen, höher denn alle Berge [...], und viele Völker [werden] hingehen [...] Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert aufheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen.“ Darauf sollten wir uns meiner Meinung nach konzentrieren.

Wie überzeugen Sie die Israelis, dass sie angesichts des Freiheitswillens der Palästinenser keine neue Welle der Gewalt zu befürchten haben?

Kassis: Das mache ich nicht. Ich versuche nicht, die Israelis zu überzeugen. Sehen Sie, entweder man lebt vom Schwert, das heißt von einer enorm starken und gut ausgerüsteten Armee, und redet weiterhin von Sicherheit – oder man lebt im Frieden mit seinen Nachbarn und dann kann man die Grenzen öffnen, und braucht das ganze Arsenal gar nicht mehr. Wenn Israel dem palästinensischen Volk die Hand reicht, wird es positiv reagieren. Das Prinzip, „ich muss meine Sicherheit absichern“, indem ich zuerst den kommenden palästinensischen Staat entwaffne und zweitens sage: „Ägypten, Iran, Pakistan sollten keine Atomwaffen haben“, obwohl Israel selbst Atomwaffen besitzt, führt dazu, dass jedes einzelne Land im Nahen und Mittleren Osten als Bedrohung für Israel wahrgenommen wird.
Hat Israel nicht allen Grund, das zu glauben?

Kassis: Während der Ersten Intifada und bei der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens habe ich über unsere Jugendlichen gestaunt, die auf die Straße gingen und der israelischen Armee Olivenzweige überreichten. Die Leute haben gehofft, dass dies das Ende ihres Elends und der Beginn von Frieden in der Region sein könnten. Wenn Israel es schafft, die Unterdrückung zu beenden, und den Palästinensern das Recht auf Selbstbestimmung gibt, dann sage ich Ihnen: Die Palästinenser werden Israel als normalen Staat akzeptieren. Aber wenn Israel weiterhin Land besetzt und Menschen erniedrigt, wie sollen wir da einem Frieden zustimmen? Dann bricht wieder Gewalt aus. Die Frage ist: Was kommt zuerst – das Ei oder die Henne? Ich glaube, wenn Israel anerkennt, dass es ein Land im Nahen Osten, ein „normaler Staat“ ist, mit einer wie in Clint Eastwoods „The good, the bad and the ugly“ guten, schlechten und hässlichen Seite, kein göttlicher Staat, sondern ein von Resolutionen geschaffener Staat, Resolutionen, die die internationale Gemeinschaft beschlossen hat – wenn Israel all diese Normen anerkennt, dann werden die Palästinenser, die Muslime, die Araber und alle anderen darauf positiv antworten. Bisher weigert sich Israel, sich an internationales Recht und die UN-Resolutionen zu halten. Und es versteckt sich hinter einem sehr vagen Konzept – Sicherheit.

Wenn Sie Israel sagen, reden Sie von dem Staat, der für all die Sicherheitsangelegenheiten verantwortlich ist. Aber das Dokument wurde von Christen geschrieben, von religiösen Persönlichkeiten, die sich zum selben Gott bekennen wie die Juden...

Kassis: … und die Muslime!

Gibt es Vorteile gegenüber säkularen Initiativen, da Sie wissen, dass Sie auf denselben Gott vertrauen und hoffen?
Kassis: Ja, wir haben sehr gute Erfahrungen damit gemacht: Unsere Gruppe führt Dialoge mit mehreren jüdischen Gruppen. Und auch viele Mainstream-Gruppen sehen Kairos als Dokument des Glaubens und der Hoffnung. Natürlich kritisieren sie einige Punkte im Dokument, aber selbst sie haben es nicht zurückgewiesen, wie es Politiker mit ihrem „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“-Denkmustern häufig tun. "Kairos" verweigert sich der Auffassung, es handle sich hierbei um einen religiösen Konflikt. Im Gegenteil: Es ist ein Appell an die Religionen, eine positive Rolle in unserem Konflikt einzunehmen. Dieser Aufruf richtet sich nicht nur an Christen, sondern auch an Juden und Muslime, sich anzustrengen, das Ebenbild Gottes im Gesicht des anderen zu sehen und die Religion positiv zu nutzen, damit sie zum Frieden beiträgt. Viele jüdische Gruppen haben diese Botschaft empfangen und stehen jetzt mit uns im Dialog. Ein Vertreter sagte sogar: „Lasst uns ein "Kairos"-Dokument haben!“, und eine andere Gruppe sagte: „Wir müssen die Unterschiede erkennen und ernst nehmen – aber wir müssen darauf eine Wirklichkeit aufbauen, die dieses Dokument eingeführt hat.“

