14.03.2011
Jemen - Aus Pink wird Jasmin
Von Jens Heibach

Wurden Demonstrationen zu Beginn des Jahres noch hauptsächlich von der parteipolitischen Opposition organisiert, versammelt sich nun fast das ganze Land gegen Staatspräsident Ali Abdallah Saleh, allen voran die Jugend. Für Saleh wird die Lage immer bedrohlicher.

Jetzt also auch Dhamar. Die Provinz im Westen galt bislang als Hochburg der Anhänger des jemenitischen Präsidenten Ali Abdallah Saleh. Vergangenen Montag kamen nun auch dort rund 10.000 Menschen zusammen, um für den Regimewechsel zu demonstrieren. Zustandekommen und Verlauf der Demonstration in der gleichnamigen Provinzhauptstadt sind nahezu identisch mit den Protesten in anderen Städten des Landes: Scheinbar spontan versammeln sich tausende Demonstranten, besetzen einen zentralen Platz der Stadt, den sie kurzerhand zum »Platz der Freiheit« umbenennen, und verkünden, nicht eher weichen zu wollen, bis Saleh samt seiner Entourage zurückgetreten sei.

Seit dem 11. Februar 2011 erfasst eine zweite massive Protestwelle das ganze Land. Die Ballungszentren der täglichen Demonstrationen bilden erneut die Städte Sanaa und Taizz im Norden sowie Aden im Süden. Vergangenen Freitag meldeten mehrere Zeitungen, dass sich landesweit rund zwei Millionen Jemeniten zu den bislang größten Demonstrationen gegen das System Ali Abdallah Salehs versammelten.

Wurde die erste Phase der Proteste maßgeblich vom Oppositionsbündnis der »Parteien des Gemeinsamen Treffens« (PGT) organisiert, so werden die aktuellen Demonstrationen diesmal, wie auch in den meisten anderen arabischen Staaten, in erster Linie von der Jugend getragen. Fast alle wichtigen politischen und sozialen Kräfte des Landes haben sich inzwischen mit ihnen solidarisiert. Einige Beobachter, wie etwa der Politikwissenschaftler Abdallah al-Faqih, rechnen nun damit, dass der Sturz Salehs bevorsteht.

Salehs Verbündeten gehen die Tantiemen aus

Ob es tatsächlich dazu kommt, ist derzeit schwer absehbar. Zu oft hat sich der seit 32 Jahren amtierende Präsident in der Vergangenheit als gewiefter Taktiker und als Meister im Schmieden strategischer Allianzen bewiesen. Saleh baute hierbei vor allem auf die Stämme, die er einerseits in sein Patronagenetzwerk einspannte und zum anderen gegeneinander ausspielte.

Die Grundlagen für den Erhalt dieser Klientelstrukturen sind allerdings im Schwinden begriffen. Das jemenitische Staatsbudget finanziert sich bis zu 70 Prozent aus den rückläufigen Einnahmen des Verkaufs von Erdöl- und Erdgasressourcen. Im Haushaltsjahr 2010 klaffte eine Lücke von mindestens 1,6 Milliarden US-Dollar im Etat. Angesichts dieser Zahlen wird nachvollziehbar, dass sich immer mehr Verbündete aufgrund ausbleibender Tantiemen von Saleh abwenden. Noch hat der Präsident allerdings nicht all seine Anhänger verloren, die vor allem in den ländlichen Gebieten zu finden sind.

Mindestens so groß wie die Lücke im Staatshaushalt ist die Kluft in den Lebensbedingungen zwischen einer begüterten Elite und dem Rest der Bevölkerung. Der Jemen ist der ärmste Staat der arabischen Welt. Fast jeder zweite Jemenit muss mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen und jeder dritte leidet an Unterernährung, wie die Organisation für Ernährung und Landwirtschaft der Vereinten Nationen (FAO) kürzlich bekanntgab. Selbst die offiziellen Arbeitslosenzahlen sind horrend und liegen bei den Jugendlichen, die in etwa die Hälfte der rund 24 Millionen Einwohner ausmachen, bei über 40 Prozent.

Nord und Süd kommen sich näher

Diese sozio-ökonomischen Eckdaten machen nicht nur die prominente Rolle der Jugend in den Protesten begreiflich. Sie erklären zudem die breite Basis der Aufstände. Insbesondere die Tatsache, dass nun die Jugend und nicht etwa die parteipolitische Opposition die Proteste leitet, ermöglichte den Zusammenschluss wichtiger oppositioneller Bewegungen im Land. Dies ist eine Entwicklung, die zuvor lange Zeit als unwahrscheinlich galt und der sich auch andere politische Kräfte nicht mehr entziehen konnten.

