17.01.2011
Homosexualität in Gesellschaft und Literatur des mittelalterlichen Iran

von Sebastian Tschorn

Als der iranische Präsident Ahmadinedschad im September 2007 bei einem Besuch der Columbia University erklärte, im Iran gebe es keine Homosexuellen, erntete er Gelächter und Buhrufe aus dem Auditorium. Offenbar existiert für den iranischen Präsidenten nichts, was nicht existieren darf – gilt die Liebe zwischen Männern doch sowohl nach den Gesetzen der Islamischen Republik als auch nach Auffassung eines Großteils der muslimischen Theologen als ein mit dem Tode zu bestrafendes Verbrechen. Eine genauere Betrachtung der persischen Literatur des Mittelalters führt demgegenüber zu dem Schluß, dass erotische Beziehungen zwischen Männern und Jünglingen in langen Phasen der iranischen Geschichte verbreitet und zumindest in den höheren Kreisen der Gesellschaft akzeptiert waren.

Homosexualität in Koran und Sunna

Was die Beurteilung der zwischenmännlichen Liebe anbelangt, so ist das Bild, das wir aus den Quellen des islamischen Rechts, also dem Koran und den Hadithen, erhalten, als ambivalent zu bezeichnen. Einerseits erfährt auch im Koran das Volk Sodoms für seinen Begehr sexuellen Kontakts mit den die Stadt besuchenden (männlichen) Engeln schärfste Verurteilung und Bestrafung durch Gott (Koran 7:80-82; 26:160-166; 27:54-55; 29:28-34); zudem existieren Überlieferungen, die besagen, der Prophet Muḥammad habe die Hinrichtung sowohl des aktiven wie des passiven Sodomiten angeordnet, und auch sein Nachfolger Abū Bakr soll einen Homosexuellen bei lebendigem Leibe verbrannt haben. Andererseits verheißt der Koran den Gläubigen die Dienste „immerjunger“ sowie „perlengleicher“ Jünglinge im Paradies (52:24; 56:17; 76:19), und laut anderer Hadithe habe Muḥammad seine Anhänger davor gewarnt, junge Knaben anzustarren, um deren Anziehungskraft nicht zu erliegen. Offensichtlich anerkannte die islamische Sexualethik also schon von Anfang an die Existenz homoerotischer Gefühle gegenüber vorpubertären Jünglingen, und verdammte diese keineswegs. Es galt im Gegenteil als normal, dass sich ein Mann durch die körperlichen Attribute eines schönen Jünglings – also dessen unbehaarten Körper, weicher Haut und untergeordneter sozialer Stellung – in gleichem Maße angezogen fühlte wie durch die einer Frau. Ein Problem ergab sich für die islamischen Sittenwächter immer erst dann, wenn diese Gefühle auch ausgelebt wurden, also in sexuellem Verkehr – „die Handlung des Volkes des Lot“ – mündeten.

Gesellschaftliche Akzeptanz der Knabenliebe im islamischen Mittelalter

Die beschriebene Ambivalenz in der Beurteilung der Homosexualität hatte zur Folge, dass sich auch in der islamischen Literatur zwei scheinbar widersprüchliche Betrachtungsweisen in Hinblick auf die Thematik herausbildeten. Während sich die Rechtsgelehrten darauf konzentrierten, die adäquate Bestrafung für das sündhafte Verhalten des Sodomiten zu bestimmen, kam es ab dem Ende des 8. Jahrhunderts vor allem in Bagdad zu einem regelrechten Aufblühen die Knabenliebe propagierender Dichtkunst. Viele arabische Poeten bekannten sich offen zu ihrer Vorliebe für bartlose Jünglinge, was den ebenso berühmten wie scharfsinnigen Literaten und Satiriker al-Ğāḥiẓ (gest. 869) schließlich dazu veranlasste, die Argumente der Knabenliebhaber jener, welche Frauen den Vorzug gaben, in einem Werk mit dem Titel „Die Vorzüge von Mädchen und Knaben (als Sexualpartner)“ gegenüberzustellen.

