Liebe Leser,
der folgende Artikel von Ayad Al-Ani beleuchtet die im Kontext des Orientalismus-Diskurses bisher kaum erforschte Epoche von den römischen Eroberungen im Orient bis hin zum Aufkommen des Islams.
Verdrängung und keine Erklärung
Seit Edward Saids Buch „Orientalism“ stehen die westlichen Wissenschaften, die sich mit dem Orient beschäftigen, unter dem Generalverdacht ihre Objektivität einer Machtbeziehung unterzuordnen, die danach trachtet, die östliche Gesellschaft, Kultur und Religion unter westliche Hegemonie zu stellen. In eindrucksvoller Art und Weise gelang es Said die Vorurteile, Fehlurteile und teilweise Stimmungsmache vieler alter und aktueller Orientalisten von Cromer bis zu Lewis zu „entlarven“. Einen wichtigen Startpunkt für diese Beziehung sieht Said vor allem in der Besetzung Ägyptens durch Napoleon, die den Zeitpunkt einer verstärkten Kontaktaufnahme des Westens mit dem Orient darstellt. Allerdings werden bei dieser Betrachtung zwei wesentliche Fragen ausgespart: Wie konnten die Orientalisten quasi aus dem Stand auf derartige Denkmodelle zurückgreifen? Und vor allem: Ist dieser Orientalismus wirklich allein durch eine imperialistische Beziehung begründbar und gibt es nicht auch eine andere motivierende Dimension abseits dieser reinen Machtbeziehung?
In den letzten Jahren haben sich – von dieser Diskussion seltsam unberührt – vor allem auch arabische Historiker verstärkt einer Zeitepoche gewidmet, die fast auf den Tag genau 700 Jahre umfasst und sich von den arabischen Eroberungen des Pompeius (63 v. Chr.) bis zum Sieg der Araber über Rom in der Schlacht von Jarmûk (Hieromax) im Jahre 636 zieht. Gegenwärtig wird ein äußerst faszinierendes Bild der arabischen Welt als eine Region die weitgehend in die hellenistisch-römische integriert Welt war, deren Bürger römische Cives waren, also Rhomaioi, die berühmte Wissenschaftler, Senatoren und sogar Cäsaren stellten und die am Ende dieser Epoche weitgehend christianisiert war. Diese intensive Phase der arabisch-westlichen Beziehungen basiert auf einem ferneren, aber genauso wichtigen Ereignis, nämlich dem Feldzug Alexanders, der viele arabischen Gebiete unter griechische Herrschaft brachte, die in vielfältiger Art und Weise mit der arabisch-semitischen Kultur verschmolz. Diese Periode der engen Bindungen an den Westen endete auch nicht mit dem Sieg des Islams. Griechisch war fast noch 100 Jahre nach Jarmûk die Sprache der arabischen Verwaltung. Die arabischen Christen und ihre Anführer waren als Untertanen des Khalifen auch an der Ausbreitung des östlichen, nestorianischen Christentums bis nach Afghanistan, Tibet und Indien verantwortlich. Es gibt Schätzungen, dass etwa im Jahre 1000 mehr Christen in den von Bagdad aus gelenkten Kirchen lebten als in Europa.
Besonders hervorzuheben ist das Studium dieser Epoche nicht nur, weil sie weitgehend vergessen und verdrängt wird, sondern auch weil bei der intensiven Auseinandersetzung mit den klassischen Quellen zwei wichtige Faktoren erkennbar werden: Die Betrachtung dieser Epoche kommt überraschenderweise ohne Araber aus, denn die Tatsache, dass viele Araber römische bzw. griechische Namen annahmen, macht sie oft „unsichtbar“ – außer bei der Beschreibung räuberischer Nomadeneinfälle der Saraceni aus dem semitischen Kernland, der arabischen Halbinsel. Dass diese Araber aber vor allem eine urbane Kultur in Syrien, Palästina, Ägypten und dem Irak geprägt haben, wird interessanterweise oft ausgelassen.
