Die Worte »ja« und »nein« sind dieser Tage in der Türkei mit ungewöhnlich großer Bedeutung aufgeladen. Riesige »JA«-Transparente, mit »NEIN« bedruckte Luftballons bevölkern in rauen Mengen das Stadtbild in Istanbul. Was ist die große Frage, die es zu beantworten gilt? An diesem Sonntag wird per Referendum über eine von der Regierungspartei AKP vorgeschlagene Verfassungsreform entschieden. Ist das der große Schritt in Richtung Demokratie? Die versteckte Gefahr? Oder wieder einmal ein leeres Versprechen?
Das 26 Punkte umfassende Paket beinhaltet Änderungen in vielen unterschiedlichen Bereichen der Verfassung von 1980 – doch es sind einige wenige, die als entscheidend gelten. So wird der besondere Schutz von Kindern, Frauen und Behinderten unter der Verfassung als notwendige, letztendlich aber formale Modernisierung wahrgenommen. Auch die erweiterten Rechte für Angestellte des öffentlichen Dienstes nehmen die Betroffenen wohlwollend zur Kenntnis. Doch der Zankapfel sind die Reformen im Justizwesen; und so wird das Referendum als eine Verlängerung des Konfliktes betrachtet, der das politische Leben in der Türkei beherrscht – der Konflikt um Einflussnahme in den Staatsinstitutionen.
Endlich aufzuräumen mit der nach dem Putsch von 1980 von der Militärregierung eingesetzten Ordnung und der Übermacht der Streitkräfte – das verspricht die reformerische Regierungspartei AKP. Der Artikel, der die Straffreiheit der Putschisten sichert, soll aufgehoben werden. Die Zuständigkeit von Zivil- und Militärgerichtsbarkeit soll neu festgeschrieben und die Berufungsprozeduren für das Verfassungsgericht neu geregelt werden. Besonders letztere Maßnahme treibt Reformgegner auf die Barrikaden: Der Einfluss des Präsidenten auf die Ernennung der Richter soll gestärkt werden. Die Regierungspartei wolle auf diesem Weg nach und nach alle Staatsinstitutionen übernehmen, warnen Angehörige der republikanischen Partei CHP und der nationalistischen MHP.
Das Referendum polarisiert – und in der Woche vor Abstimmung scheinen die »Ja«-Sager hauchdünn die Nase vorn zu haben. Wieder einmal positioniert sich die AKP als die Partei der Reform, des Fortschrittes, der Modernisierung. Und obwohl sie nicht nur aufgrund ihrer religiösen Prägung, sondern auch aufgrund ihrer neoliberalen Linie in Wirtschaftsfragen heftig umstritten ist, punktet sie so bei vielen, denen es wichtig ist, in den autoritären Staatsinstitutionen überhaupt irgendeine Veränderung zu sehen. Nach Gewerkschaften und Berufskammern deklarierten auch viele prominente Intellektuelle und Künstler ihre Präferenz – sogar der zurückgezogen lebende Schriftsteller Orhan Pamuk meldete sich zu Wort, er werde mit »ja« stimmen. Dem größten Unternehmerverband TÜSIAD drohte Ministerpräsident Erdoğan persönlich: »Wer sich nicht positioniert, wird ausgeschaltet.«
Auch Kritik, die Reform reiche nicht weit genug, wird mit dem Hinweis begegnet, es handele sich ja erst um einen Anfang – im kommenden Jahr würden weitere Reformen folgen. So kursieren mittlerweile auch Slogans wie »Es reicht nicht, aber JA« und »Vorerst JA«. Diesem Versprechen schenken jedoch nicht alle Glauben: Nach wie vor hält die pro-kurdische Partei BDP am Boykott des Referendums fest. Weder seien die vorgeschlagenen Reformen demokratisch zu nennen – so werde die Zehn-Prozent-Hürde nicht aufgehoben und die Existenz anderer Identitäten als der türkischen in der Verfassung weiterhin geleugnet – noch wolle man sich den republikanischen »nein«-Sagern anschließen, die den Erhalt des Status Quo befürworten.
Dass die Epoche des Militärputsches und andere dunkle Kapitel der Geschichte tatsächlich aufgearbeitet werden sollen, glauben im Osten des Landes, wo viele der staatlich organisierten Verbrechen stattgefunden haben, nur wenige. Nicht nur, dass die Aufhebung des Amnestie-Verfassungsartikels aufgrund der Verjährungsfrist keine Verfolgung der Putschisten möglich machen wird. Die Regierung zeigt auch wenig Wohlwollen gegenüber Initiativen, die wie etwa in Diyarbakir, die Umwandlung ehemaliger Foltergefängnisse in Gedenkstätten vorschlagen.
Mit dem Boykott kann allenfalls ein Zeichen gesetzt werden am Rande einer Abstimmung zwischen oberflächlichen Demokraten und der Fraktion der Neinsager, die selbst keine Alternativen anbietet. Und das ist nur der Auftakt zu einer langen Saison der leeren Versprechen: Im Sommer 2011 sind Parlamentswahlen.