Lange hatte es den Anschein, als sei ausgerechnet Syrien immun gegen den Demokratievirus, der seit Jahresbeginn fast den gesamten Nahen Osten infiziert hat. Doch seit letzter Woche gehen auch tausende Syrer gegen das Assad-Regime auf die Straße. Nach Angaben von Oppositionellen sind dabei mindestens 22 Menschen getötet worden, hunderte wurden verletzt. Dutzende Syrer wurden festgenommen.
Zentrum der Unruhen ist die Stadt Daraa, etwa 100 Kilometer südlich von Damaskus an der Grenze zu Jordanien gelegen. Der Auslöser für die Zusammenstöße war vergleichsweise nichtig. Mehrere Jungen – angeblich war keiner älter als 17 – schrieben Anfang März an mehrere Häuserwände den aus Tunesien und Ägypten bekannt gewordenen Slogan: »Das Volk will den Sturz des Regimes«. Die Kinder wurden anschließend verhaftet und in Handschellen aus dem Klassenzimmer geführt.
Daraufhin demonstrierten am vergangenen Freitag mehrere tausend Bürger der Stadt gegen die Polizeiwillkür. Die Sicherheitskräfte gingen mit großer Härte gegen die Demonstranten vor, mehrere Menschen wurden getötet. An den folgenden Tagen versammelten sich immer mehr Menschen in Daraa und umliegenden Orten, um zu protestieren. Die Stadt ist mittlerweile weitgehend abgeriegelt. Journalisten wird der Zugang zur Stadt verboten, auch das Mobilfunknetz wurde offenbar abgestellt. Klar scheint, dass es auch am Donnerstag zahlreiche Tote gab, unter ihnen sollen auch mehrere Kinder sein. Verwackelte Amateuraufnahmen im Internet machen deutlich, dass Assads Sicherheitskräfte offenbar gezielt auf die Köpfe der Demonstranten feuerten.
Was als Protest gegen das Vorgehen der Sicherheitskräfte begann, ist längst zu einem Aufstand gegen Korruption und die Herrschaft des Assad-Clans geworden, der die Fäden in Politik und Wirtschaft in den Händen hält. Besonders Rami Makhlouf, ein Cousin von Staatspräsident, zieht den Zorn vieler Syrer auf sich. Er ist Mehrheitseigner des führenden Mobilfunkanbieters Syriatel und auch im Öl- und Bankensektor aktiv. Sein Vermögen wird auf fünf Milliarden US-Dollar geschätzt.
Assads reicher Cousin zieht den Zorn vieler Syrer auf sich
In westlichen Wirtschaftsverbänden ist es ein offenes Geheimnis, dass gegen den Willen des Oligarchen Makhlouf kein ausländisches Unternehmen in Syrien aktiv werden kann. Selbst vor einem Kräftemessen mit Mercedes Benz scheute der 41-Jährige in der Vergangenheit nicht zurück. Mit Hilfe seiner familiären Verbindungen ließ Makhlouf 2004 kurzerhand ein Gesetz verabschieden, das den Stuttgarter Autobauer de facto zwang, ihn zum exklusiven Generalvertreter für Mercedes in Syrien zu machen. Zuvor hatte Daimler jahrelang mit einer anderen syrischen Familie zusammengearbeitet, deren wirtschaftlicher Erfolg Makhlouf offenbar ein Dorn im Auge war.
Am vergangenen Freitag noch riefen die Protestierenden noch Sprechchöre gegen Rami Makhlouf, zwei Tage später setzten sie die Syriatel-Filiale in Daraa in Brand – ebenso wie das örtliche Büro der herrschenden Baath-Partei.
Für Bashar al-Assad stellen die Proteste die größte innenpolitische Herausforderung dar, seit er im Jahr 2000 seinem verstorbenen Vater Hafiz an der Staatsspitze folgte. Er trat mit dem Versprechen auf Reformen und eine Öffnung des starren politisches Systems an. Doch die Hoffnungen auf einen »Damaszener Frühling« wurden schnell enttäuscht. In die Hände spielte ihm gerade die außenpolitische Isolation seines Landes, die mit dem Amtsantritt von George W. Bush begann und sich nach der Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafiq Hariri, für die Syrien verantwortlich gemacht wurde, verstärkte. Der außenpolitische Druck stärkte zunächst im Inneren die Zustimmung für den Präsidenten.
Die Ereignisse der letzten Tage und insbesondere das Massaker von Daraa könnten nun der Auslöser sein, der die traditionell tief gespaltene Opposition in Syrien eint. Denn bislang haben mehrere Oppositionsbewegungen unabhängig voneinander agiert und sich nicht selten gegenseitig bekriegt.