Ein Beispiel hierfür ist die Sezessionsbewegungn im Süde. Diese heterogene Bewegung bildete sich im Mai 2007 auf dem Gebiet des ehemaligen Südjemens und forderte bislang mehrheitlich die Abspaltung vom verhassten Norden. Zwar hält das oberste Koordinierungsgremium der Bewegung, der Oberste Rat der friedlichen Bewegung zur Befreiung des Südens unter Vorsitz von Hasan Ba’um, nach wie vor an den Sezessionsplänen fest. Viele Aktivisten und führende Persönlichkeiten der Exilopposition des Südens wie der frühere Premierminister Haidar bin al-Attas haben mittlerweile jedoch erklärt, dass sich mit dem Sturz von Saleh und der Einführung eines föderalen demokratischen Systems die Gründung eines eigenen Staates erübrige.

Nicht nur die Aussicht auf den baldigen Regimewechsel dürfte bei einigen Aktivisten in der Südbewegung zu einem Umdenken geführt haben. In Anbetracht der im ganzen Land auflodernden Proteste wird vielen deutlich, dass nicht nur der Süden unter jahrzehntelanger infrastruktureller Vernachlässigung und politischer Marginalisierung zu leiden hatte. Auch die zahlreichen Toten und Verletzten der letzten Wochen machen den Menschen im Süden klar, dass die Demonstranten im Norden keineswegs mehr eine Sonderbehandlung durch Militär und Sicherheitskräfte genießen.

Eine der bekanntesten Aktivistinnen der Südbewegung, Zahra Saleh, fasste dieses Gefühl der Ungleichbehandlung noch im Februar so zusammen: »Die ganze Welt hat gesehen, wie das rassistische Regime in Sanaa mit den Millionen Demonstranten im Norden umgegangen ist. Es wurde weder ein einziger Tropfen Blut noch eine einzige Träne einer traurigen Mutter vergossen – anders als im Süden, wo es jeden Tag zu Unterdrückung und Tötungen kommt.«

Die täglichen Meldungen exzessiver Gewaltanwendung gegen Demonstranten durch den Sicherheitsapparat führen nicht nur zu einer Annäherung der Südbewegung zu den Aufständischen in den Provinzen des Nordens. Aus Protest gegen die Gewalt an den friedlichen Demonstranten traten zahlreiche Parlamentsabgeordnete und hohe Beamte aus der Regierungspartei aus.

Der Verband jemenitischer Ulama um den ultrakonservativen Abdalmajid al-Zindani, bislang stets eine Stütze des Regimes, verurteilte jüngst in einer Fatwa die Niederschlagung der Proteste und erhob die friedlichen Demonstrationen gar zum »Kampf für die Sache Gottes«. Die Huthi-Rebellen in der Provinz Saada, die seit 2004 immer wieder in schwere militärische Auseinandersetzung mit der Armee verwickelt sind, solidarisierten sich Ende Februar ebenfalls mit den Aufständischen im Rest des Landes.

Kandidaten bringen sich in Stellung

Auch wenn Saudi-Arabien und die Vereinigten Staaten als wichtigste externe Verbündete trotz bilateraler Verstimmungen in den vergangenen Wochen weiterhin an Saleh festhalten – er gilt beiden als alternativloser Garant der regionalen Stabilität – wird die Luft für Saleh merklich dünner.

Den entscheidenden Grund hierfür sehen einige Beobachter darin, dass sich immer mehr Stämme von Saleh abwenden. Anfangs erklärten nur einzelne Stämme ihre Solidarität mit den Protestierenden. Ende Februar gaben dann jedoch führende Scheichs der beiden größten Stammeskonföderationen im Jemen, Hashid und Bakil, bekannt, sich den Forderungen der Demonstranten anzuschließen.

Zwar sind weder die Hashid noch die Bakil ein zentral geführter, monolithischer Block, und einige Scheichs ließen unmittelbar im Anschluss an die Erklärung verlautbaren, sich nicht in die »Revolte gegen die Demokratie« einzureihen, sondern Saleh auch weiterhin Gefolgschaft zu leisten. Letztendlich könnte es Saleh allerdings zum Verhängnis werden, dass die im Jemen so einflussreiche al-Ahmar-Familie in offene Feindschaft zu ihm getreten ist. Obwohl keiner der Söhne des 2007 verstorbenen Abdallah al-Ahmars, dem obersten Scheich der Hashid, annähernd die Autorität des Vaters innehat, bekleiden insbesondere Hamid, Husayn, Sadiq und Himyar zentrale Positionen in Politik und Wirtschaft.

Noch bestreiten die beiden ehrgeizigsten Söhne Hamid und Husayn offiziell ihre Ambitionen auf das Präsidentenamt. Doch hinter den Kulissen bringen sie sich gegeneinander in Position. Am 27. Februar 2011 erklärte Husayn auf einer Pressekonferenz in Amran, dass er eine Kandidatur seines Bruders Hamid nicht akzeptieren werde. Er begründete dies grundsätzlich damit, dass die Zeit reif sei für einen zivilen Präsidenten, ein Kandidat also weder aus der militärischen noch aus der tribalen Nomenklatura stammen dürfe. Ob Hamid mit dieser differenziert vorgetragenen Ablehnung seiner potentiellen Kandidatur einverstanden ist, bleibt indes fraglich.

