»Der Staat schützt Mutter und Kind, sorgt für Jugendliche und Heranwachsende und bietet ihnen die notwendigen Bedingungen, damit sie ihre Fähigkeiten ausbilden können.« Dieses Versprechen gibt der syrische Staat seinen Bürgern in Artikel 44, Absatz 2 seiner Verfassung. Ein Video, das in dieser Woche im Internet aufgetaucht ist, zeigt, dass diese Beteuerung kaum das Papier wert ist, auf dem sie gedruckt ist.
In dem zweieinhalb Minuten langen Video ist zu sehen, wie zwei Lehrerinnen ihre Grundschüler misshandeln. Sie schlagen ihre etwa acht bis zehn Jahre alten Schülerinnen und Schüler mit Stöcken auf Fußsohlen und Finger. Wann und wo das Video aufgenommen wurde ist bislang unklar, die Kinder tragen jedoch die syrischen Schuluniformen, einige zudem das orangene Halstuch der Baath-Pionierorganisation.
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In der syrischen Netzgemeinde hat das Video innerhalb kurzer Zeit für großes Aufsehen gesorgt. Binnen einer Woche sind mehr als 1500 Menschen einer Facebook-Gruppe mit dem Titel »Helft uns die beiden Lehrerinnen zu identifizieren, die unsere Kinder misshandelt haben« beigetreten, auch wenn der Zugang zu diesem Netzwerk immer wieder vom Staat blockiert wird. Darin fordern die Gruppenmitglieder die Behörden auf, die Täterinnen zu finden und zu bestrafen.
Prügelstrafe trotz gesetzlichen Verbots
Viele von ihnen äußern sich überrascht, dass die Prügelstrafe noch immer an syrischen Schulen angewendet wird und vergleichen die gezeigten Zustände mit den berüchtigten Misshandlungsvideos aus dem irakischen Gefängnis Abu Ghraib. In den Diskussionsforen weisen die syrischen Internetuser zudem darauf hin, dass die körperliche Züchtigung von Schülern in Syrien per Gesetz verboten sei.
Eine Studie des UN-Kinderhilfswerks UNICEF aus dem vergangenen Jahr kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass körperliche Gewalt gegen Kinder in Schulen und Familien in Syrien trotz des gesetzlichen Verbots nach wie vor weit verbreitet ist. Besonders in ländlichen Regionen seien syrische Kinder überdurchschnittlich oft Opfer von Gewalt durch Erwachsene, so die Analyse, die im Oktober 2009 gemeinsam von der Syrischen Kommission für Familienangelegenheiten und der UNICEF vorgelegt wurde.
Das Prügelvideo aus der Schule widerspricht auch dem Selbstbild, das Syriens Regierung gerne von seinem Bildungssystem präsentiert. Die First Lady Asma al-Assad lässt sich gerne publikumswirksam mit Kindern an ausgewählten Musterschulen fotografieren und betont in der Öffentlichkeit wiederholt die Bedeutung des Bildungswesens für die Entwicklung des Landes. Ihr Gatte verweist oft darauf, dass das syrische Schulsystem im regionalen Vergleich besonders gut abschneidet. Jungen und Mädchen haben weitgehend die selben Chancen, fast 95 Prozent der Unter-25-Jährigen können lesen und schreiben. Der Anteil der Bildungsausgaben am Staatshaushalt wurde seit Bashar al-Assads Amtsantritt vor zehn Jahre kontinuierlich von zehn auf mehr als 15 Prozent erhöht.
Die Zahl der Lehrer steigt – die Qualität der Ausbildung nicht
Die Ausbildung angehender Lehrerinnen und Lehrer hängt aber offenbar noch immer hinter internationalen Standards zurück. Dabei ist das Zahlenverhältnis von Lehrern und Schülern auf den ersten Blick beispielhaft: In Grundschulen unterrichtet ein Lehrer im Schnitt 19 Schüler, in weiterführenden Schulen kommt ein Lehrer gar auf nur neun Schüler, so das Ergebnis einer UNICEF-Studie aus dem Jahre 2008. Die Zahl der Lehrerinnen und Lehrer an Syriens Schulen ist seit 2000 pro Jahr im Schnitt um sieben Prozent gestiegen – die Qualität der Lehrerbildung wuchs offenbar nicht in gleichem Maße.
Bislang tobt die Empörung über die beiden prügelnden Lehrerinnen nur im Internet, die staatlich kontrollierten syrischen Medien haben bis dato nicht darüber berichtet. Da über Missstände in staatlichen Institutionen nur eingeschränkt berichtet werden darf, ist auch kaum damit zu rechnen, dass sich daran etwas ändern wird. Der Vorfall ist aber ein weiteres Beispiel dafür, dass in Zeiten von Facebook und Youtube auch in den autoritär regierten arabischen Staaten zumindest einige Skandale nicht mehr unter den Teppich gekehrt werden können.