Die Politik des Libanon wird seit der Staatsgründung entscheidend von den verschiedenen Konfessionsgemeinschaften des Landes bestimmt. Die Politologin Mayssoun Zein Al Din hat sich in ihrer Doktorarbeit mit der Religion als politischem Faktor im Libanon auseinandergesetzt. Mayssoun hat mit uns über den politischen Konfessionalismus im Libanon gesprochen und erläutert, warum die Proporzdemokratie im Libanon nicht funktioniert.
Über den politischen Konfessionalismus in Libanon wurde schon eine Vielzahl von Büchern geschrieben? Was kann man da überhaupt neues herausfinden? Was sind deine originären Erkenntnisse in diesem Buch?
Ich habe versucht, dieses Thema demokratietheoretisch anzugehen und zu erklären, warum Konkordanzdemokratien oder proporzdemokratische Systeme – in Libanon Konfessionalismus genannt – demokratietheoretisch schon längerfristig zum Scheitern verurteilt sind. So wie ich die Literatur überblickt habe, ist dies noch nicht in vollem Umfang erfolgt. Diesen Ansatz habe ich historisch eingeordnet, weil ich der Meinung bin, dass die Kenntnis der Geschichte dringend erforderlich ist, um diesen theoretischen Gedanken zu verstehen und diese Kombination habe ich in der Literatur nicht gefunden, insbesondere nicht in der deutschsprachigen.
Die wichtigsten Neuheiten der Arbeit sind im Bereich der Demokratietheorie zu verzeichnen. Einerseits wurden die Abweichungen des libanesischen Modells von der reinen Form des proporzdemokratischen Typus herausgestellt und andererseits die Übereinstimmungen mit dem Modell herausgearbeitet. Es wurden die von Lijphart aufgestellten Hauptcharakteristika eines funktionierenden Proporzsystems auf ihr Vorhandensein im libanesischen Modell und auf ihre Anwendbarkeit auf diesen geprüft.
Eine gewisse Originalität beanspruche ich auch für die Untersuchung der Frage ob, in welcher Form und unter welchen Bedingungen sich die institutionellen proporzdemokratischen Regelungen in der libanesischen Praxis bewährt haben. Dies führte mich dazu, nach anderen proporzdemokratischen Systemen zu schauen, nach solchen, die funktionieren und solchen, die nicht funktionieren, denn oberflächlich wird Libanon schon mal mit der Schweiz verglichen, es wird auch als Schweiz des Orients bezeichnet, damit spielt man unter anderem auch auf die verhandlungsdemokratischen Systeme beider Länder an. Beim genauen Hinsehen hat sich aber herausgestellt, dass dieser Vergleich nicht zutrifft! Bei der Forschung habe ich einen anderen Fall mit frappierenden Parallelen zu Libanon entdeckt, nämlich Zypern. Mit diesen, bisher in der Literatur nicht gegebenen Vergleich habe ich zum einen eine Begründung für die wissenschaftliche Nichthaltbarkeit des Vergleichs Schweiz – Libanon gegeben und zum anderen die verfassungsmäßigen Parallelen zwischen dem System in Libanon und dem gescheiterten zypriotischen Modell herausgearbeitet. Dieser demokratietheoretische Vergleich ist in der Literatur ebenfalls neu.
Ich habe versucht, meine These von Anfang bis Ende in Frage zu stellen und wollte immer vom Gegenteil überzeugt werden, um möglichst objektive Ergebnisse zu bekommen und habe eigentlich auch mit allen Seiten gesprochen. Das habe ich gemacht, um zu begründen, dass die Institutionalisierung der Konkordanzdemokratie in gespaltenen Gesellschaften nicht, wie bisher oft in der Literatur angenommen wird, zu Einheit und Stabilität führt, sondern meistens zu Zementierung der Spaltungen der Gesellschaft und zu Dauerinstitutionalisierung ihrer Konflikte. Der Fall Libanon zeigt, dass die Konkordanzdemokratie es nicht schafft, aus einer Gruppe von Menschen eine Nation zu bilden.
Als Übergangslösung kann man so ein System wie den Konfessionalismus auf dem Weg zum „Nation-Building“ einführen, in einer Gesellschaft, in der die Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften noch von Skepsis geprägt sind. Dann aber muss man das System überwinden, so wie es auch in der libanesischen Verfassung steht.