Wichtiger ist fast noch, dass klassische Historiker (u.a. Procopius, Ammianus, Zosimus) schon jenen „orientalistischen“ Stil prägten, den Said bei den Orientalisten späterer Jahrhunderte verorten konnte. Mit anderen Worten, das orientalistische Konzept hat ausgeprägte historische Wurzeln, die schon in einer Periode entstanden und wirksam waren, die wir nicht mit der klassischen imperialistischen Phase des 18. und 19. Jahrhunderts vergleichen können. Damit wird auch erklärbar, was die Basis bzw. Grundmotivation und -legitimation des Orientalismus darstellt. Ein Thema, das bei Said in der Luft hängt, da er nicht erklärt, dass der Orientalismus sich in einem langtradierten Referenz- und Legitimationsrahmen bewegt, der ihn beliefert, stützt und über die Jahrhunderte weiterentwickelt. Weiter wird erkennbar, was der Grund für diese Motivation ist. Der Phase des engen Zusammenwirkens des Westens und des Orients folgten durch die islamischen Eroberungen auf der westlichen Seite schmerzhafte, vielleicht traumatische Effekte. Das Zentrum des Christentums musste nach dem Verlust des Ostens nach Rom transferiert und das Christentum als exklusive westliche Religion etabliert werden. Die Gemeinsamkeiten mit dem Orient und dem Islam wurden durch diese Neugründung abgestreift, um die eigene Identität zu schärfen. Diese Abgrenzung befrachtet mit negativen Empfindungen, Bildern und Geschichten gibt – so die hier vertretene These - die Schubkraft für den Orientalismus. Aufbauend auf einem kurzen geschichtlichen Abriss, der nicht den Anspruch auf Vollständigkeit haben kann, sondern sich auf einige bemerkenswerte Phänomene konzentriert, die das Ausmaß der geschichtlichen Verschleierung aufdecken sollen, wird sich dieser Beitrag der Frage widmen, was das für eine Kraft ist, die Jahrhunderte Geschichte verschwinden lässt und soweit geht, nicht nur dauerhafte orientalistische Konzepte aufzubauen und zu bewahren, sondern auch die eigene religiöse Geschichte zu negieren und vergessen zu machen.
Der hellenistische Orient
Mit dem Sieg Alexanders über das persische Reich und der nach seinem Tode einsetzenden seleukidischen Herrschaft trat der Hellenismus in den arabischen Raum ein. Zwar konnte Alexander sein Ziel, die arabische Halbinsel zu erobern auf Grund seines frühen Todes in Babylon nicht mehr umsetzen, jedoch ist es nachweisbar, dass die Griechen bis in den persischen Golf siedelten und ihre Spuren hinterließen. Vor Kuwait findet sich auf der Insel Failakka, dem griechischen Ikarus, ein griechischer Tempel und einer Widmung ihres griechischen Statthalters. Das heutige Bahrain wurde in dieser Periode Tylos genannt und verfügt über etliche hellenistische Funde. So war etwa arabische Karawanenstadt Palmyra bilingual, dasselbe galt für Damaskus, Bostra und Emesa. Obwohl es auch Meinungen gibt, dass die Hellenisierung niemals mehr als „skindeep“ war, so macht in letzter Zeit etwa Glenn Bowersock darauf aufmerksam, dass die Hellenisierung ein für die damalige Zeit modernes Konzept der kulturellen Dominanz war, das es schaffte, in die lokale Sprache Eingang zu finden und durch ihre Mythen die lokalen Kulturen und Glaubensvorstellungen zu revolutionieren. So lässt sich auch das ausgeprägte arabische Selbstbewusstsein zur Zeit Mohammeds durch die Einwirkungen des hellenistischen Pantheons erklären.
Die Übernahme der griechischen göttlichen Nomenklatur transformierte die ursprünglich überschaubare Anzahl arabischer Gottheiten enorm. So waren zu der Zeit, als der Prophet die Götzen in der Kaaba zerstörte, mehr als 360 arabische Götter in dieser Kultstätte vorhanden. Scheinbar war der Hellenismus als Modell in der Lage, lokaler Religiosität Ausdruck zu verleihen und damit dem Islam in gewisser Weise den Weg zu ebnen, indem ein arabisches Selbstwertgefühl etabliert werden konnte. Dieses vor allem auf dem Wege religiöser Messen und Veranstaltungen, bei denen die verschiedenen Stämme zusammenkamen und einen identitätsstiftenden Interaktionsritus aufbauen konnten. Die griechische Sprache blieb auch unter der römischen Herrschaft ein wichtiger Bestandteil Arabiens. In Städten der Dekapolis, wie etwa Gerasa in Jordanien, finden sich kaum semitische Inschriften sondern vor allem griechische. Besonders bemerkenswert ist, dass selbst nach der islamischen Eroberung, die griechische Sprache für eine lange Zeit weiter Bestand hatte. So fanden sich bei Ausgrabungen in der Negevwüste Papyri aus der Zeit des umajadischen Kalifen Abd al-Malik (ca. 685 n. Chr.), die administrative Texte in arabischer und griechischer Sprache beinhalten. Erst später ordnete eben dieser Kalif die Umstellung der Administration auf die arabische Sprache an.
