Die Parlamentswahlen vom Dienstag haben angesichts des oppositionellen Boykotts erwartungsgemäß eine breite regimetreue Mehrheit hervorgebracht. Überraschend war lediglich, dass 78 Kandidaten neu in das 120-köpfige Unterhaus gewählt wurden. Dennoch sind viele bekannte Gesichter aus den bekannten pro-haschemitischen Clans wieder dabei, sodass weder Reformanstöße noch harte Regierungskontrolle in der neuen Legislaturperiode zu erwarten sind.
Die Wahlen verliefen in den meisten Regionen und in den Großstädten friedlich, und die boykottierende Opposition gab sich zurückhaltend und verzichtete auf Provokationen. Allerdings kam es in der süd-jordanischen Kleinstadt Imrea zu bewaffneten Auseinandersetzungen, bei denen ein 25-jähriger Mann ums Leben kam. Anlass waren Rivalitäten zwischen zwei rivalisierenden Stämmen. Auch eine Wahlstation und mehrere Autos wurde bei den Kämpfen zerstört. Zu Unruhen dieser Art kam es in den südlichen Stammesgebieten Jordaniens schon häufig und sie sind kein Ausdruck politischer Opposition zur jordanischen Monarchie.
Die Wahlen sollen dem autoritären Herrschaftsregime Legitimität verschaffen und nach außen hin den Schein von politischer Mitbestimmung wahren. Den Beginn der politischen Öffnung und schrittweisen Demokratisierung erlebte Jordanien 1989, als der Staat sich in einer existentiellen Wirtschaftskrise befand und die Verteilungslogik der Monarchie nicht mehr genügend Stabilität und Legitimität verschaffen konnte. Aufstände ausgerechnet in transjordanischen Stammesgebieten – dem traditionellen Rückgrat der Monarchie – waren für die Regierung damals ein Alarmsignal. Jordanien versuchte deshalb durch die Einführung von Wahlen den gesellschaftlichen Unmut auf das Parlament abzuleiten, ohne aber die Macht tatsächlich aus der Hand zu geben.
Seit Anfang der 90er Jahre hat der Demokratisierungsprozess in Jordanien aber keine weiteren Fortschritte mehr gemacht. Die letzten Wahlen von 2007, bei denen der politische Arm der Muslimbrüder, die Islamische Aktionsfront, als bedeutendste Programmpartei lediglich 6 von 110 Sitzen errang, war sogar als demokratischer Rückschritt interpretiert worden. Im letzten Parlament saßen daher vorwiegend regimenahe Stammesleute ohne jegliche politische Programmatik oder Reformbestrebung.
Als König Abdullah II vor einem Jahr das Parlament auflöste und eine neue Regierung ernannte, die ein neues Wahlgesetz formulieren sollte, hielt sich die Kritik der Opposition daher in Grenzen. Ein repräsentatives Wahlgesetz war ohnehin einer ihrer zentralen Forderungen, und auch die jordanische Bevölkerung begrüßte aufgrund verschiedener Korruptionsskandale von Abgeordneten die Parlamentsauflösung mehrheitlich. Auch hat es in Jordanien Tradition, dass die Regierung ohne parlamentarische Beteiligung für jede Wahl aufs Neue das Wahlgesetz umformuliert.
Das Wahlgesetz, das im Mai 2010 vorgestellt wurde war dennoch eine große Enttäuschung für die Opposition, denn der König weckte zuvor Erwartungen auf eine grundlegende Transformation. Doch bis auf eine minimale und völlig unzureichende Stärkung der urbanen (und damit palästinensischen) Repräsentanz durch eine Erweiterung des Parlaments von 110 auf 120 Sitze und der Erhöhung der Frauenquote auf 10%, ist praktisch alles beim alten geblieben. Neu im Wahlprozess ist lediglich, dass die Wahlbezirke in kleinere Wahlkreise eingeteilt sind, und der Wähler sich für einen Kandidaten im gesamten Wahlbezirk entscheiden kann. Am oft kritisierten Prinzip „one man one vote“ ändert das neue System nichts. Parteien oder Parteilisten stehen weiterhin nicht zur Wahl, und somit kann auch eine Reduzierung der tribalen und pro-haschemitischen Dominanz im Parlament nicht erreicht werden. Auch der Wahlkreiszuschnitt begünstigt weiterhin erheblich den transjordanischen und tribal-orientierten ländlichen Raum auf Kosten der mehrheitlich von Palästinensern bewohnten Städte, die zugleich die Hochburg der Muslimbrüder darstellen.
Die tribale Parlamentsmehrheit tat sich meist dadurch hervor, dass sie sich mit der Kanalisierung von Ressourcen in ihre Wahlbezirke und an ihre Stammesangehörigen beschäftigten, anstatt Reformen anzustoßen und die Regierung zu kontrollieren. Der Abgeordneten-Klientelismus ist kein jordanischer Sonderfall, sondern viel mehr die Regel des arabischen Parlamentarismus'.
