Hat in Ägypten im Jahre 2011 eine Revolution stattgefunden? Davon sind noch nicht alle Experten überzeugt. Doch abseits akademischer Diskussionen bekennt man sich am Nil mit Stolz zu »unserer Revolution«. Aber es macht sich auch Katerstimmung breit.
»Bierflaschen standen im ganzen Treppenhaus« erzählt Muhammad Fahmy. Der ägyptische Blogger und Streetart-Künstler hat seine Wohnung in einem Altbau in Downtown Kairo mittlerweile wieder aufgeräumt. Vom gestrigen Gelage ist nicht viel zu sehen. »Über 200 Leute waren da – 90 Prozent von denen hab ich gar nicht gekannt«, erzählt er mit müden Augen.
Die Party ist vorbei – übrig bleibt die Aufräumarbeit. Fahmys Wohnung ist ein wenig mit der Situation am Midan al-Tahrir zu vergleichen. Viele Leute sind nicht mehr auf dem bekannten Revolutionsplatz im Zentrum Kairos zu sehen. Der Platz im Herzen des Kreisverkehrs ist grün. Man sieht noch die Muster des verpflanzten Fertigrasens. Die Spuren der Unruhen sind im groben beseitigt und wie nach jeder guten Party fragt man sich: Was bleibt außer einer schönen Erinnerung?
Hat sich der Aufstand gelohnt? Hat er Veränderung gebracht? Wie geht es weiter? Es sind Fragen, die viele Ägypter weiterhin bewegen.
Der Reformprozess begann schon bald nach Mubaraks Abtritt. Ein vom Militärrat initiiertes Referendum über Verfassungsänderungen wurde von 77,2 Prozent der Wähler angenommen. Den Änderungen zufolge sollen unter anderem im September Parlaments- und im Oktober Präsidentschaftswahlen stattfinden.
Befürworter, wie etwa die Muslimbruderschaft und Mubaraks nunmehr aufgelöste Nationaldemorkatische Partei (NDP) argumentieren, dass die Verfassungsänderungen einen klaren Zeitplan schaffen und den demokratischen Transformationsprozess schnell und stabil voranbringen würden. Doch nicht alle Ägypter teilen deren Meinung. Adham Bakry, der an den 18-Tägigen Massenprotesten teilnahm, glaubt, dass der Zeitplan zu straff und das neue Parteiengesetz zu streng sei: »Es scheint einen Pakt zwischen den Muslimbrüdern, dem Militär und dem alten Regime zu geben« – deshalb hätten sie für das »Ja« im Referendum geworben, meint der 28-Jährige.
Dem neuen Gesetz zufolge müssen neu entstehende Parteien mindestens 5000 Mitglieder in 10 der 29 ägyptischen Provinzen vorweisen können. Das macht Neugründungen schwierig.
Die lang etablierte Muslimbruderschaft konnte sich Ihre langjährige Massenbasis gut zunutze machen. Im April gründete Sie die »Freiheits- und Gerechtigkeitspartei«, mit der Sie im September an den Wahlen antreten will. Zudem dürfte den Brüdern die knapp bemessene Zeit für Wahlkampagnen keine Sorgen bereiten. Sie verfügen über ausgeprägte Organisationsstrukturen. Das gilt auch für die aus der NDP hervorgegangenen »Neuen Demokratischen Partei«, obgleich es derweil widersprüchliche Berichte über deren finanzielle Kapazitäten gibt.
Andere neugegründete Parteien hingegen, wie etwa die »Demokratische Partei der Arbeiter«, befinden sich noch in der Aufbauphase und verfügen über keine Massenbasis und geringeres Finanz- und Organisationspotential. »Vier Monate sind für die kleinen säkularen Parteien zu kurz. Sie haben nicht die Kapazitäten sich zu organisieren«, bedauert Samer Soliman von der American University of Cairo.
»Na klar, war das eine Revolution. Warum? Ich war da!«
Dennoch, politische Transformationen können nach den Massenprotesten nicht geleugnet werden. Aber macht es deswegen Sinn von einer »Revolution« zu sprechen?
Dem Soziologen Jeff Goodwin zufolge ist eine Revolution eine Situation, in der ein Staat oder ein politisches Regime durch eine Volksbewegung in einem irregulären, extrakonstitutionellen und/oder gewalttätigen Prozess gestürzt wird. Revolution wird hierbei insbesondere als ein Ergebnis einer Entwicklung verstanden.