Dialog in der Sackgasse?

Noch fragwürdiger hingegen ist, ob eine Kandidatur der beiden Brüder von der Mehrheit der Protestierenden akzeptiert werden würde. Denn schließlich richten sich die Proteste nicht nur gegen Saleh, sondern vielmehr gegen das korrupte Establishment insgesamt. Und zu diesen zählen in den Augen vieler Jemeniten nicht nur die al-Ahmar-Söhne, sondern gemeinhin viele prominente Oppositionspolitiker. Die größte Partei im Bündnis der PGT, die islamistische Islah, in der Hamid eine zentrale Rolle einnimmt, war bis Ende der 1990er Jahre an der Regierung beteiligt. Viele führende »Islahis« profitieren nach wie vor von der Nähe zu Saleh und beteiligen sich nicht an der ernsthaften Oppositionsarbeit, welche die PGT betreiben.

Die Ziele des Bündnisses, entworfen und energisch verfolgt von als integer geltenden Persönlichkeiten wie Muhammad al-Mutawakkil oder Muhammad Qahtan, bestehen seit langem darin, das Regime zur Einleitung demokratischer und dezentraler Strukturen zu drängen. Als Saleh im Dezember 2010 eine Novelle des Wahlgesetzes zu seinen Gunsten in die Wege leitete und kurz darauf eine Änderung der Verfassung verkündete, die es ihm ermöglicht hätte, seine 2013 auslaufende Amtszeit auf unbestimmte Zeit zu verlängern, organisierten die PGT Anfang 2011 die erste Protestwelle, an der sich landesweit Hunderttausende beteiligten.

Als Saleh unter dem Eindruck der »pinken Revolution« auf die PGT zuging und Verhandlungen über eine Reform der Verfassung im Rahmen eines Nationalen Dialogs in Aussicht stellte, begingen die PGT einen folgenschweren Fehler. Da mit der Einführung eines Nationalen Dialogs, in dessen Rahmen ausnahmslos alle politischen Kräfte des Landes eine Reform der Verfassung diskutieren sollten, eine Kernforderung der Opposition erfüllt war und wohl auch, weil man befürchtete, dass eine Fortsetzung der Proteste das Land ins Chaos stürzen würde, willigten die PGT in Salehs Angebot ein.

Diesem Schritt folgte eine doppelte Enttäuschung der PGT, und erst zu diesem Zeitpunkt begann sich der Charakter der Demonstrationen im Jemen dem der Aufstände im Zeichen der arabischen Jasmin-Revolution anzunähern. Wie abzusehen war, hatte Saleh keineswegs die Absicht, die Bedingungen der PGT zur Aufnahme des Dialogs zu erfüllen. Und die jemenitische Straße, allen voran die Jugendlichen, organisierte von nun an eigenständig die gegenwärtigen Proteste, die im Jemen heute unter dem Namen der »friedlichen Revolution der Jugend« laufen.

»Die Straße ist volljährig geworden«

Trotz mancher Versuche der PGT, den Jugendlichen die Gründe für die Notwendigkeit des Dialogs zu erläutern, haben sich große Teile der Jugendlichen von den PGT abgewendet. Die PGT, die angesichts des Bluffs Salehs mit leeren Händen dastanden, schlossen sich Ende Februar erneut den Protesten an. Sie erklären zwar weiterhin ihre prinzipielle Offenheit für einen ernsthaften Dialog, machen dies aber abhängig von der Zustimmung der Jugend.

Auch der neue Report der International Crisis Group betont die Notwendigkeit von Verhandlungen zwischen dem Regime und den Aufständischen zur Beilegung der Krise und empfiehlt die PGT als Verhandlungsführer in einem friedlichen Machtwechsel. Bislang wollen nur vereinzelte Gruppen den PGT diese Rolle zugestehen. Die Eindrücke, die der über den Jemen hinaus bekannte Journalist und Regimekritiker Abdalkarim al-Khaiwani in seinen Gesprächen mit den Demonstranten kürzlich gewonnen hat, geben ein eine gute Beschreibung der verfahrenen Situation.

Die Demonstranten werden erst abziehen, wenn ihr Ziel, der Sturz des Regimes, erreicht sei, so Khaiwani. Die »Straße ist volljährig geworden« und werde keine Bevormundung durch die Parteien mehr dulden. Allerdings, so merkt er an, müsse man bei aller Vorsicht akzeptieren, dass die »Parteien ein integraler Bestandteil der Realität« seien. Eine Zusammenarbeit mit ihnen habe auch Vorteile. Erst wenn sie Anstalten machten, die Federführung in der Revolution zu übernehmen, solle man sich von ihnen lossagen.

Die Frage, ob im Jemen ein Nationaler Dialog zustande kommt, dürfte wesentlich mit darüber entscheiden, ob das Land den »libyschen Weg« einschlägt oder nicht. Insofern bleibt zu hoffen, dass Saleh substantielle Zugeständnisse unterbreiten wird – und die PGT das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen können.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...