Und was sagen Sie zur politischen Rolle der Säkularen in diesem Konflikt?

Kassis: Die politische Führung hat diesen Konflikt mit der Zeit monopolisiert. Wer jemand mit Deinen Ängsten spielt und sie für seine Zwecke ausnutzt – wie es zum Beispiel die israelische Regierung oder sogar religiöse Menschen tun – wirst Du mich natürlich als Tier sehen. Wissen Sie, wir haben Erfahrungen damit, wie Juden, Christen und Muslime sehr friedlich zusammengearbeitet haben. Aber das ist gegen die politischen Interessen, deshalb betonen sie die Unterschiede. Und ich hoffe, Sie stimmen mir zu wenn ich sage, dass die meisten Regierungen, egal wo, die Angst ihrer Völker ausnutzen.

In Europa benutzen rechte Parteien Islamophobie, um ihre Ziele zu erreichen.

Kassis: Sich die Angst der Leute zunutze zu machen hält sie davon ab, die Mitmenschen zu sehen. Alles was sie sehen, sind gewalttätige Tiere. Wissen Sie, wir sagen im Dokument: Wir geben zu, dass wir in Feindschaft zusammengelebt haben. Wir lebten mit Mauern, aber wir glauben, dass wir das ändern können. Mehr kann man nicht erwarten von einem Besetzten, der zum Besatzer spricht.

Der Wandel, den Sie suchen, scheint auf der persönlichen Ebene stattzufinden, nicht auf der institutionellen. Ist die individuelle Herangehensweise hilfreicher als offizielle Verhandlungen?

Kassis: Manchmal sind wir Christen immer noch versucht zu denken, dass unsere Religion besser ist als andere. Manche denken sogar, unsere Religion stehe mehr für Frieden, für Liebe – und wir schaffen es nicht, zu sehen, dass andere Religionen für das gleiche stehen. Aber wir sollten nicht unsere Religion als die Grundlage des Dialogs sehen. Es ist sehr wichtig, auch die jüdische Ansicht zum gewaltfreien Widerstand anzuhören, zu verstehen, was Muslime über Liebe und Frieden zu sagen haben. Es ist wirklich wichtig, die jüdische Position zu Rassismus zu betrachten. Was bedeutet das für sie? Wir versuchen also nicht, von unserer Perspektive aus den anderen die Hand zu reichen, sondern wir versuchen, die anderen dazu zu bringen, auf der Basis ihres eigenen Glaubens über die Themen nachzudenken, die wir benannt haben. Wer eine Lösung sucht, braucht Verhandlungen, politische Verhandlungen. Wir bieten keine Lösung an, sondern wir benennen von einer ethischen Perspektive aus die Bedingungen für einen gerechten Frieden.

Das 2009 veröffentlichte Dokument verlangt, die innere palästinensische Spaltung zwischen Gaza und Westjordanland zu überwinden, die seit 2006 andauert. Damals hat sich die internationale Gesellschaft geweigert, die Ergebnisse der palästinensischen Wahlen anzuerkennen, in denen die Hamas die meisten Sitze gewonnen hat. Im Mai 2011haben Fatah und Hamas eine Versöhnungserklärung unterzeichnet, aber „on the ground“ hat sich noch nicht viel geändert. Nach dieser Erklärung hat Israel wochenlang die Finanztransaktionen nach Palästina unterbrochen. Warum sollte jetzt "Kairos for Palestine", die „Zeit für Palästina“ sein?