Jenseits dieser Episode dürfte aber damals erkennbar gewesen sein, dass die Gebiete der ehemaligen römischen Diözese „Oriens“ zunächst keine umfassenden Anstalten machten, Arabisch anstelle des Griechischen zu übernehmen. Bei der engen Verquickung der beiden Sprachen und Kulturen dürfte dies aber wenig verwunderlich gewesen sein. Die Diskussion über das griechische Erbe bzw. die Wechselwirkung zwischen Orient und Hellenismus ist damit aber noch nicht abgeschlossen und wurde insbesondere in der arabischen Welt in Zeiten der kulturellen Reflektion auch wieder thematisiert. Eine solche Epoche muss die Anfang des 20. Jahrhunderts eingeleitete Phase der kulturellen Erhebung bzw. Renaissance gewesen sein (Nahda), als etwa Taha Hussain, einer der Führer des arabischen Modernismus, forderte, den Unterricht des Lateinischen und Griechischen nicht nur an den arabischen Universitäten, sondern auch an Oberschulen einzuführen. Dies begründete er mit der notwendigen wissenschaftlichen Unabhängigkeit, da man dann nicht mehr auf ausländische Wissenschaftler angewiesen sei, um das Jahrtausend, in dem die arabische Welt unter griechischer und römischer Herrschaft gestanden hat, zu entschlüsseln. Weitergehend wurde von Hussain und anderen die – heute fast unerhörte – Meinung vertreten, dass die gemeinsame „ägäische“ Kulturgemeinschaft zwischen Orient und Okzident uralt sein und dass im Grunde genommen „keinerlei Wesensunterschied zwischen den beiden Welten bestehe“ und es deshalb nicht zu einem Wettlauf oder sogar Konflikt der beiden Kulturen kommen müsse: „Trotz der bisweilen abweichenden, ja einander entgegengesetzten Zeitumstände und trotz der verschiedenartigen Einwirkungen ist Geist und Wesen der beiden Kulturen ungeschieden und ungetrennt ein und dasselbe“.
Das römische Arabien und die Diözese Oriens
Als die Römer im ersten Jahrhundert v. Chr. in Arabien erschienen, hatte diese Region also bereits drei Jahrhunderte griechischen Einflusses hinter sich. In dieser Zeit hatte sich das arabische Element in der Region Großsyrien, Mesopotamien und Ägypten östlich des Deltas verfestigt. Diese Gebiete werden weitgehend von der späteren byzantinischen Verwaltungseineit der Diözese „Oriens“ umfasst, weshalb dieser Begriff auch schon an dieser Stelle als geographische Bezeichnung eingeführt werden kann. Von Norden nach Süden gab es arabische Gruppen wie etwa die Osroeni im syrischen Edessa und im Euphratgebiet, die Araber der Karawanenstadt Palmyra, die Iturier im Libanon, die Nabatäer im jordanischen Petra und die Idumäer im südlichen Palästina, um nur die wichtigsten zu nennen. All diese Gruppen waren Araber. Gleichwohl stoßen wir bei der Betrachtung dieser Epoche auf ein Phänomen dieser Zeit, das die Identifikation des arabischen Elements im römischen Osten erschwert: Wir finden, insbesondere bei den westlichen Wissenschaftlern, oft eine große Zurückhaltung arabische Gruppen im Oriens als solche zu identifizieren.
