Die Kurdenprovinzen im Nordirak gelten als sicher und stabil. Aber auch dort unterdrücken die regierenden Parteien Jugendproteste mit Gewalt – acht Tote gab es schon. Auf Hilfe aus dem Ausland hoffen die Demonstranten kaum.
Er hätte gerne ein Foto mit einer Journalistin aus dem Ausland, sagt der Fotograf, zur Erinnerung, falls ihm etwas zustoße. Gerade hat er von den anonymen Morddrohungen erzählt, nächtliche Anrufe auf sein Handy. »Wenn du weiter zu den Protesten gehst, dann machen wir dich kalt«, hieß es darin. Woher sie seine Nummer haben, das weiß er nicht. Wer genau sie sind, auch nicht. Nur, dass sie irgendwie zur kurdischen Regierung gehören, gegen die seit Mitte Februar täglich Demonstranten in Sulaimaniyah auf die Straße ziehen.
Natürlich habe er Angst, sagt der Fotograf. Aber er werde weiterhin zu den Protesten gehen und Fotos machen. Ein Kollege erzählt, dass er zusammengeschlagen und seine Kamera beschlagnahmt wurde. Das ist seit Mitte Februar keine Seltenheit im nordirakischen Kurdistan. Acht Demonstranten sind mittlerweile erschossen worden, darunter ein elfjähriger Junge. Andere wurden offenbar gefoltert, gewiss aber verhaftet. Genaue Zahlen hat keiner, es gibt nur Schätzungen.
Unabhängige Journalisten haben es nun schwer in Kurdistan. »Das System hier ist autoritär, es gibt einfach zu viele Themen, über die wir nicht berichten dürfen«, sagt eine bekannte Journalistin, die fast täglich Drohungen erhält. Religion, der Staatshaushalt, Korruption, Frauenrechte – sie lächelt müde. Die Liste der verbotenen Themen ist lang, immer wieder werden Journalisten verhaftet, bedroht und an ihrer Arbeit gehindert. Sie selbst wurde während der Proteste von Sicherheitskräften angeschossen und mit drei Kugeln im Arm ins Krankenhaus eingeliefert.
Während die Journalisten erzählen, hat sich eine Gruppe Demonstranten gebildet. Sie alle wollen erzählen. Eine Lehrerin etwa, die von Anfang an dabei ist: »Die haben auf junge Leute geschossen.« Sie hat Angst, ihre Arbeit zu verlieren, bleibt deshalb lieber anonym.
Sabah Yasin hat kein Problem damit, wenn sein Name in den Medien erscheint. Er hat lange Zeit in Schweden gelebt und als Übersetzer gearbeitet. »Die Regierung in Kurdistan benutzt doch die gleichen Mittel wie Saddam Hussein: Die lassen keine Mitbestimmung zu, unterdrücken die Opposition«, kritisiert er. Überhaupt habe die kurdische Regierung »die Kurden verraten«.
»Eine Gesellschaft der Gewalt«
Was als spontane Demonstration begann – inspiriert von den Ereignisse in Tunesien und Ägypten begann –, eskalierte schnell, als die Sicherheitskräfte gewaltsam gegen die Proteste vorgingen. »Anfangs ging es doch nur um das schlechte Bildungs- und Gesundheitssystem, und natürlich die Korruption«, erzählt Nasik Kadir. Sie gehört einem Organisationskomitee an, das sich am ersten Tag der Demonstrationen bildete. »Wir haben die Proteste nicht initiiert, aber wir wollen eine gewalttätige Konfrontation verhindern«, fügt sie hinzu. Kadir selbst ist mehrmals verhaftet worden und sagt, sie werde oft beschattet. Ganz offen sichtbar fahre ein Auto ihrem hinterher, manchmal den ganzen Tag.
