17.11.2010
Interview mit Franziska Keller zur Türkei und Euromed

Liebe Leserinnen und Leser,

vor sieben Jahren saß Franziska "Ska" Keller mit den Alsharq-Gründern im gemeinsamen Arabisch-Kurs, heute sitzt die Grünen-Politikerin im Europäischen Parlament in Straßburg. Unter anderem gehört die Brandenburgerin dem Gemeinsamen Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei sowie der Delegation der Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer an. Alsharq sprach mit Ska, die über ein abgeschlossenes Magisterstudium der Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik verfügt, über die Beziehungen der EU zur Türkei und dem gesamten Mittelmeerraum.

1. Ist der mögliche EU-Beitritt der Türkei im Europaparlament überhaupt noch ein Thema, das unter den Abgeordneten großes Interesse generiert?

Allerdings. Der Enthusiasmus ist leider größer auf der Seite derjenigen, die gegen den Beitritt sind, aber auch die BefürworterInnen sind aktiv und haben auch eine Arbeitsgruppe im Parlament gegründet. Die Grüne Fraktion hat gerade eine Konferenz in Istanbul zum fünfjährigem Jubiläum der Verhandlungen gehalten.

2. Gibt es Deiner Einschätzung nach im aktuellen Europaparlament eine Mehrheit für einen Beitritt der Türkei? Wie hat der Erfolg der rechten Parteien bei der Europawahl 2009 die Debatte beeinflusst?

Das ist schwer zu sagen. Es ist auf jeden Fall knapp. Es gibt auch unter den Konservativen viele BefürworterInnen, aber eben auch bei den Linken GegnerInnen. Wenn es zu einer Abstimmung käme, wäre es sehr knapp, aber wir könnten gewinnen - je nach den Umständen.

3. Ist auf Seiten der türkischen Verhandlungspartner überhaupt noch der Wille zu einem EU-Beitritt vorhanden?

Ja, das wird uns immer wieder versichert und ich habe keinen Anlass zu der Annahme, dass es anders sein sollte. Es gibt Frustration darüber, dass Merkel und Sarkozy partout nicht wollen, egal was die Türkei tut. Aber die türkische Regierung weiß auch, dass sie nur eine wichtige Rolle in der Region spielen kann, wenn sie die Nähe zur EU und die Aussicht auf Mitgliedschaft hat.

4. Wie bewertest Du die Reformen der Erdogan-Regierung? Tut die Türkei genug für einen EU-Beitritt?

Die Regierung muss mehr tun und sie muss es vor allem schneller und gründlicher tun. Viele Reformen werden angefangen und nie beendet. Andere versanden, wenn die Opposition zu stark wird. Oder das Gesetz an sich stimmt, aber die Umsetzung hapert. Es reicht eben nicht aus, Folter auf dem Papier zu verbieten oder Gesetze zur Gleichstellung der Geschlechter zu verfassen, wenn die Umsetzung nicht klappt. Aber klar, die Umsetzung des aquis communautaire braucht auch seine Zeit und die Signale aus der EU sind nicht besonders ermutigend, da geht auch Motivation verloren. Zudem müssen die Reformen auch innenpolitische verteidigt werden.

5.Welches Fazit ziehst du zu den Bemühungen der Euromed und der Union fürs Mittelmeer? Ist das Projekt wegen der verschiedenen unterschiedlichen Interessen schon von vornherein zum Scheitern verurteilt? Welche Chancen siehst du?

Momentan ist überhaupt nicht klar, was diese Mittelmeerunion werden soll. Es gibt sie, weil Sarkozy halt ein Projekt brauchte und die Leute, die im Headquarter arbeiten, müssen sich jetzt eben Gedanken machen, was sie den ganzen Tag tun sollen. Es gab bereits vorher einen Dialog und zum Beispiel regelmäßige Treffen und Arbeitsgruppen von Abgeordneten des Europäischen Parlaments und von Parlamenten der Euromed-Länder. Dieser Dialog ist auch richtig und wichtig. Ob er bis jetzt wichtige Resultate gebracht hat, kann ich nicht einschätzen, mir ist bisher keins aufgefallen. Die Chancen sehe ich vor allem im Bereich Menschenrechte; für die Kommission und Partnerländer geht es eher um Wirtschaft und Migration. Die Union ist vor allem für die Türkei eine Gefahr, weil sie den Beitrittswillen der türkischen Regierung schwächen soll.

6. Wie spiegeln sich die verschlechterten Beziehungen zwischen der Türkei und Israel in der Haltung des EU-Parlaments wider? Hat das Auswirkungen auf den Beitrittsprozess?

Die Beziehung zwischen Israel und der Türkei werden mit Sorge verfolgt und sind für manche, die schon vorher gegen den Beitritt waren, ein weiteres Argument gegen den Beitritt. Es wird von ihnen als Beweis für die These gesehen, dass sich die Türkei vom "Westen" abwendet.

7. Außenpolitik wird in der EU hauptsächlich von den nationalen Regierungen gemacht. Welchen Spielraum hat das EU-Parlament eigentlich in Bezug auf die Außenpolitik?

Nicht viel. Der Aussenausschuss (dem ich nicht angehöre) diskutiert viele Themen, hat aber wenige legislative Projekte. Das größte aktuell war die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Dienstes, bei dem das Europäische Parlament in Haushalts- und Personalfragen Mitspracherecht hatte. Aber auch bei den anderen Fragen wie Kompetenzverteilung, Aufgaben, etc. hat das Parlament seine Meinung deutlich gemacht und unter der Drohung, andernfalls den Haushalt zu blockieren, auch einiges durchgesetzt.

8. Hat sich die Schaffung eines Hohen Vertreters der EU für Außenpolitik bezahlt gemacht? Wie bewertetest du die Arbeit von Catherine Ashton bisher?
Ashton ist sehr engagiert, vor allem auch, was die Anhörung des Parlaments betrifft. Diese Auffassung teilen allerdings ihre Leute in der zweiten Reihe nicht, so dass das Parlament trotz allem kaum Einfluss auf sie hat, vor allem auf die außenpolitischen Bereiche außerhalb der "foreign policy", nämlich Entwicklungspolitik. Diese scheint im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAS) unterzugehen. Wie genau es funktionieren wird, ist noch nicht klar. Der EAS soll zum 1.12. seine Arbeit aufnehmen, das ist aber gerade durch die Haushaltsblockade unsicher geworden. Ob es etwas bringt, wird sich erst später zeigen.

Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...