So kämpft schon seit Jahren eine kurdische Autonomiebewegung im Nordosten Syriens für mehr Selbstbestimmung. Dabei ist es in der Vergangenheit immer wieder zu Zusammenstößen zwischen kurdischen Demonstranten und Sicherheitskräften gekommen. In den kurdischen Städten Qamishle und Hassakah protestierten in den letzten Wochen tausende gegen das syrische Regime, nachdem sich Ende Januar ein junger Kurde in Hassakah selbst in Brand gesetzt hatte. Eine ähnliche Tat hatte im Dezember den erfolgreichen Aufstand in Tunesien initiiert.
Zwei mächtige Exilsyrer fordern Assad heraus
Daneben haben in den letzten Wochen über Facebook und Twitter verstärkt Menschenrechtsgruppen zu Protesten aufgerufen. Diese Kundgebungen wurden vom allgegenwärtigen Geheimdienst und den Sicherheitskräften im Keim erstickt, dutzende Oppositionelle, Blogger und Menschenrechtler festgenommen. Sie fordern vor allem die Aufhebung des seit 1963 geltenden Ausnahmezustands, der bürgerliche Grundrechte außer Kraft setzt.
Wie in fast allen arabischen Ländern gibt es darüber hinaus ein breites Spektrum islamistischer Bewegungen, die das Regime herausfordern. Lange Zeit spielten die Muslimbrüder dabei die Hauptrolle. Doch seitdem Hafiz al-Assad, der Vater des gegenwärtigen Präsidenten, 1982 einen Aufstand der Islamisten in der Stadt Hama mit rücksichtsloser Gewalt niederschlagen, mehr als zehntausend Menschen umbringen und weite Teile der Stadt dem Erdboden gleichmachen ließ, spielen die Muslimbrüder in Syrien kaum noch eine Rolle. Ihre Führungsfiguren sitzen im Ausland und agieren hauptsächlich von London aus, in der Heimat selbst kann die Bewegung kaum politisch agieren.
Dafür könnten zwei andere Exilsyrer in den nächsten Wochen eine wichtige Rolle spielen, die einst zum engsten Führungszirkel in Damaskus zählten. Der eine ist Abdul Halim Khaddam, der von 1984 bis 2005 Vizepräsident seines Landes war, bevor er sich nach Paris absetzte. In der letzten Woche kam es auch in Khaddams Heimatstadt Baniyas zu Protesten gegen die Regierung. Beobachter vermuten, dass der noch immer gut vernetzte 78-Jährige bei diesen Demonstrationen seine Finger mit im Spiel hatte. Berichten zufolge forderten die Protestierenden in der Stadt unter anderem die Abschaffung von Schulen, in denen Jungen und Mädchen gemeinsam unterrichtet werden, sowie die Zulassung verschleierter Lehrerinnen.
Der andere mächtige Exilsyrer ist Rifaat al-Assad, der Onkel des Diktators von Damaskus. Er war Kommandeur der Armee bei der Niederschlagung des Aufstands von Hama. Nur ein Jahr später versuchte er seinen Bruder Hafiz al-Assad zu stürzen, als dieser mit Herzproblemen ans Krankenbett gefesselt war. Dieser konnte die Palastrevolte aber schließlich niederschlagen, Rifaat musste ins Exil flüchten. Seither lebt er in Paris und London und ihm werden glänzende Beziehungen zu den USA und Saudi-Arabien nachgesagt. In der Vergangenheit kündigte er mehrfach an, nach Syrien zurückkehren und Präsident werden zu wollen, nachdem sein Neffe gestürzt werde. Über den Satellitensender Arab News Network, der seinem Sohn Sumer gehört, agitiert Rifaat seit Jahren gegen die Herrschaft seines Bruders.
Die Demonstranten in Daraa polemisieren gegen Assads Konfessionszugehörigkeit
Syriens Oppositionelle hoffen nun, dass Daraa zum syrischen Sidi Bouzid werden könnte. So wie in der tunesischen Provinzstadt der Sturz Ben Alis seinen Anfang nahm, soll in Daraa die syrische Revolution ihren Anfang nehmen. Doch zum jetzigen gibt es mehrere Punkte, die dagegen sprechen: Die Proteste in Daraa haben deutliche sunnitisch-islamistische Untertöne. Auf Videos ist etwa deutlich zu hören, wie die Demonstranten Slogans rufen wie: »Nein zum Iran, nein zur Hizbullah! Wir wollen einen Muslim, der Gott fürchtet.« Diese Sprechchöre richten sich nicht nur gegen die beiden wichtigsten schiitischen Verbündeten Syriens in der Region sondern auch direkt gegen Bashar al-Assad und seine Konfessionszugehörigkeit.