Kassis: Ich glaube, es gibt eine Stimmung für Kairos, nicht nur in Palästina, sondern in der ganzen arabischen Welt. Seit der Veröffentlichung von Kairos sind viele Dinge geschehen – ich sage nicht, wegen Kairos, aber diese Ereignisse hängen mit der Stimmung von Kairos zusammen. Wir haben den Nerv der Zeit getroffen. Schauen Sie sich den Arabischen Frühling an. In Kairos sagen wir: „Die Völker sollten sich auf sich selbst besinnen und sich nicht auf andere verlassen.“ Das ist genau die Botschaft der arabischen Welt in diesen Tagen. Wir haben den Geist jedes Einzelnen in der Region berührt: Die Diktatoren in der arabischen Welt machen alle zornig, die andauernde Besatzung macht alle zornig; Gewalt und Terrorismus auf der anderen Seite macht ebenfalls alle zornig. Ob wir bald etwas erreichen oder nicht, mit diesem Dokument bahnen wir den Weg. Ein Konflikt, der seit 70 Jahren andauert, kann nicht in 70 Stunden gelöst werden, oder in 70 Tagen, oder in 7 Jahren – vor allem, wenn es um Vertrauensbildung geht. Wir unterscheiden zwischen Frieden schließen und Frieden stiften. Die politischen Anführer können Frieden schließen, aber wir, das Volk, müssen Frieden stiften, dafür bahnt Kairos den Weg. Wir haben 70 Jahre in Feindschaft gelebt, aber wir können immer noch zusammenleben. Wir dürfen uns nicht von politischen Interessen manipulieren lassen. Wir als Volk, als religiöses Volk, als Menschen des Glaubens, müssen sehen, wo wir Frieden stiften können. Kairos gibt keine Antworten, keine Lösungen, es schlägt nicht einmal Lösungen vor. Es spricht über Ungerechtigkeit, über Ungleichheit, über Rassismus, über all diese Dinge, die wir beseitigen müssen, indem wir zusammen arbeiten.

In dem Dokument heißt es, dass die internationale Gemeinschaft Israel boykottieren sollte, um die Palästinenser zu unterstützen. Gehört dies zum gewaltfreien Widerstand, den Sie wollen? Und was ist mit der Unterscheidung zwischen dem Boykott von Produkten aus den Siedlungen, dem Boykott gegen Israel und sogar dem allgemeinen kulturellen Boykott?

Kassis: Sie benennen die Sorgen vieler Kirchen weltweit, was die Boykotte betrifft. Ich denke, dass die meisten dieser Sorgen aus der Vergangenheit stammen, aus der Assoziation zwischen Boykott gegen Juden im Zweiten Weltkrieg und dem Boykott gegen Israel. Wir versuchen, zu unterscheiden: Wir sprechen über Unterdrücker, während die Juden im Zweiten Weltkrieg die Unterdrückten waren. Wir sprechen also nicht von den gleichen Juden. Es geht hier um Juden, die die Seite gewechselt haben. Wenn wir Boykotte, Divestment und Sanktionen (BDS-Kampagne) fordern, vergessen manche Menschen die Bedingungen für gewaltfreien Widerstand, die wir im Dokument nennen. Wir sagen, dass dieser Widerstand weder auf Hass noch auf Rachen basieren darf. Widerstand soll Zustände korrigieren: Sie nehmen mir etwas weg, ich boykottiere Sie, bis Sie es mir zurückgeben – nicht: Bis ich Sie zerstört habe und Sie vor mir knien und betteln. Der Unterschied ist: Unser Widerstand sieht Gottes Ebenbild in unserem Feind – das heißt, wir müssen unseren Feind respektieren, ihn lieben. Wenn ich sonst vor Gruppen spreche, ende ich mit den Worten: „Wir müssen zusammenarbeiten, um Israel zu retten, denn leider hat Israel keine guten Freunde. Die einzigen wahren Freunde von Israel sind wir, die Palästinenser. Erzählen Sie mir nicht, Deutschland oder die USA wären Israels wahre Freunde. Ein wahrer Freund reicht Dir nicht das Seil, mit dem Du Dich erhängen kannst. Diese blinde Loyalität gegenüber allem, was Israel tut, ist eine Einladung für Israel, weiter zu kämpfen und zu kämpfen und zu kämpfen.“ Selbst Shimon Peres sagte vor wenigen Wochen: „Israel kann nicht weiterhin vom Schwert leben.“ Wir brauchen also einen wahren Freund, der Israel sagt: Wenn Ihr weiterhin im Nahen Osten leben wollt, blickt nicht nach Europa, blickt auf Eure Nachbarn. Schließt Frieden mit Euren Nachbarn. Der Aufruf zum Boykott und zu Investment-Sanktionen ist unserer Meinung nach genauso zum Wohle der Israelis wie der Palästinenser.