Getreu dem oft zitierten Ausspruch Nöldekes, nachdem man sich hüten solle, alle semitischen Wüstenvölker als Araber im heutigen Sinne zu definieren, werden diese dann auch meist durch ihre regionalen und geographischen Verortungen bezeichnet und damit die arabische Ethnie beinahe unsichtbar. Die Araber des Orients wurden auch oft als Semiten, Aramäer und Syrer bezeichnet. Natürlich sind die Araber Semiten, sie waren in gewisser Beziehung aramäisiert und sie lebten in Syrien. Wir können an dieser Stelle nur festhalten, dass diese wichtige Phase der gemeinsamen Geschichte von Anfang an damit zu kämpfen hat, die Rolle des arabischen Elements im römischen Reich zu verorten, um die Wichtigkeit sowohl für Araber als auch für Rom bewerten zu können. Diese arabische Geschichte ohne Araber wird oft auch damit begründet, dass unter dem römischen und hellenistischen Einfluss die arabische Identität verwässert wurde. Mit dem Jahre 212 n. Chr. wurde den Bürgern der römischen Provinzen das Bürgerrecht zuerkannt und sie wurden zu Rhomaioi. Dies und die Tatsache, dass viele auch den römischen Götterglauben übernahmen und damit auch römische und griechische Namen, verdeckt oft die Rolle der Araber in dieser Region.
Es genügt für unsere Zwecke, auch auf wesentliche arabische Namen des Oriens hinzuweisen, wie etwa Zenobia, die Herrscherin von Palmyra, die erfolglos gegen die römische Herrschaft rebellierte und ihren Lebensabend als geachtete Senatorin in Rom verbrachte und auf ihren Mann Ordenathus, der das römische Reich vor den Persern rettete und dafür den Titel corrector totius Orienties erhielt. Septimus Severus war mit einer arabischen Prinzessin aus Syrien verheiratet, die damit Mutter von Caracalla war. Mit Marcus Iulius Philippus, auch genannt Philippus Arabs, übernahm der erste Araber den Purpur. Nicht nur das, er war möglicherweise sogar der erste Christ auf dem Thron der Cäsaren. Unnötig zu sagen, dass die Historiker bei der Bewertung der Frage, ob Philip Christ war oder nicht uneins sind, einig ist man sich aber über seine tolerante Haltung gegenüber den Christen und dass, wenn er tatsächlich Christ gewesen sein sollte, dies zu einer rein privaten Angelegenheit machte. Weitere wichtige arabische Elemente waren die große Anzahl von Senatoren, die der römische Osten, insbesondere Syrien und der Libanon stellten und die mit einigen Ausnahmen einheimische Araber gewesen sein mussten. Weiter können wir davon ausgehen, dass große Teile des römischen Heeres im Oriens aus arabischen Cives bestanden.
Während die arabischen Rhomaioi allzu oft im Dunkeln der Geschichte bleiben, trat ab dem 4. Jahrhundert eine neue arabische Gruppe in die Geschichte des römischen Ostens ein, nämlich die der arabischen verbündeten Stämme Roms, den sogenannten Foederati. Diese waren wohl keine römischen Bürger, waren aber in den Dienst des byzantinischen Kaisers mit dem Schutz der Grenzregionen (Limes Arabicus) betraut. Zu ihren Aufgaben zählten insbesondere die Abwehr von Nomadenstämmen und vor allem auch der Schutz gegenüber sassanidischen bzw. parthischen Angriffen auf die Diözese Oriens. Das Konzept der Foederati ist eine neue Strategie der Römer zur Sicherung der östlichen Provinzen. Es war die bittere Erfahrung aus der palmyrischen Rebellion, dass man lokalen Herrschern keine urbane Machtbasis zur Entwicklung eigener imperialer Strategien überlassen durfte. Die Foederati waren Berufskrieger, die zwar ihre Lager innerhalb des Limes aufbauen durften, es war ihnen aber zunächst nicht erlaubt, eigene urbane Zentren zu errichten.
