Von Alois Schläffer
In Kirgistan wird wieder gekämpft. Dieses Mal jedoch nicht mit Eisenstangen und Molotovcocktails, sondern mit Worten. Nach den gewalttätigen Auseinandersetzungen knapp drei Monaten im Süden des Landes wird derzeit um eine gemeinsame Version der Ereignisse gerungen. Wer hat die Gewalt ausgelöst, wer war wie daran beteiligt, wer zog die Fäden? Es wird hitzig diskutiert und debattiert: eine Geschichte soll geschrieben, eine Wahrheit gefunden werden.
Niemand hatte es kommen sehen. Das schiere Ausmaß der Gewalt, welche im Juni den Süden des Landes verwüstete, kam als große, schockierende Überraschung. Obwohl nach dem Sturz des Präsidenten Bakiev im April ein Klima der Unsicherheit im Land herrschte, rechnete kaum jemand mit einer derartigen Intensität der Unruhen. Ganze Stadtviertel gingen in Flammen auf, pogromartige Vertreibungen fanden statt. Mehrere hunderttausend Vertriebene und hunderte Tote sind die traurige Bilanz.
Als die Waffen schließlich schwiegen und die Feuer verglommen, die Menschen langsam zurückkehrten und so etwas wie fragile Ruhe einkehrte, drängte sich langsam aber unweigerlich eine Frage in den Vordergrund: wer trägt schuld daran? Wer hat das Feuer an die Lunte gehalten und somit das Pulverfass aus Macht, Ökonomie und ethnischen Differenzen zur Explosion gebracht?
In den ersten Tagen und Wochen machten unzählige Theorien die Runde. Der Ex-Präsident Bakiev und seine Gefolgsleute seien schuld; sie hätten auf eine Destabilisierung des Landes und eine Verschiebung des verfassungsgebenden Referendums am 27. Juni abgezielt. Oder waren es doch die lokalen Drogenbosse, die um das Machtvakuum nach dem Kollaps der Bakiev-Powerbase kämpften? Manche sprachen auch von den Fingern von Islamisten in diesem grausamen Spiel, malten sogar den Teufel in Talibangestalt an die Wand.
Where is the Justice?
Als eine der ersten über journalistische Mutmaßerei hinausgehenden Stimmen meldete sich Mitte August Human Rights Watch zu Wort. In ihrem über 90-seitigen Bericht „Where is the Justice?“, basierend auf intensiver Recherche und hunderten Interviews mit Opfern, kam die NGO zu folgenden Schlüssen: Am Anfang standen usbekische Unruhestifter. Die Reaktion der Kirgisen kam schnell und disproportional. Die lokalen Autoritäten versagten, waren eher Teil des Problems als dessen Lösung. Die davor so vielzitierten „höheren Mächte“ wurden nicht explizit erwähnt.
Bereits Minuten nach der Veröffentlichung und noch während der Pressekonferenz meldeten sich kritische Stimmen: Der Bericht sei einseitig, zu pro-Usbekisch, würde nicht den Tatsachen entsprechen. Da war er wieder, der Kampf um die Wahrheit. Und die Frage, wer die Autorität besitzen sollte, die offizielle Geschichte der Ereignisse zu schreiben. Nach Meinung vieler BewohnerInnen Kirgistans jedenfalls nicht eine internationale NGO.
Lokale Bemühungen – zum Scheitern verurteilt?
Aber auch die nationalen Bemühungen zur Wahrheitsfindung rufen nicht unbedingt Begeisterungsstürme hervor. Eine 30-koepfige „Staatliche Kommission zur umfassenden Untersuchung der Gründe und Folgen der Gewalt“, die am 15. Juli per Dekret von Präsidentin Roza Otunbaeva ins Leben gerufen wurde, macht seither vor allem durch Skandale von sich reden.
Das Übergehen prominenter Mitglieder, die Missachtung der Richtlinien und interne Quereleien machten prominent die Runde in den lokalen Medien. Dass vor diesem Hintergrund die Vorfreude auf die für den 10. September vorgesehene Veröffentlichung ihrer Ergebnisse gedämpft ist, verwundert nicht weiter.
Eine weitere Untersuchungskommission wurde Anfang August vom Ombudsmann des Landes, Tursunbek Akun, initiiert. Zeitgleich kursierten Aussagen von Akuns Stellvertreter in den Medien, dass der Ombudsmann Bestechungsgelder annehme, öffentliche Gelder veruntreue und Mitarbeiter misshandle. Die Hoffnungen und Erwartungen an diese Kommission sind demnach auch begrenzt.
Als eine lokale nicht-staatliche Alternative wurde schließlich am 11. August eine „Kommission des Volkes“ ins Leben gerufen. Dahinter steht Uluttuk Kyiymyly, die „nationale Bewegung“, eine der unzähligen politischen Parteien des Landes. 22 Personen werden in dieser Kommission für 20 Tage Nachforschungen anstellen. Ob daraus die ersehnte allgemein anerkannte Version der Geschehnisse entstehen kann, bleibt dahingestellt.
Der Weg zur Wahrheit ist noch lang und steinig
Die etwas getrübten Aussichten dieser nationalen Bemühungen scheinen Rückenwind für eine weitere, internationale Initiative zu geben: Am 6. Juli wurde Kimmo Kiljunen, Sondergesandter für Zentralasien der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, von Präsidentin Otunbaeva mit der Vorbereitung und Koordinierung einer unabhängigen internationalen Untersuchungskommission beauftragt. In einer weiteren Anfrage vom 21. Juli bat die kirgisische Regierung den UN Generalsekretär um Unterstützung für eine derartige Kommission. Wie so oft in solchen Fällen scheint sich die Konkretisierung dieser Maßnahmen noch einige Zeit hinzuziehen; über Absichtserklärungen und andere schöne Reden ist man bisher nicht hinausgekommen.
Während dieser theoretisch angehauchte Kampf um eine gemeinsame Wahrheit also weitergeht, suchen jene, die ihr gesamtes Hab und Gut oder Familienmitglieder verloren haben, vor allem eins: Gerechtigkeit. Aber für Gerechtigkeit gibt es bekanntlich wiederum eine wichtige Voraussetzung: Wahrheit. Und allen Kontroversen zum Trotz scheinen die meisten eine Ansicht zu teilen: Die Wahrheit soll das immer noch glimmende Feuer ersticken, also eine dicke, stille Decke sein. Nur ja bloß kein Öl.