Von Anselm Schelcher und Karolin Sengebusch
Um Rekorde wird in Nablus nicht gelaufen, nicht mal die ganze Strecke von 42 Kilometern wird absolviert. Dennoch ist der einzige Marathon im Westjordanland etwas Besonderes, denn er gehört zu den wenigen Kulturereignissen in Palästina, die nicht von internationalen Gebern ermöglicht werden.
Am 24. Dezember, einem Freitag, an dem der Verkehr der normalerweise sehr lebhaften zweitgrößten Stadt in den palästinensischen Gebieten etwas zum Ruhen kommt, versammeln sich die Läufer am neuen Campus der Najah-Universität. Laut Veranstalter sind es 5.000. Reisebusse karren aus der Stadt und Umgebung die zumeist jugendlichen Teilnehmer in Gruppen nach Nablus. Die Mitglieder der Karateschule aus Nablus nehmen genauso teil wie Schüler aus der 25 Kilometer entfernten Kleinstadt Salfit. Bei der kostenlosen Registrierung bekommen jeder Läufer ein weißes T-shirt mit dem Emblem des Marathons und seiner Läufernummer. Der Startpunkt ist ein Gewusel in weiß. Angekündigt sind drei unterschiedliche Laufstrecken. Der Halbmarathon, eine drei Kilometer lange Strecke für Rollstuhlfahrer, und für Jugendliche bis 16 Jahren eine Strecke von fünf Kilometern.
Noch sind Marathonveranstaltungen in der arabischen Welt eine Rarität. Lediglich Beirut, Amman und Abu Dhabi leisten sich seit einigen Jahren solch ein Laufspektakel. Zu diesem illustren Kreis gesellt sich mit Nablus ein auf den ersten Blick eher ungewöhnlicher Kandidat: Und dennoch richtet die 350.000 Einwohner zählende Stadt im Norden des Westjordanlands 2010 bereits zum zweiten Mal den »Internationalen Nablus-Marathon« aus.
Die allermeisten Läufer sind Schüler aus der Stadt und der Umgebung. Die meisten sind männlich, doch auch einige Frauen sind dabei, die meisten mit Sportkopftuch und in langen Hosen. Unter den prominenten Teilnehmern sind der Gouverneur von Nablus und andere Offizielle..
Premier Salam Fayyad trifft ein, schüttelt Hände, lässt sich fotografieren
»Sport wird hier nur von den Jugendlichen betrieben«, sagt Amin Bsharat, einer der Organisatoren des Marathons und Leiter der Karateschule von Nablus. Das möchte er ändern und auch Erwachsene vom Sport begeistern. Zum zweiten Mal organisiert er nun den Nablus-Lauf. Nach der Premiere im letzten Jahr mit einer Strecke von 10 Kilometern ist es dieses Jahr bereits ein Halbmarathon. Veranstalter sind der Bezirk Nablus, die Stadt Nablus, die örtliche Polizei, die Najah-Universität, das Bildungsministerium und der örtliche Kraftsportverband.
Vorbereitungskomitees kümmern sich um Streckensicherung, Sponsoring und Öffentlichkeitsarbeit. Die Organisation liegt also ausschließlich in den Händen von Palästinensern – es sind keine internationalen Geber beteiligt. Dies ist selten in den Palästinensischen Autonomiegebieten, in denen nicht nur der Haushalt der Autonomiebehörde zum Großteil aus internationalen Entwicklungsgeldern besteht. Auch viele Kulturveranstaltungen, die neue Sporthalle in Ramallah und das palästinensische Filmfestival sind durch internationale Entwicklungsgelder erst ermöglicht worden.
Mittags um eins dröhnen aus den großen Lautsprechern vor allem palästinensischer Freiheitslieder. Die Teilnehmer blicken sich suchend um, sie erwarten Salam Fayyad. Der palästinensische Ministerpräsident ist Schirmherr des Nablus-Marathons. Fayad trifft ein, schüttelt Hände, lässt sich fotografieren. Dann gibt er persönlich den Startschuss und läuft die ersten Meter mit, umgeben von einer Gruppe Bodyguards. Die jugendlichen Teilnehmer sprinten los, ruhen sich nach ein paar Minuten am Straßenrand aus oder gehen ein Stück, sprinten dann weiter bis zur nächsten Gehpause. Die Menschen am Straßenrand beobachteten mit amüsierter Miene die vorbei rennenden Massen. Viele fotografieren mit Handykameras die schwitzenden Läufer, die sich auf das Stadtzentrum zubewegen.