Der wesentliche Unterschied beim Aufbau der Beziehung zu den Foederati aber war, dass Rom bzw. Byzanz ganz massiv auf die christliche Religion setzte, um diese Gruppe an sich zu binden. So stark des religiöse Band zwischen den Arabern und Rom auch war, die christliche Religion war damals noch lange nicht gefestigt und die verschiedenen theologischen Standpunkte führten immer wieder zu großen Problemen. So konnten und wollten die Araber oftmals ihren christlichen Glauben nicht immer an die wechselnden christologischen Positionen der byzantinischen Kaiser anpassen. Schlussendlich dürfte dies den Zusammenhalt der arabischen Foederati und Byzanz bzw. zwischen dem mehrheitlich monophysitischen Oriens und dem orthodoxen Byzanz erheblich geschwächt haben. Eine zusätzliche Schwächung geschah durch die bis dahin erfolgreichste Invasion Persiens im Oriens erst einige Jahre vor Jarmûk, die erst unter Aufbietung aller Kräfte inklusive der Foederati vom Kaiser Heraclius zurückgeschlagen werden konnte. Nach dieser Zäsur waren erst knapp acht Jahre vergangen als Rom mit den sicherlich ebenfalls geschwächten Foederati gegen die islamischen Armeen in Jarmûk antreten musste. Obwohl man davon ausgehen kann, dass die Foederati unter dem persischen Ansturm massive Verluste hinnehmen mussten, waren sie bei der Verteidigung des Oriens an der Seite Byzanz auch in Jarmûk dabei (ca. 5.000 der etwa 20.000 Römer waren arabische Christen). Man vergisst deshalb auch oft, dass diese Schlacht ein arabischer Bruderkrieg war. Der ghassanidische Pylarch Jabala kommandierte den rechten Flügel des römischen Heeres und sah sich im Kampf seinen arabischen Stammesgenossen gegenüber.
Frühe Historiker über die Araber: orientalistische Anfänge
Ein erstaunliches Phänomen ist, dass trotz dieser engen Verschränkung und der Integration der arabischen Rhomaioi und der Foederati in das römische Reich und ihrer Rolle als Christen diese starken Bindungen und die wesentliche Rolle der Araber in den wenigsten Fällen von den kirchlichen und säkularen Historikern dieser Epoche objektiv wiedergegeben wurde. Dieses und der Fakt, dass die Foederati keine eigene säkulare oder Kirchengeschichte aufwiesen, führten schon früh zu einer eher negativen Darstellung der Araber in der römischen Geschichtsschreibung. Die Grundfeste für eine orientalistische Sichtweise wurde hier gelegt. Irfan Shahîd hat die einzelnen historischen Quellen in der römischen und byzantinischen Ära analysiert und kommt zu folgender Einteilung der geläufigen Vorurteile gegenüber den Arabern:
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Die griechisch-römischen Autoren projizieren vor allem das gängige Bild von Arabern als Latrones, als Plünderer des Limes Arabicus und vor allem als kulturell minderwertige Nomaden, als Zeltbewohner (Scenitae), die zudem noch überkommenen und abscheulichen Riten nachgingen;
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Die kirchlichen Autoren identifizieren die Araber vor allem als Nachkommen Ismaels, also als Kinder Abrahams mit der Sklavin Hagar, was ebenfalls wenig schmeichelhaft sein dürfte.
In der Regel kam es meist zu einer Fusion der beiden Punkte. Man kann zudem bei der Analyse der Texte meist auch nicht wirklich von Fälschungen sprechen, sondern eher von Auslassungen von Fakten, wodurch ein sehr unausgewogenes Bild entsteht und die Rolle der Araber als Cives und Foederati völlig negiert wird.
Die Gründe für die jeweilige Haltung der einzelnen Historiker sind jeweils unterschiedlich. So sah Ammianus die Rolle der Barbaren als Hauptgrund für die Krisen des römischen Reiches. Als Heide sah er auch keinen Grund, das Christentum der Foederati zu erwähnen. Bei Eusebius können wir vermuten, dass er als Pangyrist Kaiser Konstantins, der den Sieg des Christentums verkörperte, eher vorsichtig war, die Rolle Philips zu sehr herauszustellen. Zudem hatte er auch weniger direkten Kontakt mit Arabern und verließ sich so vor allem auf biblische Quellen, was wiederum die Fusion der Begriffe Ismaeliten und Scenitae bzw. Saraceni erklären kann. Im sechsten Jahrhundert fiel der Historiker Procopius durch seine Vorbehalte und Vorurteile gegenüber den arabischen Foederati auf. Als markantes Beispiel dient hier seine Schilderung der Schlacht von Callinicum (553 n. Chr.). Als die Perser und verbündeten Lakhmiden in Syrien und dem Euphratgebiet einfallen, stellt sich ihnen der römische Feldherr Belisarius mit einer Streitmacht von 20.000 Mann entgegen. Die Foederati stellen etwa 5.000 Mann und bekommen den rechten Flügel zugewiesen. In der zweiten Tageshälfte der Schlacht zerbricht dieser unter dem Ansturm der Perser und die Schlacht ist verloren. Procopius wirft den Foederati ganz klar Verrat vor. Andere Historiker halten hingegen fest, dass der ghassanidische Pylarch al-Harith (Arethas) seine Stellung hält und keinesfalls flieht, der Vorwurf des Verrats ist aber gesetzt und ist seitdem ein oft wiederkehrendes Thema bei der Beschreibung der Foederati.