Auch das aus Koran und Sunna abgeleitete Verbot des homosexuellen Analverkehrs (liwāṭ) erfuhr in dieser Zeit eine beträchtliche Aufweichung. Gesellschaftlich verpönt war nicht mehr „das Tun des Volkes des Lot“ insgesamt, vielmehr beschränkten sich Verachtung und Verurteilung seitens der Bevölkerung nunmehr auf den passiven Partner (ma’būn) innerhalb der homosexuellen Beziehung, dessen Handlung, ’ubna, nicht nur in der Volksmeinung, sondern auch in medizinischen Werken der damaligen Zeit als „widernatürliche Krankheit“ aufgefasst wurde. Demgegenüber genoß der aktive (penetrierende) Partner in einer homosexuellen Beziehung viel größeres Ansehen, da er Dominanz ausübte, und daher der von der islamischen Sozialethik dem Manne zugesprochenen Rolle nicht zuwiderhandelte. Diese gesellschaftliche Akzeptanz der aktiven Sodomie führte schließlich dazu, dass sich der berühmte Bagdader Poet Abū Nuwās (gest. 814/5) offen damit brüsten konnte, mit zahlreichen Knaben unterschiedlicher Religionen sexuellen Verkehr ausgeübt zu haben.

Knabenliebe in der persischen Literatur

Unter der Dynastie der Samaniden, die vom Ende des neunten bis zum Ende des zehnten Jahrhunderts Zentralasien und Ostiran als faktisch unabhängige Statthalter der Kalifen beherrschten, kam es nicht nur zu einer Wiederbelebung vorislamisch-iranischer Traditionen, sondern auch zur Entstehung der neupersischen Sprache und Dichtung. Von Anfang an findet sich die Anbetung schöner Jünglinge in den Ghazelen, also der beliebtesten Form persischer Liebespoesie, nicht nur als fester Bestandteil; vielmehr ist es tatsächlich so, dass das Objekt der Begierde des Dichters jener Zeit in den meisten Fällen männlichen Geschlechts ist. Diese Tatsache blieb auch unter den auf die Samaniden folgenden Herrscherdynastien der Ghaznawiden (977-1186) und Seldschuken (1040-1194) konstant, die, trotz ihrer türkischen Herkunft, die persische Sprache und Literatur förderten.

Neben der Ghazelendichtung ist in diesem Kontext vor allem die sogenannte andarz-(„Ratgeber-“)Literatur zu nennen, in der dem Leser in sprachlich ansprechender Form Ratschläge für eine moralisch korrekte Lebensführung erteilt werden. Oft handelt es sich hierbei um sogenannte Fürstenspiegel, also eine Art vom Herrscher dem Sohne hinterlassenes moralisches Testament, welches diesen zur optimalen Erfüllung seiner zukünftigen herrscherlichen Pflichten befähigen sollte. Als prominentes Beispiel für diese Kategorie kann das im Jahre 1082 von dem ziyaridischen (nordiranischen) Fürsten Keykā’ūs Ibn Iskandar verfasste Qābūsnāmah genannt werden. Doch auch die beiden bekanntesten Werke des großen Sa‛dī (gest. 1292), das Gulistān und das Bustān, mit ihrer Mischung aus poetischen und prosaischen Elementen, sind in den Korpus der andarz-Literatur einzureihen. In allen drei genannten Werken wird die Knabenliebe unverhohlen propagiert.

Der türkische Sklave als Objekt der Begierde in der persischen Literatur des Mittelalters

Objekt der Begierde in den persischen Ghazelen der samanidischen, ghaznawidischen und seldschukischen Epochen stellt meist der jugendliche Sklave (ġulām) dar, der entweder bei Hofe als Mundschenk oder Kammerdiener arbeitete, oder im Militär seinen Dienst tat. Tatsächlich scheint es so gewesen zu sein, dass sich viele iranische Herrscher neben ihren Ehefrauen und weiblichen Konkubinen auch jugendliche Sklaven männlichen Geschlechts als Geliebte hielten, die zur damaligen Zeit vor allem aus Transoxanien stammten und zum überwiegenden Teil türkischer Herkunft waren. Je nach persönlicher Begabung und Geschick konnte ein solcher Sklave im Laufe mehrerer Jahre intensiver Ausbildung in hohe militärische Positionen vordringen und sogar das Amt eines Generals oder Gouverneurs erreichen. Die Biographien herausragender Persönlichkeiten der damaligen Zeit wie des samanidischen Generals Baktūzūn, des Gründers der Ghaznawidendynastie Sabuktigīn, oder auch des Ayāz, des Geliebten Maḥmūds von Ghazna – allesamt ehemalige Sklaven – legen hiervon Zeugnis ab. Neben dem Weinausschenker begegnet uns der türkische Waffensklave in der Ghazelendichtung jener Zeit am häufigsten als Synonym für das geliebte Wesen, den ma‛šūq.