Abgesehen von der mangelhaften Repräsentativität, der weiterhin praktizierten Selektion der Kandidaten durch den Staat, dem verbreiteten Klientelismus und der bürokratischen Repressionen politischer Parteien, ist die Legislative im politischen System Jordaniens auch ein weitgehend irrelevantes Staatsorgan. Und an diesem Problem hat das neue Wahlgesetz nicht geändert. Das Parlament verfügt im Schatten des übermächtigen Königs und der von ihm ernannten Regierung über keine relevanten Kompetenzen – sieht man von der theoretisch möglichen Abwahl des Ministerpräsidenten mit einer Zweidrittelmehrheit ab, die der König durch ein Veto aber auch blockieren kann. Selbst die normative Funktion des Parlaments als einer Bühne für politische Debatten, um dem König ein gesellschaftliches Stimmungsbild zu vermitteln, wird aufgrund der Dominanz unpolitischer Stammesfürsten nicht erfüllt. Die 60 Abgeordneten der zweiten parlamentarischen Kammer, dem Senat, werden sogar komplett vom König ernannt. Außerdem darf er jederzeit durch königliche Erlasse am Parlament vorbei regieren oder dieses direkt auflösen, wie es König Abdullah II bereits 2001 erstmals tat.
Unter diesen Umständen bietet die Parlamentsarbeit für oppositionelle Bewegungen nicht sehr viele Anreize. Die mit Abstand größte und einflussreichste Opposition, die Muslimbrüder, haben sich daher zusammen mit kleineren linken Parteien für den Wahlboykott und folglich für die außerparlamentarische Oppositionsarbeit entschieden und riskieren damit die politische Isolation, zunehmende staatliche Repressionen und den Verlust an Ressourcen und medialer Präsenz. Einzig Ahmad Qudah folgte als Mitglied der Muslimbrüder nicht dem Boykott und gewann die Wahlen in Ajlun, was wahrscheinlich seinen Parteiausschluss zur Folge haben wird.
Schon einmal, 1997, boykottierten die Muslimbrüder Parlamentswahlen – damals ebenfalls als Reaktion auf das unfaire Wahlgesetz. Seither hat sich das Verhältnis zwischen Staat und islamistischer Opposition kontinuierlich verschlechtert. Dabei traten die Haschemitische Monarchie und die Muslimbrüder jahrzehntelang als Partner auf, die vor allem gemeinsame Gegner zusammenschweißte: wie links-revolutionäre Bewegungen in den 50er und 60er Jahren und der palästinensische Nationalismus der PLO in den 60er und 70er Jahren. Die Muslimbrüder übernahmen in dieser Allianz sogar Regierungsposten und durften sich wie keine andere Bewegung durch soziale Aktivitäten tief in der jordanischen Gesellschaft verwurzeln.
Solange die Muslimbrüder als sozialer, religiöser und karitativer Akteur in ihren eigenen Einrichtungen, sowie in Berufsverbänden und Universitäten gesellschaftlichen Einfluss ausüben konnten, um auf diesem Wege ihrem Ziel der gesellschaftlichen Islamisierung näher zu kommen, nahmen sie mehrheitlich die politischen Einschränkungen im Parlament und Defizite im Wahlprozess in Kauf und rechtfertigten offen die Legitimität der Haschemitischen Monarchie. Das taten sie auch angesichts der arabischen Alternativen in Ägypten und Syrien, wo die Muslimbrüder systematisch unterdrückt und bekämpft wurden. Sogar der Friedensvertrag mit Israel 1994 hat nicht zu einem Bruch der Allianz geführt.
Doch nach dem Wahlsieg der Hamas in den palästinensischen Gebieten 2006 und die neue Hamas-nahe Führung der Islamischen Aktionsfront unter Zaki Bani Irsheid fürchtete die jordanische Monarchie die Machtergreifung der Islamisten. Daher verstaatlichte Jordanien die Dachorganisation der sozialen und karitativen Einrichtungen der Muslimbrüder, die Islamic Center Society. Auch ihre Freiheiten in Berufsverbänden und Universitäten wurden erheblich eingeschränkt. Dadurch verloren die Muslimbrüder ihre wichtigsten Mobilisierungseinrichtungen, was ebenfalls zum schlechten Abschneiden bei den Wahlen 2007 beitrug. Zaki Bani Irsheid, der sich schon damals für einen Wahlboykott ausgesprochen hatte, erklärte 2008 gegenüber Alsharq-Autoren, dass die Wahlteilnahme ein Fehler gewesen sei, den die Muslimbrüder nicht wiederholen würden.
Nun scheint die jordanische Strategie der kontrollierten Einbindung der Muslimbrüder in den politischen Prozess, endgültig zu einem Ende gekommen zu sein. Damit ist sowohl eine weitere Radikalisierung der Muslimbrüder zu erwarten, als auch im Gegenzug eine strengere Kontrolle durch den repressiven Staatsapparat. Die Muslimbrüder, die die größte Massenbewegung des Landes darstellen, werden nun versuchen, den Unmut auf die Straße zu verlagern, und können somit zu einer ernsthaften Herausforderung für die politische Stabilität der Haschemitischen Monarchie werden.
Die Hoffnungen der Regierung, wenigstens durch die Zulassung unabhängiger Wahlbeobachter und durch eine möglichst hohe Wahlbeteiligung den Schein von Herrschaftslegitimität zu wahren, haben sich nicht erfüllt: Die Wahlbeteiligung sank nach Regierungsangaben auf 53%, Hamsah Mansur, Chef der Islamischen Aktionsfront, geht von höchstens 30% aus. Da half es auch wenig, dass Ministerpräsident Samir Rifai den Wahltag kurzerhand zum Feiertag erklärt hatte.
Die erhoffte Stabilität konnten diese Wahlen der jordanischen Scheindemokratie nicht liefern.