Die Werke dieser Historiker, so die These dieser Arbeit, sind die oft Grundlagen der orientalistischen Sichtweise, wie wir sie heute kennen. Ein sehr markantes Beispiel ist etwa, dass das Thema des Verrats, dass bei Procopius als Attribut der Foederati und Araber immer mitschwingt, dann auch von Autoren unserer Zeitepoche immer wieder reproduziert wird, wie etwa von Gibbon, der immer für einen antiarabischen Kommentar gut war. Zwar ist der Konnex selten so klar, wie bei diesem Beispiel und bei der Regensburger Rede des Papstes (s.u.). Wir können aber davon ausgehen, dass sie bei den klassisch ausgebildeten Orientalisten durchaus präsent waren, über die Generationen weitergereicht wurden und diese Attribute so die Jahrhunderte überlebten. In Anlehnung an Hobsbawms „Invention of tradition“ kann man den Orientalismus nun ebenfalls als eine konstruierte Erzähltradition darstellen, dessen Praktiken gewisse Werte und Normen einimpfen sollen. Dieses geschieht vor allem durch Wiederholungen, die dann eine gewisse Kontinuität mit der Vergangenheit darstellen sollen. Auch wenn die Orientalisten moderner argumentieren konnten, keine direkten Zitate bemühen mussten, so war ihnen doch bewusst, dass sie sich im Rahmen ihres fundierten, kulturellen Referenzsystems bewegten was die Bewertung der Rolle der Araber anging. Schlimmer noch als dieser Konnex ist die Tatsache, dass es so verabsäumt wurde, ein Gegenbild der Araber zu zeigen, das nicht im Widerspruch zur westlichen Welt steht, sondern aufzeigt, das Westen und Osten auf eine lange gemeinsame Tradition und Geschichte zurückblicken können.
Der Papst von Bagdad
Mit dem Sieg des Islam wurde das Kapitel der arabischen Christen und des östlichen Christentums keinesfalls beendet. Man kann davon ausgehen, dass die überwiegende Zahl der Bewohner des Oriens Christen waren. Zwar zogen sich die Ghassaniden mit ihrem Anführer Jabala nach Jarmûk in das römische Anatolien zurück, wo sich ihre Spur verliert. Andere Foederati blieben und wurden von den Umajaden in das Milizsystem integriert. Darüber hinaus war auch in dem arabischen Vasallenstaat der Perser, der Lakhmiden, ein großer Teil der Bevölkerung christlich. Der letzte lakhmidische König Nu´man konvertierte zum Christentum. Die Lakhmiden kontrollierten nicht nur den Südirak sondern auch Gebiete am arabischen Golf und Saudi Arabien (dem sog. Beit Qatraye). Im Reich der Lakhmiden und in Persien konnte die nestorianische Kirche Fuß fassen. Diese wurde von den Persern toleriert, weil sie eine Gegenspielerin der orthodoxen bzw. monopysitischen Kirche Roms war. Insbesondere die nestorianische Kirche konnte ihre Position ausbauen und mit einer beeindruckenden Expansion nach Osten (Indien, China, Afghanistan und Tibet) aus dem ehemaligen Oriens heraus beginnen. Um 800 herum wurde der Sitz dieser expansiven Kirche an den Hof des Kalifen nach Bagdad verlegt.
Den heute etwas seltsam anmutenden Modus vivendi zwischen den islamischen Machthabern und der christlichen Kirche könnte man so zusammenfassen: Zwar war die Politik islamisch geprägt, die Kultur und die Religion im Oriens und den anderen Gebieten jedoch eine lange Zeit noch christlich. Selbst im islamischen Herzland, der arabischen Halbinsel sind noch bis in das Jahr 676 nestorianische Bischhöfe aus Beit Qatraye überliefert. Und selbst wenn die Gebiete im islamischen Einflussbereich in Bedrohung geraten würden, konnte die Kirche ja noch immer die unendlichen Gebiete weiter östlich ausweisen. Unter ihrem Catholicus Timotheus erreichte diese Kirche wohl ihre größte Ausdehnung. Bei seinem Tode 823 war das Christentum eine östlich geprägte Religion und die Aussichten für das Überleben der Kirche im Westen konnte man eher skeptisch beurteilen. Erst nach 1500 wurde vor allem unter dem Mongolensturm die Christenheit im Osten immer weiter zurückgedrängt und gelangte vielfach sogar in völlige Vergessenheit. Als etwa die ersten europäischen Seefahrer nach Indien kamen, waren sie sehr verwundert, dort Christen anzutreffen, die in ihren Augen lebten, wie die „Juden in Europa“ und deren Existenz sie sich lange nicht erklären konnten.