Der Präsident gehört nämlich wie Rami Makhlouf und der Großteil der Führungsriege in Staatsführung, Baath-Partei und Armee der Minderheit der Alawiten an. Im ganzen Land stellen diese nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Dieser kleinen Minderheit steht eine große religiöse Mehrheit von Sunniten gegenüber, der etwa drei Viertel der Syrer angehören.
Seitdem sich Hafiz al-Assad vor vierzig Jahren an die Macht putschte, haben sunnitische Islamisten immer wieder gegen die von Alawiten dominierte Staatsführung polemisiert. Ihrer Ansicht nach sind Alawiten keine wirklichen Muslime und die Familie Assad damit nicht berechtigt, das Land zu leiten. Daran änderte auch eine gemeinsame Fatwa des schiitischen libanesischen Geistlichen Musa al-Sadr und des damaligen sunnitischen Muftis von Syrien, Ahmad Kaftaru, nichts, in der die beiden 1973 bestätigten, dass die Alawiten der islamischen Glaubensgemeinschaft angehörten.
Sprechchöre, wie sie in Daraa zu hören waren, mögen nur eine Minderheit der Unzufriedenen repräsentieren. Sie unterfüttern jedoch die Regierungspropaganda, die die Unruhen als eine islamistische Revolte präsentieren wollen, bei der »ausländische Mächte« im Hintergrund die Fäden ziehen.In jedem Fall sind derartige Parolen kaum geeignet, die viel zitierte Generation Facebook in den Städten zu mobilisieren.
Genauso wenig ist der Stammesführer Ali Issa al-Abeidi eine Figur, die die Hoffnungen der jungen Syrer verkörpert. Er hatte am Dienstag in einer Videobotschaft im Internet zur Revolution gegen das Baath-Regime aufgerufen. Nach seinen Angaben sollen zwanzig syrische Stämme hinter ihm und seinem Aufruf stehen – insgesamt mehr als die Hälfte der etwa 22 Millionen Syrer.
Die Staatspresse macht SMS aus Israel für die Unruhen verantwortlich
Der Staatsapparat reagiert derweil zögerlich auf die Protestwelle. Am Mittwoch entließ der Präsident den Gouverneur der Region Daraa, Faisal Kulthoum. Die staatlichen Medien machen »bewaffnete Banden« für die Toten verantwortlich. Sie hätten Krankenwagen und Sicherheitskräfte angegriffen. Hinter den Unruhen stünden die Muslimbrüder, per SMS aus Israel seien Syrer aufgerufen worden, von Moscheen aus Unruhen zu beginnen, schreibt am Donnerstag etwa die staatliche Tageszeitung Tishreen.
Syriens Regime hat sich mit seinem pro-iranischen Kurs, den Hafiz al Assad vor drei Jahrzehnten eingeschlagen hat, viele Feinde unter den anderen arabischen Diktatoren und Monarchen gemacht. Es ist deshalb durchaus denkbar, dass etwa Saudi-Arabien die sunnitischen Aufständischen von Daraa unterstützt. Die libanesische Tageszeitung al-Akhbar berichtete, dass Leute aus dem Umfeld des libanesischen Politikers Saad Hariri sunnitische Gruppen in Syrien fördern, um damit den syrischen Rückhalt für die libanesische Hizbullah zu schwächen.
Kommentatoren in der regierungshörigen Presse bekunden derweil ihre Treue zum Kurs des Präsidenten und fordern diesen auf, seinen Weg der Reformen fortzusetzen. Doch Syriens Probleme – hohe Jugendarbeitslosigkeit, schwindende Ölreserven, notwendiger Abbau von Subventionen, um nur einige zu nennen – sind viel zu gravierend, um sie handstreichartig per Dekret des Präsidenten zu lösen. Hierfür bedarf es langfristig angelegter, durchgreifender Reformen, die Zeit brauchen – Zeit, die immer weniger Syrer ihrem Staatschef zubilligen wollen.
Mit großer Spannung wird nun der morgige Freitag erwartet. Für die Zeit nach dem Mittagsgebet wird wieder mit Protesten in Daraa in gerechnet. Auch in anderen syrischen Städten haben Oppositionelle zu Kundgebungen aufgerufen. Nach dem morgigen Tag wird absehbar sein, ob Daraa wirklich zum syrischen Sidi Bouzid werden kann.