Ein angeblicher israelischer Spion wird in Kairo verhaftet – und Ägyptens Medien haben den Schuldigen für alle Probleme der vergangenen Monate ausgemacht. Die nun geifernde Paranoia erlebte unser Korrespondent in Kairo am eigenen Leib.
Seit Sonntag treibt auf den Straßen Kairos ein Gespenst sein Unwesen. Es hat schwarzes, kurzes Haar, trägt eine sportliche Sonnenbrille, ist rasiert, jüdisch, und hochrangiger Mossad-Agent. Er ist berühmt wie eine Popikone: Ilan Chaim Grapel, israelischer Spion, Brandstifter und Kriegsveteran.
Auf den ersten Blick könnte man ihn für einen der netten Touristen halten, wie man sie bis vor Kurzem noch zu Tausenden in dem Land am Nil hatte. Ein Foto in der Al-Ahram zeigt ihn grinsend auf einem Esel vor den Pyramiden, auf dem Tahrir-Platz präsentiert er Plakate und mit einem Freund im Arm steht er lächelnd im Innenhof der Al-Azhar-Moschee. Das digitale Zeitalter macht es möglich. Ein Spion, dessen digitale Fingerabdrücke ein Bilderbuch füllen könnten.
Sein gesamtes Leben heruntergeladen von einer Mobiltelefonspeicherkarte. Eine Facebook-Seite berichtet vom dümmsten Spion aller Zeiten. Ägyptische Tageszeitungen präsentieren Videos und Fotos auf ihren Internetseiten. Von Kairo bis in den Libanon sind seine Spuren verteilt: Von den Unterrichtsräumen der Al-Azhar-Moschee über das Jerusalemer King-David-Hotel bis in den Libanonkrieg 2006. Die Titelseiten der Tageszeitungen schreiben seine Autobiographie in Ägypten.
Ägyptens Zeitungen haben ihren Knochen gefunden
Am Tag der inzwischen als »Kamelschlacht« betitelten Zusammenstöße am 2. Februar 2011 sei er über den Sinai in Kairo angekommen. Er beherrsche die arabische Sprache nahezu perfekt, habe die Gesellschaft infiltriert, die öffentlichen Verkehrsmittel genutzt und schnell einheimische Freunde gefunden. Erschreckend einfach sei es für ihn gewesen, an geheime Informationen zu gelangen.
Gesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und sicherheitsrelevante Informationen habe er gesammelt. Aber auch auf den Straßen war er aktiv. Er habe Geld an die Jugend verteilt, Informanten und Soldaten rekrutiert. Er sei verantwortlich für den Konflikt zwischen Demonstranten und Militär auf dem Tahrir-Platz, schreibt die Yom el-Sabaa. Auch die religiösen Konflikte in Sol und Imbaba gehen auf sein Konto. Nebenbei habe er noch Tunnel ausfindig gemacht, um billiges Gas nach Israel zu schmuggeln, berichtet die Al-Ahram. Ausgeruht hat er sich offensichtlich nicht. Auch das erst kürzlich entbrannte Feuer im Muski-Markt Kairos habe er zu verantworten.
Das Gespenst sitzt inzwischen hinter Schloss und Riegel. Die Zeitungen aber haben ihren Knochen gefunden. Und der wird bis zum letzten Rest abgenagt. Läge man die ägyptischen Tageszeitungen vom Dienstag nebeneinander, man würde auf jeder Titelseite die Geschichte Ilan Grapels finden. Ihre Artikel übertrumpfen sich gegenseitig in der Aufzählung der Schreckensszenarien und Konflikte, die er provozierte.
Denunziationen und Schläge – wegen einer Videokamera
Die Al-Shuruq handelt am Montag in einer Titelseitenüberschrift die Ergreifung des israelischen Offiziers und des Drahtziehers der Anschläge auf das Touristenviertel Al-Hussein von 2009 gemeinsam ab – und provoziert kognitive Trugschlüsse. Seit Sonntag nahm die Berichterstattung rasch an Fahrt auf. Inzwischen steht sie in voller Blüte. War er zunächst nur ein Teilnehmer an den Tahrir-Demonstrationen, ist Ilan nun zum Sündenbock für alle Unruhen geworden, die das Land seit der Revolution erlebte.
Die Kommentare unter dem Artikel zu seiner Ergreifung überschlagen sich fast vor Freude: »Gott lobe unseren Geheimdienst«, schreibt ein Nutzer. »Lügen gehört zur Kultur Israels«, ein anderer. »Wahrlich, wir sind ein großes Land«, fügt weiter unten jemand hinzu. Auf den Straßen treibt seine Legende ihr Unwesen. In der U-Bahn, in den Kaffeehäusern und den Läden wird seine Geschichte erzählt.
In den letzten zwei Tagen habe ich nicht weniger als sieben Mal das verwunderte Getuschel hinter mir gehört, ob ich nicht ein Mossad-Agent sei. Am Tahrir-Platz wollte mir ein Soldat der ägyptischen Spezialeinheiten Informationen anbieten und meine Kamera musste ich mehrmals von unbekannten Passanten kontrollieren lassen. Ein japanischer Freund erzählte mir, dass er auf dem Weg nach Suez im Zug als israelischer Spion denunziert wurde – eine Konsequenz aus seiner Affinität für Videokameras. Er habe Schläge einstecken müssen und wurde der Polizei überstellt. Fünf Stunden lang haben sie auf der Wache seinen Computer und seine Kamera Bild für Bild und Text für Text geprüft.
»Am besten ich rufe gleich die Staatssicherheit«
»Er sprach genauso arabisch wie Du«, erklärt mir ein Kioskverkäufer, »am besten ich rufe gleich die Staatssicherheit«, fügt er mit einem breiten Grinsen hinzu. Aufgeregt kramt er die aktuellen Ausgaben der Al-Wafd und der Al-Masry Al-Youm hervor. Auf einer Seite ein Bild vom Spion mit oberägyptischen Bauern, im Inneren der Zeitung ein Bild, auf dem er wie er in einer Moschee mit Victory-Zeichen posiert und einen ägyptischen Freund im Arm hält.
Dann erzählt er mir die Geschichte anhand der Zeitungsbilder. »Hier«, sagt er, »hat er sich mit Bauern fotografieren lassen. Und hier: Er hat sogar unsere Moscheen infiltriert!« Ausserdem habe er einen Davidstern auf der Hand tätowiert gehabt, und eine Kippa getragen, als er in die Moschee ging, um zu beten und neue Soldaten zu rekrutieren. Ich kann auch innerlich nicht lachen. »Die Medien sind wie junge hungrige Hunde«, meinte am Morgen ein Freund zu mir. Und das Volk schaue den Hunden leider gerne beim Spielen zu.
Die Geisterstunde ist nun vorerst vorbei. Das Gespenst im Kerker. Jetzt kann hoffentlich wieder Ruhe in Ägypten einkehren. Der zionistische Feind im Innern hat eine Niederlage erlitten. Ein Land, das in den letzten Monaten von Unruhen, religiösen Konflikten und vermehrten Diebstählen heimgesucht wurde, kann nun endlich wieder seinem sicheren Alltag begegnen. Derweilen tobte in der Nacht zuvor im Kairener Viertel Al-Ghori eine Schlacht mit Molotow-Cocktails und Handfeuerwaffen. Noch niemand kenne die Ursache, berichtete die Al-Ahram Mittwochnacht. Warten wir noch drei bis vier Wochen, vielleicht finden sich noch ein paar Mossad-Agenten, denn dann haben auch die ägyptischen Verlage bestimmt genug Material, um endlich einen Bildband herauszugeben.