Abgrenzung, Neuanfang und Verdrängung
Die wichtigste Konsequenz der islamischen Eroberung der Diözese Oriens und der zeitversetzten Zurückdrängung des östlichen Christentums war der Verlust des kulturell-religiösen christlichen Kernlandes. Der Oriens war über 700 Jahre unter römischer und davor fast 300 Jahre unter griechisch-makedonischer Herrschaft. Der Schmerz, diese wichtigen Provinzen zu verlieren, muss groß gewesen sein. Fataler noch war, dass die Christenheit von ihrem religiösen Kernland Palästina abgeschnitten war und dies auch nicht durch verzweifelte Rückeroberungsversuche des Heraclius und später durch die Kreuzritter rückgängig gemacht werden konnte. Die Konsequenzen waren enorm: Von einer ursprünglich östlichen Religion entwickelte sich die Christenheit notgedrungen zu einer eher westlichen Glaubensgemeinschaft. Das Desaster von Jarmûk und folgend der Kreuzzüge entwurzelte die Christenheit von ihren kulturellen, geographischen und linguistischen Wurzeln. Diese Entwurzelung schuf eine Christenheit, die wir heute als historische Norm kennen, die aber auch sehr wohl anders möglich gewesen wäre. Man muss davon ausgehen, dass in dieser kritischen Situation ein völlig neues Kultur- und Religionsmodell geschaffen wurde, das uns zwar heute vertraut ist, dessen Wesen aber einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit brachte: Im geographischen Sinne hat die Christenheit keinen natürlichen Kern. Über lange Perioden war die Kirche des Oriens das aktive Zentrum der Kirche. Erste später wurde das kulturelle und demographische Zentrum nach Europa verlegt.
Dieser Neuanfang konnte aber nur gelingen, wenn dieses „re-set“ quasi „gegen die Geschichte“ durchgesetzt werden konnte. Wenn die Christenheit nun westlich zentriert und geprägt ist, dann müssen alle Verbindungen zu ihren östlichen Wurzeln abgeschnitten werden! Damit der christliche Westen zu dem werden konnte, was er heute ist, musste er somit seine östliche Geschichte verleugnen. Dies bedeutet in aller Radikalität nicht nur, dass die Geschichte des Oriens weitgehend in Vergessenheit geriet, die vielen Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christenheit negiert werden, es geht soweit, dass die Geschichte des „zurückgelassenen“ östlichen Christentums ebenfalls in Vergessenheit gerät. Damit wird eine sehr wesentliche Komponente des Orientalismus, nämlich die von Said beobachtete „Andersartigkeit“ des Arabers verständlicher. Es war somit für die zu entwickelnde Identität des christlichen Europas wichtig, dass der Orient anders war, dass man sich von ihm markant unterschied. Die negative Typisierung der Araber durch die Europäer findet natürlich durch eine Vielzahl großer und kleiner historischer Ereignisse weitere Nahrung. Diese reichen von dem Abfall der Araber vom Christentum unmittelbar nach der islamischen Eroberung (Verrat, Unredlichkeit …), bis hin zu der langen Bedrohung Europas durch das islamische osmanische Reich (Aggressivität, Expansionismus …), um nur einige Aspekte und vielzitierte Attribute zu nennen. Selbst die Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam wurden dann in einer derartigen Erzähl- und Analysestruktur selten positiv gedeutet, sondern letzterer dann eher abfällig als christliche Häresie.