Mittlerweile haben die Demonstranten ihre Forderungen ausgeweitet: freie Neuwahlen, unabhängige Untersuchungen zum Tod der Demonstranten und die Auflösung der Milizen, die den beiden Regierungsparteien unterstehen und die vielen Checkpoints im Land kontrollieren.
Das Komitee wartet noch immer auf eine Antwort der Politiker und ist besorgt, dass die Kontrolle über die Demonstranten verloren gehen könnte. Denn mit jedem Tag steigt die Wut, Frustration und Gewaltbereitschaft. »Wir sind inzwischen eine gewalttätige Gesellschaft«, erzählt Shweran Roof, der ebenfalls zu dem Komitee gehört und für eine internationale Organisation arbeitet: »Hier kann doch jeder im Bazar eine Kalaschnikow kaufen.« Als am vergangenen Sonntag ein Teil der Demonstranten versuchte, eine Straßenblockade zu errichten, umringten die Sicherheitsleute die Demonstranten und begannen, mit Tränengas, aber offenbar auch mit scharfer Munition zu schießen. Nach Angaben des Direktors des Krankenhauses in Sulaimaniyah wurden über 80 Menschen mit schweren Verletzungen eingeliefert.
»Es hätte auch ohne Ägypten und Tunesien Proteste gegeben«
Auch Asos Hardi, der Chefredakteur der unabhängigen Zeitung Awene, ist besorgt: »Mit jedem Tag, der vergeht, werden die jungen Leute immer wütender. Bislang haben die Organisatoren es geschafft, die Demonstranten zu kontrollieren. Aber wie lange noch?«
Freitags gibt es auch in Erbil Proteste: im Stadtzentrum, in der Mitten des Basars, mit einem Gebet unter freiem Himmel. Am Straßenrand neben den betenden Männern stehen ihre Karren, auf denen sie später den anderen Demonstranten Kaffee und Saft, Süßigkeiten und Socken verkaufen werden. Freitags bleiben die Studenten weg, bis Nachmittags, wenn die Prediger das Podest mit dem Mikrofon an andere abgeben – in Erbil nehmen auch Geistliche an den Protesten teil. Neben dem Podest, abgeschirmt von den Männern, haben sich Frauen versammelt. Eine hält ein Bild von ihrem Sohn hoch, der von Sicherheitsbeamten erschossen wurde.
Den Köpfen des Organisationskomitees ist die Trennung zwischen Männern und Frauen bei den Protesten sichtlich unangenehm. Sie haben Angst, dass die Oppositionsparteien, darunter auch einige islamische Gruppen, die Protestbewegung an sich reißen könnten. Das passt nicht in ihr Bild von der friedlichen säkularen Revolution.
Es geht gegen die großen, etablierten Parteien Patriotische Union Kurdistan (PUK) und Kurdistans Demokratische Partei (KDP), die sich bislang die Macht mehr oder weniger hin- und hergeschoben haben. Aber eine der Oppositionsparteien, Goran, hat die besten Aussichten, ihren Einfluss zu vergrößern: 2008 spalteten sich einige PUK-Anhänger ab und gründeten Goran. »Das war ein Wendepunkt in der politischen Geschichte Kurdistans«, erzählt Chefredakteur Asos Hardi: »Zum ersten Mal mussten sich die Großen einer echten Herausforderung bei den Wahlen stellen.«
Seit den Wahlen im Juli 2009, so Hardi, hätten PUK und KDP gezeigt, dass sie eine Herausforderung ihrer Macht nicht hinnehmen. »Früher oder später wäre es auch so zu Protesten gekommen, auch ohne die Ereignisse von Ägypten und Tunesien«, vermutet er.
Ein Student in Erbil erzählt, dass es am vergangenen Sonntag nach einer Entlassungsfreier an der Universität eine spontane Demonstration gegeben habe – vielleicht 300 oder 400 Studenten. »Die Sicherheitskräfte waren sofort da und haben mit Tränengas gefeuert«, erzählt er. Außerdem hätten sie mit Stöcken auf die Demonstranten eingeschlagen.
