Im Senegal üben islamische Bruderschaften, besonders die Muriden, Macht auf Politik und Gesellschaft aus. Ein Gespräch mit dem Politologen Ibrahim Thiam über Gefahr und Grenzen ihrer Einflussnahme.
Alsharq: Die Muriden pflegen seit Jahrzehnten umfangreiche politische Netzwerke. Ihre Führer haben vielfach versucht, den Einfluss auf ihre Anhänger in politischen Einfluss umzusetzen. Wie läuft dieser Prozess konkret ab?
Bei den Kommunalwahlen im März 2009 gingen einige wichtige Städte an die Opposition, obwohl führende Muriden zur Wahl der Regierungspartei PDS aufgerufen hatten. Zeichnet sich hier ein schwindender Einfluss der Bruderschaft ab?
Eigentlich wurde die Wahlempfehlung mit dem politischen Machtwechsel im Jahr 2000 begraben. Denn sowohl führende Muriden als auch prominente Vertreter der tidjanischen Bruderschaft sprachen sich zu Gunsten des damaligen Präsidenten Abdou Diouf aus. Die Bevölkerung sah jedoch einen großen Widerspruch zwischen den Wahlempfehlungen und den Interessen des Volkes. Sie reagierten nicht darauf. Die Talibé haben zum Teil ein eigenes politisches Selbstbewusstsein entwickelt. Die Wahlen 2009 haben dann gezeigt, dass die Wahlempfehlungen ihr Gewicht verloren haben. Die meisten sogenannten Führer, die sich für einen Politiker äußern, tun dies nur für ihr eigenes Geldkonto.
Geldgeschenke für Wahlempfehlungen – im Senegal eine Dienstleistung
Heißt das, es fließen direkte Bestechungsgelder für diese Art der Wahlempfehlung?
Hier wird es als Dienstleistung gesehen. Der Staat oder der eventuelle Kandidat für eine politische Partei braucht die Unterstützung dieser Marabouts, denn sie haben so viele Leute, die ihren Empfehlungen folgen. Das ist ein großes Wählerpotenzial. Jeder Kandidat oder jede Partei sucht nach Unterstützung. Deshalb geben sie Geld, Landstücke oder Autos als Geschenk. Dass dies Bestechung ist, wagt hier aber keiner zu sagen.
Der seit 2000 amtierende Präsident des Senegal, Abdoulaye Wade, ist bekennender Muride. Viele Kritiker werfen ihm vor, die Muridenbruderschaft übermäßig zu fördern. Wie viel ist an diesen Vorwürfen dran?
Es gibt heute keinen Zweifel daran, dass Präsident Abdoulaye Wade die Muridenbruderschaft einseitig favorisiert. Seit dem Anfang seiner Amtszeit hat Wade offen seine Zugehörigkeit zu der Muridenbruderschaft gezeigt. Dies wurde von niemanden kritisiert, da er das Recht dazu hat. Aber es folgte eine Reihe an Investitionen und anderen Schritten, die zeigte, dass der Präsident aus dem Amt heraus die Muriden bevorzugt behandelt hat. Marabouts anderer Bruderschaften, die Presse und die Zivilgesellschaft warnen davor, dass ein bruderschaftlicher Staat entsteht. Die immer existierende Stabilität der Beziehungen zwischen den verschiedenen Bruderschaften wird dadurch gefährdet.
In einigen Nachbarländern des Senegal wie zum Beispiel in Gambia geraten die traditionellen Sufibruderschaften zunehmend von Seiten salafistisch orientierter Bewegungen unter Druck. Viele jungen Muslime schließen sich diesen meist radikaleren Gruppen an. Fürchten die Muriden im Senegal die islamischen Reformer?
Die salafistisch orientierten Bewegungen breiten sich zwar in vielen Ländern Afrikas aus, aber sie stellen keine bedeutende Gefahr für die Bruderschaften im Senegal dar. Die Reformer sind seit mehreren Jahrzehnten im Senegal und haben verschiedene Verhaltensweisen gegenüber den Bruderschaften entwickelt. Die eine Tendenz zeigt Respekt für die Bruderschaften auf Grund ihrer historischen Rolle im Kampf gegen die Kolonialherrschaft. Die andere Gruppe ist dagegen sehr kritisch gegenüber den Bruderschaften. In den Straßen Dakars sieht man immer häufiger junge Leute, die durch ihre Kleidung ihre religiöse Orientierung zur Schau stellen. Männer lassen den Bart wachsen, tragen ab und zu Turban, die Frauen sind an den Kopftüchern zu erkennen. Die Muriden sehen aber keinen Grund, die islamischen Reformer zu fürchten, denn ihr Einfluss ist ihnen gegenüber sehr gering.
Was kritisieren denn die salafistischen Reformer an den Bruderschaften?
Die Reformer meinen, dass die Bruderschaften heute nicht mehr den islamischen Richtlinien folgen, die ihre Gründer hinterlassen haben. Die Salafisten kritisieren, dass die Marabouts mehr verehrt werden als der Prophet Muhammad und dass die Schriften der Gelehrten der Bruderschaft mehr gelesen werden als der Koran. Sie monieren auch Exzesse bei den Bruderschaften, so zum Beispiel, dass sich die Anhänger vor ihrem Marabout hinknien, um ihm Geld zu geben.
»Sie reisen durch die Welt, arbeiten hart und investieren in der Heimat«
Neben ihren ausgedehnten politischen Netzwerken unterhalten die Muriden auch ein dicht gespanntes Netz an wirtschaftlichen Aktivitäten. Wo überall in der senegalesischen Wirtschaft haben sie ihre Finger im Spiel?
Die Muriden sind hauptsächlich im Handel aktiv. Nach der Dürrekatastrophe in den 1970er Jahren sind viele Muriden in die Städte gewandert. Dort fingen sie im kleinen Rahmen mit dem Handel an. Durch ihren starken Willen und ihre Disziplin waren sie erfolgreich. Der Handelssektor lag in den 1980er Jahren fast ausschließlich in den Händen der Libanesen, aber hier haben die Muriden aufgeholt. Da die meisten dieser Handelsaktivitäten im informellen Sektor sind, würde der Staat sie gerne formalisieren. Das würde die Kontrolle erleichtern. Einer der erfolgreichsten Muriden ist sicherlich Serigne Mboup. Er leitet die Holding CCBM mit einem dutzend Filialen. Es gibt aber auch viele andere erfolgreicher Muriden im Agrobusiness und in anderen Geschäftsbereichen.
Gibt es konkrete Zahlen zur ökonomischen Macht der Muriden?
Es ist sehr schwierig, konkrete Zahlen zur ökonomische Macht der Muriden zu erfassen, denn kein Unternehmer wird sich anhand seiner bruderschaftlichen Zugehörigkeiten registrieren. Eine formelle Identifikation könnte sich schnell destabilisierend auf den Senegal auswirken.
Die Muriden unterhalten Wirtschaftsbeziehungen bis nach Westeuropa. In welchen Feldern sind sie dort tätig?