Von dort zur Regensburger Rede des Papstes lässt sich eine beinah gerade Linie ziehen. Die gravierende Aussage des Papstes war hier wohl gar nicht so sehr das Zitat des byzantinischen Kaisers Manuel II. über die Militanz des Islam, sondern wiederum die Berufung auf die griechischen Wurzeln des Christentums und den bekannten orientalistischen Typisierungen, wie etwa mangelnde Vernunft (die natürlich in der Rede nicht nochmals aufgezählt, aber als Kontrast auf der Hand liegen): „Zutiefst geht es dabei um die Begegnung zwischen Glaube und Vernunft, zwischen rechter Aufklärung und Religion. Manuel II. hat wirklich aus dem inneren Wesen des christlichen Glaubens heraus und zugleich aus dem Wesen des Griechischen, das sich mit dem Glauben verschmolzen hatte, sagen können: Nicht „mit dem Logos“ handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider“. Die Aussage geht aber über die altbekannten Attribuisierungen hinaus, indem sie die Geschichte des östlichen Christentums ebenfalls negiert. Dies indem der Papst klarstellte, dass sich das Christentum auf die griechisch philosophischen Traditionen zu berufen habe und damit nicht auf die christlichen Traditionen der östlichen Kirchen, die sich in der Vergangenheit erfolgreich mit islamischen, konfuzianischen, taoistischen und buddhistischen Denkmodellen auseinandergesetzt haben.
Die Jahrhunderte gemeinsamer Geschichte und gemeinsamen Glaubens haben in einem solchen Diskurs keinen Platz und muten eher als Anachronismus an. Die einzigen Elemente, die überdauert haben sind negative Typisierungen klassischer Historiker. Weil sie mühelos in dieses Konstrukt passen, muten sie oft so vertraut an. Es wird nun auch erkennbar, warum die gemeinsame Geschichte des Westens und des Osten im Oriens so merkwürdig ohne Araber auskommt. Diese gemeinsame Geschichte passt so gar nicht in den Aufbau des Orientalismus mit seinem jahrhundertealten Corpus. Es dominiert die Abgrenzung und die Negativbelegung des Gegenübers, alles was diesem Prinzip widerspricht wird aus der Geschichte ausgeklammert.
Conclusio
In der fast ein Jahrtausend langen engen Beziehung zwischen dem Orient, dem Hellenismus und dem römischen bzw. byzantinischen Reich, kam es zu einer engen Verflechtung zwischen Kultur, Sprache und handelnden Personen. Überraschenderweise ist diese geschichtliche Phase kaum präsent. Arabische Quellen berichteten erst in späteren Phasen und die arabischen Foederati Roms hatten keine eigene Geschichtsschreibung bzw. die in Gedichtform (Diwans) abgehandelten Abenteuer und Erzählungen sind oft verloren gegangen. Darüber hinaus sind viele Abhandlungen römischer säkularer und eklastischer Historiker nicht sehr schmeichelhaft gegenüber den Arabern. Diese werden oftmals als Barbaren und kulturlose Zeltbewohner dargestellt. Dass viele Araber zudem als Rhomaioi kaum sichtbar waren spielt hier ebenfalls eine Rolle. Das enge Band des christlichen Glaubens, dass Rom und seine arabischen Verbündeten schmiedeten, wirkt rückblickend durch Vorwürfe der Häresie eher schwächend. In jedem Fall wirkte aber dieses durch Rom geschaffene Bild der Araber über die Jahrhunderte als tradierte Referenz für den mit dem Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus vollends einsetzenden „Orientalismus“. Die Orientalisten könnten sich sicher sein, in ihren Sichtweisen auf einen bewährten und abgesicherten Kanon an Vorurteilen und Attributen zurückgreifen zu können, der schon zu seiner Zeit keineswegs objektiv war. Wenn nun das „plötzliche“ Auftauchen orientalistischer „Werte“ so erklärt werden kann, so ist damit noch nicht die Intensität und das Ausmaß der Verbreitung dieser Attribute völlig verständlich. Erst, wenn man die Hypothese eines traumatischen Trennungsschmerzes des Westens von seinem religiösen Kernland im Orient einführt, wird erkenntlich, dass dieser in gewisser Weise geradezu zu einer emotionalen und dann auch geschichtlich verbrämten Trennung zwischen Westen und Orient führen musste, um einen Neuanfang des Christentums im Westen abzusichern. Von dieser Abtrennung hin zu einer negativen Plakatierung des Orients unter praktischer Verwendung bereits vorhandener Vorurteile ist es dann nicht mehr sehr weit.
Prof. Dr. Dr. Ayad Al-Ani ist Rektor an der ECSP Wirtschaftshochschule in Berlin. Der vollständige Artikel inklusive umfassender Anmerkungen erscheint in der Zeitschrift für Weltgeschichte 2011.