Ein halbes Jahr ist seit den blutigen Unruhen in Kirgistan vergangen. Im Interview berichtet der Geograf und Zentralasien-Experte Matthias Schmidt über die Aufarbeitung der Ereignisse, das sowjetische Erbe und die Chancen für Versöhnung zwischen Kirgisen und Usbeken
Sehr geehrter Herr Schmidt, Sie hatten für diesen Herbst eine studentische Exkursion nach Kirgistan geplant. Aufgrund einer Reisewarnung des Auswärtigen Amtes wurde diese Studienreise nach Kirgistan untersagt. Wie kam es dazu?
Die Exkursion sollte mit Studierenden des Masterstudiengangs Geographische Entwicklungsforschung an der Freien Universität Berlin stattfinden. Wir haben uns gemeinsam im Rahmen mehrerer Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2010 intensiv auf diese Reise vorbereitet. Nach den schweren Unruhen im Juni erließ das Auswärtige Amt eine Reisewarnung für Kirgistan. Daraufhin erteilte uns die Universitätsleitung keine Genehmigung für diese Exkursion.
Denken Sie, dass die Reisewarnung und die Absage der Exkursion berechtigt waren?
Ich denke, dass beides vom jeweiligen Standpunkt aus berechtigt war. Ich kann auch das Vorgehen der Universitätsleitung gut nachvollziehen. Der Imageschaden oder der Erklärungsbedarf im Falle eines Zwischenfalls wären für die Freie Universität immens gewesen. Deshalb habe ich für die Entscheidung des Präsidiums der FU volles Verständnis. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass die Exkursion auch in Kirgistan problemlos verlaufen wäre. Es bestand für die Gruppe kein erhöhtes Sicherheitsrisiko, denn ich hatte die Exkursionsroute angepasst und die Gruppe hätte nur den als sicher geltenden Norden besucht.
Was können sie uns über die aktuelle Lage in Südkirgistan berichten?
Meine Einschätzung basiert auf Aussagen von Freunden und Bekannten in Kirgistan: Momentan scheint es ruhig zu sein. Von gewaltsamen Ausschreitungen oder Zusammenstößen habe ich in den vergangenen Wochen nichts gehört. Die Menschen in den am stärksten von den Unruhen betroffenen Gebieten sind mit dem Wiederaufbau beschäftigt. Dies ist insbesondere von großer Wichtigkeit, da der kalte Winter bereits Einzug gehalten hat.
Es gibt jedoch eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung Südkirgistans: Zum einen besetzen Kirgisen am Stadtrand von Osch Land, auf dem sie Häuser errichten. Dabei nutzen sie die gegenwärtig instabile Situation, um ihre Forderung nach Land durchzusetzen. Zum anderen ist davon auszugehen, dass sich die usbekische Minderheit in der Aufarbeitung der Ereignisse vom Juni stark benachteiligt fühlt.
Wieso fühlt sich denn die usbekische Minderheit benachteiligt?
Die Usbeken waren eindeutig die Hauptleidtragenden der Unruhen. Sowohl was die Zahl der Todesopfer angeht, als auch was die erlittenen Schäden betrifft. Dennoch wurden insbesondere Usbeken als vermeintliche Täter gerichtlich belangt und verurteilt. Der Besuch der kirgisischen Präsidentin von vornehmlich kirgisischen Opfern nach den Unruhen sowie die erwähnte Landnahme durch Kirgisen in Osch tragen zu einer Verstärkung des Gefühls der Ungleichbehandlung bei. Eine weitere beunruhigende Entwicklung stellt das Verhalten des Gouverneurs der Region Osch dar, der Direktiven der Staatsregierung konsequent ignoriert.
Hat die Regierung in Bischkek die direkte Kontrolle in der Region Osch verloren?
Ja zu einem gewissen Grad kann man dies behaupten. Hierdring steckt natürlich weiteres Unruhepotential .
Sie haben in den letzten Jahren ein Forschungsprojekt über die Folgen der postsowjetischen Transformationsprozesse auf die Mensch-Umwelt-Beziehungen in Südkirgistan durchgeführt. Inwiefern hatten die jüngsten Ereignisse Einfluss auf Ihr Projekt?