Politikwissenschaftler Jack Goldstone hingegen argumentiert, dass eine Revolution das Bestreben formeller oder informeller Volksbewegungen nach Transformation politischer Institutionen und Autorität ist. Dieses Bestreben ist nicht-institutionell und untergräbt das politische Regime. Revolution wird hierbei vielmehr als Prozess verstanden.
Das politische Regime in Ägypten wurde (noch) nicht gestürzt, so zumindest die Meinung der Mehrheit der Beobachter. Entsprechend ist Goodwin zufolge »Revolution« nicht das Wort der Wahl. Folgt man jedoch Goldstones Definition, dann kann der Sturz Mubaraks durch eine massive Volksbewegung als revolutionärer Prozess verstanden werden. Es ist damit nachvollziehbar zu argumentieren, dass Ägypten sich in einer anhaltenden Revolution befindet.
Mit solchen Definitionen kann Muhammad Fahmy nicht viel anfangen: »Na klar, war das eine Revolution. Warum? Ich war da! Das war eine Revolution. Wenn du dir die Bilder anguckst und sagst, das war keine Revolution, dann kann ich dir auch nicht mehr helfen.«
Er spricht wie viele andere Ägypter mit Stolz von »unserer Revolution«. Man war dabei. Mit den anderen auf der Straße und hat wie alle auf Veränderung gehofft, gedrängt.
»Die Staatsmedien haben am Anfang immer nur von ›den Protesten‹ gesprochen. Proteste? Das sind vielleicht 50 - 100 Leute. Wir sprechen von Revolution, weil alle Teile der Bevölkerung beteiligt waren. Wir marschierten aus Nasr City bis nach Downtown. Über drei Stunden. Alle waren dabei. Ganz normale Leute. Du sahst alle Altersklassen.«
Auch von dieser Menschenmasse hat Muhammad sicher weniger als 90 Prozent gekannt – wie auf der Party in seiner Wohnung.
»Diese Angstbarriere ist weg«
»Ich gucke ich dem Polizeibeamten ins Gesicht und der guckt weg. Das ist der größte Sieg für mich«
Bei den Protesten im Frühjahr handelte es sich unabhängig von allen faktischen Veränderungen und zukünftigen Entwicklungen um ein kollektives Erleben mit langfristigen Folgen. Es stellt für Ägypten eine Zäsur dar. Auch der mächtige Militärrat kann diese Entwicklung nicht zurückdrehen.
»Ich bin glücklich. Wenn ich auf der Straße gehe, gucke ich dem Polizeibeamten ins Gesicht und der guckt weg. Das ist der größte Sieg für mich«, berichtet Adham Bakry in seiner Erdgeschosswohnung im Stadtteil Mohanddessin. »Diese Angstbarriere ist weg«, fährt er erleichtert fort. »Die Menschen dürfen nie wieder vergessen, dass die Polizei für uns da ist. Nicht andersherum.«
Zurück in der Nähe des Tahrir-Platzes. Die meisten Autos, die am ägyptischen Parlamentsgebäude vorbeifahren, zeigen in irgendeiner Form die Nationalfarben Ägyptens. Neben dem ohnehin vorhanden Nationalstolz zeigen die Autofahrer damit in erster Linien Solidarität mit der Revolution. Ein fliegender Verkäufer läuft zwischen den wartenden Autos auf und ab und preist ägyptische Flaggen an. Für Nachschub ist in Kairo also immer gesorgt.
Vom Verkehr mal abgesehen kommt Ägyptens Hauptstadt nach dem stürmischen Jahresbeginn langsam wieder zur Ruhe. Die weiterhin geltende nächtliche Ausgangssperre zwischen 2 und 5 Uhr beeinträchtigt das öffentliche Leben kaum. Weitere Einschränkungen sind Fehlanzeige.
An der wartenden Autoschlange zieht eine Gruppe von zwanzig Demonstrierenden vorbei. Sie wollen zum nahegelegenen Midan al-Tahrir. Sie sind laut, skandieren Sprüche. Die am Parlamentsgebäude postierten Polizisten nehmen kaum Notiz von dem Grüppchen. Manche schauen nicht einmal auf. Ein Bild – vor wenigen Monaten noch undenkbar. Jeglicher Protest oder auch nur suspekte Menschenansammlungen wurden unter Mubarak sofort aufgelöst. Protest war tabu. Die Bereitschaftspolizei gefürchtet. Die plötzliche Normalität öffentlicher Protestbekundungen ist ein Novum in Ägyptens jüngerer Geschichte. Sie sind eine ägyptische Revolution – jenseits akademischer Definition.