In der autonomen Region Irakisch-Kurdistan sind, wie in vielen Teilen der arabischen Welt, Proteste gegen die Regierung ausgebrochen. In der irakischen Provinz, die als die stabilste und sicherste im gesamten Irak gilt, gehen die Menschen seit dem 17. Februar auf die Straßen. Bei den gewalttätigen Protesten sind bereits mehrere Menschen ums Leben gekommen.
Auf den ersten Blick scheint es verwunderlich, dass Bürger die eine demokratisch gewählte Regierung haben und die in der sichersten und wirtschaftlich erfolgreichsten Provinz eines Staates leben, einen Grund haben, es den Demonstranten in Tunesien, Ägypten oder Libyen gleichzutun.
Doch neben demokratischen Wahlen und einer wachsenden Wirtschaft sehen die Menschen auch, wie die regierende Elite kaum eine freie Berichterstattung für Journalisten zulässt, Journalisten ermordet werden und die Regierenden ihre Positionen vor allem für sich selber ausnutzen. Kritisiert werden von der Öffentlichkeit insbesondere die grassierende Korruption, die Vetternwirtschaft und der Klientelismus von KDP und PUK.
Das große Problem ist, dass Irakisch-Kurdistan zweigeteilt ist. Im Westen der Region dominiert der Clan des kurdischen Premierministers Masud Barzani und dessen Partei, die Demokratische Partei Kurdistans (KDP). Im Osten der Provinz sind der Clan und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) des irakischen Staatspräsidenten Dschalal Talabani vorherrschend. Noch 1994 war es zwischen beiden Gruppierungen zum so genannten „Bruderkrieg“ gekommen, der erst Jahre später durch Drohungen der damaligen US-Außenministerin Madeleine Albright beendet werden konnte.
Die Aussöhnung beider Gruppen dauert bis heute an, jede hat ihre eigenen Sicherheitskräfte und die Zweiteilung der Provinz bleibt bestehen. Zu Kämpfen ist es seit Ende der 1990er Jahre aber nicht mehr gekommen und die beiden Parteien arrangierten sich miteinander. 2009 wurde diese Eintracht durch den überraschenden Wahlerfolg der oppositionellen Partei Goran (Wechsel) gestört. Sie gewann etwa 25% der Stimmen und wurde damit aus dem Stand stärkste Oppositionskraft im Parlament. Viele Hoffnungen der irakischen Kurden liegen bei dieser Partei, die Erfolgsaussichten können aber weiterhin nicht eingeschätzt werden, obwohl sich die Partei für einen wirklichen demokratischen Wandel in der Region einsetzt.
Gegründet wurde die Partei jedoch von ehemaligen Mitgliedern der PUK, weshalb noch immer schwer zu sagen ist, ob die Partei frei von Vorurteilen gegenüber der KDP ist und für einen Wandel hin zu demokratischen Rechten und Werten für alle Bürger stehen kann. Schließlich hat auch Goran, wie die KDP und die PUK, eine eigene TV-Station und eigene Zeitungen, die nicht immer objektiv und sachlich berichten. Die Vorwürfe von Goran lauten vor allem, dass es keine Trennung zwischen den Parteien und der Regierung gäbe, alle Entscheidungen in geheimen Sitzungen der beiden Politbüros von KDP und PUK gefällt würden, es keine unabhängige Justiz gäbe, keine wirkliche Demokratie, keine Kontrolle über das Regionalbudget und auch keine Transparenz bei den zahlreichen Ölverträgen Kurdistans.
Die jetzigen Proteste finden vor allem in der liberalsten Stadt Irakisch-Kurdistans, Suleymania, statt. Aber auch aus anderen Städten werden Zwischenfälle gemeldet. Das Gewaltpotential ist auf beiden Seiten enorm. Einige Beobachter berichten von rund 40.000 Militärs in Suleymania. Auf einem Video im Internet ist zu sehen, wie Sicherheitskräfte auf Demonstranten schießen, nachdem diese in Suleymania das Büro der KDP mit Steinen beworfen und zahlreiche Fensterscheiben zerstört hatten. Auf dem Video sind außerdem zahlreiche angeschossene Männer zu sehen. Da die KDP und die PUK Goran für die Proteste verantwortlich machen, wurden in Suleymania und in Dohuk Büros der Partei niedergebrannt und das Filmmaterial des TV-Senders von Goran vernichtet. Und tatsächlich ist aus Oppositionskreisen zu hören, dass man den jetzigen Moment für richtig hält, um die Vormacht der beiden großen Parteien zu beenden. Dafür ist man anscheinend auch bereit Gewalt anzuwenden.
Nach dem Bruderkrieg von 1994 kämpfen nun also wieder Kurden gegen Kurden. Ein Kampf, von dem man eigentlich gehofft hatte, dass er nie wieder ausbrechen würde. Über Facebook und andere soziale Netzwerke versuchen kurdische Intellektuelle aus dem Ausland ihre Landsleute zu friedlichen Protesten aufzurufen. Nachdem jedoch bereits Tote zu beklagen sind, werden die Aussichten auf ein friedliches Ende der Proteste aber immer geringer. Die beiden mächtigsten Personen der Provinz halten sich derweil nicht in der Region auf. Dschalal Talabani ist weiterhin in Bagdad und beobachtet von dort aus das Geschehen. Masud Barzani hält sich in Italien auf. Aus sicherer Entfernung erteilen sie die Befehle, die Demonstranten auch mit Gewalt aufzuhalten. Hoffnung machen nur die Berichte, dass in Arbil, der größten Stadt Irakisch-Kurdistans, in der auch das Parlament der Autonomen Region sitzt, Verhandlungen der Parteien laufen.