Das Projekt ist weitgehend abgeschlossen. Eine Kollegin aus Hamburg konnte jedoch ihre für Sommer 2010 geplanten Feldforschungen nicht durchführen. Unsere lokalen Mitarbeiter und Freunde sind jedoch unmittelbar von den Wirrnissen und Unruhen betroffen, was uns große Sorgen bereitet. Glücklicherweise kam es in den Untersuchungsdörfern, in denen sowohl Usbeken als auch Kirgisen leben, zu keinen gewaltsamen Ausschreitungen. Die Atmosphäre ist gleichwohl vergiftet und das Vertrauen zwischen den Bevölkerungsgruppen auf dem Tiefpunkt.
War eine solche Entwicklung, wie wir sie momentan erleben, abzusehen oder kam diese auch für Sie vollkommen überraschend?
Mit einem Sturz des Präsidenten Bakijew hatte ich über kurz oder lang gerechnet. Es hatte sich einfach eine große Unzufriedenheit in der Bevölkerung abgezeichnet. Das Ausmaß der Juni-Unruhen hat mich jedoch sehr überrascht. Dass die »ethnische Karte« bei einem eigentlichen innerkirgisischen politischen Machtkonflikt gezogen wurde, hat mich erschreckt und beängstigt. Über die Ursachen und den Auslöser der Unruhen wird ja viel spekuliert. Meiner Meinung nach handelt es sich um einen politischen Konflikt zwischen verschiedenen politischen Fraktionen Kirgistans, bei dem der ehemalige Präsident Bakijew mit großer Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Rolle spielt. Das Misstrauen zwischen der kirgisischen Mehrheit und der usbekischen Minderheit wurde dabei gezielt missbraucht. Obgleich sie oberflächlich betrachtet über viele Jahre friedlich neben- und miteinander gelebt haben, blieb mir die vielerorts leider spürbare gegenseitige Antipathie zwischen den beiden Volksgruppen während meiner Feldforschungen in Kirgistan nicht verborgen. Somit ist es nicht verwunderlich, dass bestimmte Ereignisse und entsprechende Gerüchte schnell zu weiterem Unheil führen konnten.
Wo sehen Sie die aktuellen Auslöser der Unruhen und wer trägt die Hauptverantwortung?
Wie bereits angedeutet, vermute ich, dass die von der Macht vertriebene Gruppe um den ehemaligen Präsidenten Bakijew die Übergangsregierung schwächen wollte und deshalb gezielt gewaltsame Ausschreitungen provozierte. Es gibt anscheinend Mitschnitte des Geheimdienstes von Gesprächen zwischen diesen Personen, in denen Hinweise auf ein bewusstes Schüren des Konfliktes zu finden sind. Aber es sind auch sehr viele Gerüchte im Umlauf, in denen die jeweils andere Seite der auslösenden Aggression beschuldigt wird. Ich will mich an diesen Spekulationen nicht beteiligen, halte jedoch eine gezielte Provokation durch die Usbeken für unwahrscheinlich.
Die heutigen Grenzen zwischen den zentralasiatischen Republiken wurden im Wesentlichen in den 1920er Jahren gezogen. Ist es übertrieben, man wenn man diese historischen Entwicklungen in einen heutigen Zusammenhang setzt oder wurden tatsächlich schon damals die Grundlagen für heutige Fehlentwicklungen gelegt?
Die Schaffung dieser künstlichen Grenzen, die über sieben Jahrzehnte hinweg neben verwaltungstechnischen Aspekten kaum praktische Auswirkungen für die betroffenen Menschen mit sich brachte, trägt sicherlich auch zu den heutigen schwierigen Entwicklungen bei. Es wird immer wieder betont, dass diese Grenzen beliebig gezogen wurden, was jedoch nur zum Teil korrekt ist. Zweifellos handelt es sich um willkürliche und künstliche Grenzen, die seitdem Zentralasien durchschneiden. Doch sie sind keineswegs beliebig! Sie sind vielmehr das Ergebnis intensiver ethnographischer Studien und politischer Überlegungen zu Beginn der 1920er Jahre des 20. Jahrhundert. Die Grenzen orientieren sich in erster Linie an den zuvor künstlich geschaffenen Kriterien für Nationen, gleichzeitig verfolgte die Sowjetregierung jedoch auch ganz bewusst politische Ziele. Deshalb wurden zahlreiche Kompromisse eingegangen und manche Zuordnung von Siedlungen diente ökonomischen oder politischen Zielen und entsprach nicht den vermeintlich ethnischen Gegebenheiten. Beispielsweise wurde die mehrheitlich von Usbeken bewohnte Stadt Osch der Kirgisischen SSR zugeordnet, weil Südkirgistan ansonsten über keinen zentralen Ort verfügt hätte. Das erstrangige Ziel dieser Grenzziehung kann auf die Formel »Teile und herrsche« gebracht werden. Die Sowjets versuchten ein starkes, geeintes Turkestan zu vermeiden. Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion war in sich sehr widersprüchlich. Zum einen schufen die Sowjets erst künstlich die heute bekannten Nationen, zum anderen versuchten sie nationalistische Tendenzen zu unterdrücken und propagierten einen denationalisierten Sowjetmenschen. Gleichzeitig förderten sie aber auch in allen Ecken der Sowjetunion die russische Sprache und Kultur.