Gibt es dazu keine Alternativen?

Kassis: Ich hasse es, an die Alternativen zu denken. Wenn die internationale Gemeinschaft keine Maßnahmen ergreift, um dieses Blutvergießen zu beenden, wenn sie weiterhin Druck auf die falsche Seite ausübt, ohne zu bedenken, welche Seite eigentlich unter Druck gehört, dann ist dies eine Einladung zum andauernden Blutvergießen. Israel als Besatzer versucht, die Palästinenser aus dem Land zu bekommen, aber die Palästinenser gehen nicht. Sie bleiben standhaft auf ihrem Land, sie leisten Widerstand, und am 15. Mai und am 5. Juni haben die Palästinenser alle überrascht, selbst unsere eigene politische Führung. Sie haben es geschafft, durch die Checkpoints in ihre eigentliche Heimat zu gelangen. Die Israelis sollten das endlich begreifen, und ihre Freunde sollten sie warnen, die Mauer eben nicht noch zwei Meter höher zu bauen, wie sie es sonst tun, sondern die Mauer um zwei Meter zu kürzen und einmal auf die andere Seite zu schauen. Einmal nachzusehen, warum diese „palästinensischen Terroristen“ so wütend sind. Sie sollen die Erniedrigungen an den Checkpoints sehen, die Flüchtlinge, die seit 60 Jahren in den Camps leben, und sie sollen aufhören zu sagen: Das ist die Schuld der Araber, die hätten die Palästinenser integrieren sollen.“ Wir müssen das Kind beim Namen nennen. Der Westen hat ständig die Palästinenser beschuldigt und Israel unterstützt, aber zu welchem Preis? Dafür, dass wir beide in einer so abnormalen Situation leben.

Also was tun?

Kassis: Selbst ein Israeli aus der Mitte, Uri Avnery, sagte: „Die Besatzung hat uns korrumpiert.“ Das heißt: Wenn Europa und die Vereinigten Staaten weiterhin diese Besatzung unterstützen, unterstützen sie die Korrumpierung der Israelis. Und Europa – vor allem Europa – sollte verstehen, dass trotz aller Einmischung die israelische Gesellschaft nach rechts driftet und auf der palästinensischen Seite die Hamas ständig an Boden gewinnt. Europa und der Westen insgesamt müssen ihre Politik ändern. Ansonsten geht der zerstörerische Kampf weiter und Europa wird den Preis zahlen.

Letzte Frage: Als Sie im Mai Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck getroffen haben, haben Sie betont, dass „Kairos Palästina – ein Moment der Wahrheit“ ein Manifest der Hoffnung ist. Was hoffen Sie für die nahe Zukunft? Was erwarten Sie?

Kassis: Ich hoffe auf Frieden auf nationaler und internationaler Ebene, auf einen gerechten Frieden, in dem die Palästinenser ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben und sich über ihren eigenen, unabhängigen Staat freuen können. Ich hoffe, dass eines Tages die israelische Gesellschaft ihre wichtigste Verantwortung akzeptiert und die Besatzung beendet. Aber Hoffnung ist für mich kein Wunschdenken, sondern Hoffnung kommt mit Handeln. Bis wir soweit sind, werden die Palästinenser standhaft ihren Unterdrückern widerstehen. Schließlich hoffe ich, dass alle unsere Anstrengungen zu einem gerechten Frieden in dieser Region führen. Und meine Hoffnung geht weiter.

Herr Kassis, vielen Dank für das Gespräch.

Übersetzung: Bodo Straub.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...