Langsam kommt das kulturelle Leben zurück in die »Stadt des Widerstands«
Nablus ist die zweitgrößte Stadt in den palästinensischen Gebieten. Lange Zeit war hier das Wirtschafts- und Handelszentrum Palästinas. Berühmte Dichterfamilien stammen aus Nablus, wie die von Ibrahim und Fadwa Tuqan, deren Gedichte zu den bekanntesten des Genres palästinensischer Widerstandsliteratur gehören. Während der ersten Intifada galt die Stadt auch als Zentrum des palästinensischen Widerstands. Damals erhielt die Stadt den Beinamen »Jabal an-Nar« – Berg des Feuers.
Auch während der zweiten Intifada waren die Stadt und das Flüchtlingslager Balata berüchtigt. Viele Kämpfer und auch eine Anzahl Selbstmordattentäter kamen hierher. Die israelische Armee riegelte Nablus in dieser Zeit komplett ab. Alle vier Ausfallstraßen waren blockiert durch Checkpoints, die nur mit einer Sondergenehmigung zu passieren waren. Nächtliche Ausgangssperren und viele tödlich endende Suchaktionen des israelischen Militärs brachten das öffentliche Leben fast vollkommen zum Erliegen.
Auch die einst blühende Wirtschaft brach fast vollkommen zusammen. Viele Unternehmenszweige schrumpften vollkommen und lediglich die Produktion von Olivenseife und dem »palästinensischen Käsekuchen« Knafe, beides Markenzeichen von Nablus, blieben stabil. Mit zunehmenden Einschränkungen verbreitete sich eine konservativere und ins Private zurückgezogenere Lebensweise, der öffentliche Raum verwaiste, erzählt Imad, ein weiterer Organisator des Laufes. Es gibt weder Kino noch Theater in der Stadt, keine Musik- und Kulturveranstaltungen wie in Bethlehem, Jenin oder Ramallah.
Allmählich hat sich die Situation wieder verbessert. Die palästinensische Polizei hat die Sicherheitslage fest im Griff, was die israelische Armee dazu brachte, sich immerhin etwas aus der Stadt zurückzuziehen. Die Menschen gehen wieder öfters aus dem Haus, der Austausch mit anderen Städten der Westbank nimmt ständig zu und auch in Nablus macht sich so etwas wie Aufbruchsstimmung bemerkbar. »Mittlerweile haben etwa 90 Prozent der Haushalte in der Stadt Internetanschluss, meint Imad Mansour, der für den Marathon eine Facebook-Gruppe gründete und damit weit über Nablus hinaus Werbung für den Lauf machte. Auch das gesellschaftliche Klima sei lockerer geworden. »Vor ein paar Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, das Frauen an dem Lauf teilnehmen«, sagt Hanan, eine Sportlerin aus Amins Karateschule.
Die Läufer passieren den einst berüchtigsten Checkpoint
Mittlerweile sind drei der vier Kontrollpunkte zumindest meistens geräumt und die Stadt und ihre Bewohner atmen auf. Der berüchtigte Checkpoint Huwwara am Ortsausgang wird seit Mitte 2011 kaum noch genutzt. Der Halbmarathon führt direkt am ehemaligen Checkpoint vorbei. Die allermeisten Läufer waren für die Fünf-Kilometer-Strecke angemeldet und haben den Lauf bereits beendet. Nun sind noch so wenige Läufer auf der Strecke, dass Vorder- und Hintermann zuweilen außer Sicht sind. An Kreuzungen stehen Polizisten, die die Richtung weisen.
Für die etwa 140 Langstreckenläufer ist die Straße nicht extra gesperrt worden. Außerhalb der Stadt laufen sie vorbei an Olivenplantagen, an viel Müll und auch an mehreren überfahrenen Straßenhunden. Lastwagen überholen die Läufer, aus einem Taxi fotografiert ein Reporter für die palästinensische Presseagentur. Es gibt keine Verpflegungsstationen, aber der Rote Halbmond fährt mit Krankenwagen die Strecke ab. Im Vorbeifahren fragen Sanitäter die Läufer nach ihrem Zustand und verteilen Wasser.
Das Ziel kommt in Sicht, nach ungefähr 16 Kilometern. Die Veranstalter bestätigen, dass die Strecke kürzer war als die 21,1 Kilometer, die ein Halbmarathon normalerweise lang ist. Das stört aber weder die Organisatoren, noch die Teilnehmer, genauso wenig wie die Tatsache, dass am Ziel keine Zeit genommen wird. Alle freuen sich einfach, dass sie es beim einzigen Volkslauf in den palästinensischen Gebieten bis ins Ziel geschafft haben. »Nächstes Jahr planen wir einen vollen Marathon«, kündigt Imad an.