Vereinfachend gesagt liegt in Kirgistan in wirtschaftlicher, kultureller und ethnischer Hinsicht eine starke Süd-Nord Teilung vor. Im Norden leben mehr ethnische Russen und das Gebiet ist wirtschaftlich stärker entwickelt. Im Süden leben viele Usbeken. Aber auch die ethnischen Kirgisien sind zwischen Nord und Süd auf verschiedene Clans verteilt. Welche Rolle spielt der Machtkampf zwischen den Regionen bei der aktuellen Krise?
Es bestehen verschiedene Machtkämpfe zwischen Clans, die häufig auch regional definiert sein können. Besonders markant wird dies derzeit etwa an dem Widerstand des Bürgermeisters von Osch gegenüber der Zentralregierung im Norden. Die immer wieder als Bedrohung beschworene Teilung des Landes in Nord- und Südkirgistan halte ich hingegen für ausgeschlossen. Teilweise hat der jüngste Konflikt sogar zu einem Zusammenrücken der Nord- und Südkirgisen geführt.
Usbekistan hatte ja seine Grenzen nach Kirgistan geschlossen und so dafür gesorgt, dass nicht alle usbekisch-sprachigen Flüchtlinge über die Grenze flüchten konnten? Wie bewerten sie das Verhalten des usbekischen Regimes während der Unruhen?
Das Verhalten der usbekischen Regierung war einerseits von egoistischem Machtkalkül, andererseits aber auch von Besonnenheit geprägt. Islam Karimov, der Präsident Usbekistans, ergriff nicht Partei für seine Landsleute in Kirgistan, womit er insbesondere die Ausweitung und ein Übergreifen des Konfliktes auf sein Land verhindern wollte. Schließlich wurden die Grenzen geöffnet und viele Usbeken konnten sich in Usbekistan in Sicherheit bringen, was durchaus als positiv zu bewerten ist. Andererseits zeigte Karimov bisher wenig Interesse an den Usbeken im Ausland und unterstützt sie nicht. Dass die Usbeken auch alle zurück nach Kirgistan wollten, demonstriert zudem die wenig attraktive Aussicht für diese Menschen, in Usbekistan zu leben.
Welche Folgen der Unruhen auf die wirtschaftliche Entwicklung lassen sich mit dem jetzigen zeitlichen Abstand ausmachen?
Die Wirtschaft Kirgistans ist durch diesen Konflikt zweifellos geschwächt. Viel Energie muss in den Wiederaufbau und insbesondere in vertrauensbildende Maßnahmen gesteckt werden. Die Inflation war in den vergangenen Monaten sehr hoch. Vielen Menschen bleibt nur die Möglichkeit als Arbeitsmigranten im Ausland tätig zu werden wobei die meisten Menschen nach Russland migrieren.
Lassen Sie uns einen Ausblick wagen. Sehen Sie Kirgisen und Usbeken in naher Zukunft wieder friedlich nebeneinander leben?
Die größte Herausforderung der kommenden Jahre für Kirgistan besteht darin, Vertrauen zwischen Kirgisen und Usbeken zu schaffen. Die Angst vor dem jeweils anderen ist groß, die Sorge vor einem Wiederaufflammen der Unruhen ebenfalls. Aber die Menschen müssen sich zusammenfinden und miteinander leben. Dazu sind ihrer Leben viel zu eng miteinander verwoben. Es wäre wichtig, wenn die Regierung wirklich vorurteilsfrei bei der Aufarbeitung der Ereignisse vorginge, was ich momentan leider nicht sehe. Eine Ungleichbehandlung der Täter und Opfer würde die Distanz zwischen den Gruppen zementieren oder gar ausweiten.
Matthias Schmidt studierte Geographie an der Universität Bonn und promovierte über Boden- und Wasserrecht in Nordpakistan. Seit zehn Jahren beschäftigt er sich im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte intensiv mit Zentralasien und führt hierzu in Südkirgistan regelmäßig Feldforschungen durch. Derzeit vertritt er den Lehrstuhl für Kulturgeographie an der Universität Hannover.