Die Behörden versuchen derweil offenbar mit allen Mitteln, eine Ausweitung der Proteste zu verhindern. »Ich wurde am letzten Checkpoint vor Erbil nicht durchgelassen«, erzählt ein Anwalt aus Sulaimaniyah, der zum Innenministerium nach Erbil wollte. Erst als er den Innenminister persönlich anrief, durfte der passieren. Erbil und Nordkurdistan werden von der KDP kontrolliert. Somit unterstehen die Checkpoints auch der Partei und ihrer Miliz in Militäruniform.
Nach dem Bürgerkrieg der 1990er haben die beiden Parteien, die aus dem Widerstand gegen Saddam Hussein hervorgegangen sind und daraus ihre Legitimität begründen, das Land unter sich aufgeteilt: Der Norden für die KDP, der Süden für die PUK. »Es gilt die strategische Abmachung zwischen den beiden Parteien: Mach, was du willst, in deinem Teil, egal was, und ich unterstütze dich dabei«, erklärt Hardi.
»Der Westen will doch, dass es stabil hier ist«
Wer mit den Peschmerga-Milizen gegen Sadam Husseins Regime gekämpft hat, findet leichter eine Arbeit. Denn die beiden Parteien kontrollieren zum Teil auch die Wirtschaft – und in dieser Hinsicht floriert Kurdistan. Vor allem türkische Bauunternehmen bauen neue Straßen, Libanesen und Europäer verwalten die Importgeschäfte.
Kurdistan vermarktet sich als das sichere, stabile Tor zum Irak. Am türkisch-kurdischen Grenzübergang Ibrahim Khalil stauen sich die Lastwagen in beide Richtungen, es kann Stunden dauern, bis die Grenze passiert ist. Noch vor sechs Jahren war diese Grenze beinahe menschenleer. Damals war der illegale Grenzhandel lukrativ, viele Peschmerga wurden reich durch den Schmuggel. Doch mit dem Sturz Saddam Husseins wurde das UN-Embargo gegen den Irak aufgehoben, und der Handel kehrte zurück.
Von dem Boom profitieren nicht viele: PUK und KDP kontrollieren lukrativ Geschäfte durch zwei Konglomerate, durch die alle Geschäfte und Großverträge abgewickelt werden müssen: Die Middle East Group der KDP in Erbil und die Norkan Group der PUK in Sulaimaniyah. Wer die Hauptstadt verlässt und auf den neuen Straßen fährt, passiert kleine Dörfer, in denen die Fahnen der PUK und KDP flattern.
Auch in Halabja ist Armut spürbar. Die Stadt liegt in einer grünen Idylle, Kornfelder und grau-blaue Berge am Horizont. Eine kontaminierte Idylle, seitdem Saddam Hussein die Stadt 1988 mit Chemikalien bombardieren ließ – tausende starben sofort. »Die kurdische Regierung hat den Flüchtlingen damals versprochen: Wenn ihr wiederkommt, helfen wir euch«, sagt ein Journalist, der für einen dortigen Radiosender arbeitet. Die Flüchtlinge kamen in den späten 1990ern wieder, doch die Hilfe blieb aus. Besucher, Diplomaten etwa oder Politiker, werden zum Denkmal geführt und dem Friedhof mit den Massengräbern – Mitgliedern der irakischen Baath-Partei ist der ausdrücklich Zutritt verboten. Den Stadtkern mit dem kleinen Basar und den staubigen Seitenstraßen lassen sie meist aus.
An Hilfe aus dem Ausland glaubt keiner der Demonstranten. »Es interessiert sich doch eh keiner für Kurdistan, die wollen doch nur hören, dass es hier sicher und stabil ist«, sagt der Fotograf in Sulaimaniyah. Er wolle nun doch lieber gehen, sagt er, und ein paar Bilder ins Internet laden. Falls seine Kamera beschlagnahmt werde.