Diese Identifikation des Geliebten mit dem türkischen Waffensklaven in der persischen Dichtung führte dazu, dass man für die Beschreibung der Zustände der Liebe und der Attribute des verehrten Jünglings immer wieder auf Ausdrücke aus dem militärischen Bereich zurückgriff. So werden dessen Locken mit einem Lasso verglichen, seine Augenbrauen mit einem Bogen, und sein Blick mit einem Pfeil, der den Liebenden trifft. Die körperlichen Merkmale des türkischen Sklaven, wie dessen „mandelförmige“ Augen, avancierten so in Poesie und Volksmeinung Ostirans mit der Zeit zu einem richtiggehenden Schönheitsideal. Als bedeutende Ausnahme hat das Qābūsnāmah zu gelten, dessen Autor, Keykā’ūs Ibn Iskandar, die Charakteristika der türkischen Physiognomie als eher häßlich beurteilt, und den Türken zudem Begriffsstutzigkeit sowie Rauflust unterstellt. Die Freimütigkeit, mit der auch im Qābūsnāmah als Fürstenspiegel die Knabenliebe propagiert wird, und die Häufigkeit, mit der der ġulām als Objekt der Liebe in der Poesie der damaligen Epoche auftaucht, legen den Schluß nahe, dass die Päderastie zumindest in den höheren Kreisen der samanidischen, ghaznawidischen und seldschukischen Gesellschaften akzeptiert und verbreitet war.

Maḥmūd und Ayāz und ihre Rolle in der persischen Literatur

Von den zahlreichen Liebesbeziehungen zwischen iranischen Fürsten und deren Sklavenjünglingen, die uns bekannt sind, kommt jener zwischen dem ghaznawidischen Sultan Maḥmūd und seinem Sklaven Ayāz in ganz besonderem Maße Bedeutung zu, denn sie fungiert in der persischen Literatur des Mittelalters neben so bekannten Paaren wie Leyla und Mağnūn oder Ḫosrow und Šīrīn als Sinnbild für die wahre, bedingungslose Liebe. So wurde die Beziehung zwischen Maḥmūd und Ayāz von den iranischen Poeten trotz ihres offenkundigen Widerspruchs zu den Vorschriften des islamischen Rechts als Leinwand für die Erteilung einer Reihe von Lehren und guten Ratschlägen herangezogen, von denen im Folgenden die wichtigsten zu nennen sind.

Aus der Natur der Beziehung zwischen dem Sultan Maḥmūd und dem Sklaven Ayāz ergibt es sich, dass mit ihrer Darstellung in erster Linie das ideale Verhalten des Sklaven gegenüber seinem Herrn zum Ausdruck gebracht werden sollte. So beschreibt eine große Anzahl von Anekdoten, die das Verhältnis zwischen Maḥmūd und Ayāz zum Inhalt haben, die Rolle des letzteren als idealer Königssklave, der alle Anforderungen, die man zu jener Zeit gemeinhin an einen solchen stellte, in geradezu exemplarischer Weise erfüllt. Vor allem absolute Demut und die Bereitschaft zur Selbst-aufopferung für den Herrscher, daneben selbstverständlich die Kenntnis der höfischen Umgangsformen, zeichneten den idealen Königssklaven der Ghaznawidenzeit aus. Diese drei Eigenschaften sind es, in denen Ayāz brilliert und für die er in verschiedenen Werken der persischen Literatur, darunter dem Bustān sowie dem Gulistān des Sa‛dī, als leuchtendes Beispiel fungiert.

Übertragen wurde diese ideale Königssklavenschaft des Ayāz in der sufistischen Literatur auf die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Dort repräsentiert Ayāz nicht mehr nur den – zwar perfekten – Sklaven des weltlichen Herrschers, sondern vielmehr den Gottessklaven bzw. Menschen in dessen richtigem Verhalten gegenüber dem himmlischen Herrscher. Das mystische Konzept von der „Urbekanntschaft“ (āšnā’ī), also eines Gefühls starker Vertrautheit und Verbundenheit zwischen Gott und dem Menschen, wird mithilfe mehrerer Maḥmūd-und-Ayāz-Anekdoten in diesem religiösen Kontext ebenso thematisiert wie die Auflösung des eigenen Selbst (fanā’) als Voraussetzung für die vollkommene Einheit mit Gott. Besonders Farīduddīn ‛Aṭṭār (gest. 1221), der gemeinhin der islamischen Mystik zugerechnet wird, hat mehrere solcher Anekdoten für die religiöse Unterweisung in diesem Sinne genutzt.

Neben diesem Thema ist es ein weiteres, in dem uns die Beziehung zwischen Maḥmūd und Ayāz als Sinnbild und Beispiel begegnet, und das ist selbstverständlich die Liebe selbst. Ayāz tritt auf diesem Feld als Lehrer in Erscheinung, der seinem geliebten Maḥmūd und damit stellvertretend dem Leser immer wieder Unterricht in richtigem Liebesverhalten erteilt. Denn Maḥmūd, der ja gleichzeitig Sultan ist, begeht immer wieder den Fehler, seine weltliche hohe Stellung und Macht auch auf die Sphäre der Liebe ausdehnen zu wollen, und macht sich damit einer groben Verfehlung schuldig, die Ayāz dann zurechtrückt. So erteilt er seinem Sultan und Geliebten die Lehre, dass in der Liebe das weltliche Verhältnis zwischen Herrscher und Sklave bedeutungslos werde, sich oftmals sogar umkehre: Denn in der Liebe wird der mächtige Sultan Maḥmūd von einer Locke des schönen Sklaven Ayāz gefangengenommen. Auch weltlicher Luxus sei mit wahrer und aufrichtiger Liebe eigentlich nicht vereinbar, wie der Sultan in mehreren Anekdoten von verschiedener Seite belehrt wird. Stattdessen sei Aufopferung bis zum völligen Bankrott (iflās), im Extremfall sogar bis zum Tod, eigentlich das angemessene Verhalten des wahrhaft Liebenden, dessen einziger Lebensinhalt die Nähe zum geliebten Wesen darstelle.

Schlussfolgerung

Das Vorhandensein einer geradezu unermesslichen Vielzahl die Knabenliebe verherrlichender Zeugnisse in der literarischen Produktion mehrerer Jahrhunderte islamischer Geschichte sowie die große Bedeutung, die insbesondere das romantische Verhältnis des ghaznawidischen Sultans Maḥmūd zu seinem Sklaven Ayāz in den berühmtesten Werken der persischen Literatur einnimmt, belegen klar, dass Homoerotik bzw. Homosexualität in langen Epochen der islamischen Geschichte und in weiten Kreisen der arabisch- wie auch der persischsprachigen Welt bei Weitem nicht die Stigmatisierung und Verurteilung erfuhren, wie es im modernen Islam der Fall ist.

Selbst aus den islamischen Rechtsquellen Koran und Sunna lässt sich mitnichten eine eindeutige Verdammung homosexueller Liebe ableiten, wenn dieser Anschein von konservativ-muslimischer Seite auch gerne erweckt wird. Zwar handelte es sich eindeutig um die Zuneigung zu vorpubertären Jünglingen, und nicht etwa zu erwachsenen Männern, die gesellschaftlich akzeptiert war (und die wiederum in unserem europäisch-christlichen Wertesystem keinen Platz hat) – von der Annahme, „der“ Islam verabscheue Homosexualität, gilt es nach Betrachtung der einschlägigen Literatur jedenfalls in dieser Pauschalität Abstand zu nehmen. Und falls der iranische Staatspräsident allen Ernstes behaupten möchte, in seinem Land gebe es keine Homosexualität, so beweist dies lediglich, dass er nicht nur die Augen vor der Gegenwart verschließt, sondern auch die bedeutendsten literarischen Werke seines Landes nicht gelesen hat.

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