Was sind die Gründe dafür, dass die Konkordanzdemokratie nicht funktioniert?
1. In einer Konkordanz- oder wie in Libanon einer Proporzdemokratie (in meinem Buch nehme ich eine Differenzierung dieser Begriffe vor) entscheidet nicht die Mehrheit, sondern der Konsens. Das ist schon eine der größten Schwierigkeiten für eine langfristige Funktionalität dieses Systems, denn es muss Konsens über strittige Angelegenheiten zwischen den unterschiedlichen Gruppierungen erreicht werden. Besteht Uneinigkeit über einen einzelnen Punkt, werden bestimmte Gruppen ausgeschlossen und die Konkordanz ist nicht mehr konkordant.
2. Das proporzdemokratische System ist starr und unflexibel. Es setzt Quoten der Machtaufteilung fest und kann dadurch auf Veränderungen in der Bevölkerungsstruktur nicht mehr reagieren. Gesellschaften können aber sehr dynamisch sein, wie im Fall Libanon. Im Idealfall müsste die Theorie also einen ständigen Wandel und ein hohes Maß an Flexibilität voraussetzen, um die Machtaufteilung an die sich ständig ändernde Bevölkerungsstruktur anzupassen. Das ist aber utopisch, denn realistischerweise würde das einen freiwilligen Machtverzicht derjenigen Gruppen bedeuten, die relativ an Größe verloren haben.
Der Fall Libanon zeigt dieses Problem sehr deutlich. Warum? Nach der Staatsgründung Libanons 1920 und seiner Unabhängigkeit vom französischen Mandat 1943 hatte Frankreich das Interesse, der maronitischen Gemeinschaft Libanons, das größte Stück aus der Torte zu geben, das hat Frankreich auch getan. Seitdem hat die Gemeinschaft der Maroniten nicht nur die Schalthebel im Staat, sondern auch die höchste Repräsentationsquote in allen politischen und Verwaltungsbereichen und kann sich dadurch den größten Einfluss auch in anderen Bereichen sichern, wie etwa in der Wirtschaft und der Bildung. Die demographischen Verhältnisse haben sich aber seit den zwanziger und den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts erheblich verschoben, die Maroniten bildeten keine Mehrheit mehr im Staat und ihre offensichtliche Bevorzugung durch das System führte zur Frustration der benachteiligten Gruppen und schließlich zum Bürgerkrieg, denn freiwillig auf die Macht verzichten wollte natürlich keiner, und so war eine sehr kleine Korrektur in der Machtaufteilung nur um den sehr hohen Preis eines zwanzig-jährigen Krieges mit verheerenden Folgen, möglich!
Man könnte gegen dieses Defizit argumentieren und sagen: Gut alle fünf oder zehn Jahre muss in einer Proporzdemokratie eine Volkszählung vorgenommen werden und der Proporz dementsprechend korrigiert werden. Abgesehen davon, dass auch dann keiner freiwillig auf die Macht verzichten würde, bleibt in diesem Fall das Ausschlussproblem von Proporzdemokratien bestehen. Eine ständige quantitative Anpassung des Machtproporzes an die reale Bevölkerungsstruktur kann Ausschluss von bestimmten Gruppen nicht verhindern. Das passiert, wenn z.B. eine Gruppe der Meinung ist, dass ihr ein Gewicht zusteht, das ihrem zahlenmäßigen Anteil an der Bevölkerung übersteigt. In Libanon trifft dieses Problem auf die Drusen zu, die der Meinung sind, aufgrund ihrer historischen Rolle, Anspruch auf einen größeren Anteil an der Macht zu haben, als die quantitative Größe ihrer Bevölkerung es im Proporz erlauben würde. Oder wenn eine Gruppe der Meinung ist, dass ihr im System besondere Garantien und Schutzrechte zustehen. Dieser Fall trifft auf die Maroniten zu, die behaupten, in einem Meer von Islam verschlungen zu werden, deshalb bräuchten sie eine größere Machtbeteiligung, als ihre demographische Größe es zuließe.
Die Starrheit des Systems und das damit zusammenhängende Ausschlussproblem sind aber nicht die einzigen Gründe für dessen schlechter Funktionalität in fragmentierten Gesellschaften. Ein weiterer wichtiger Aspekt hängt mit der Rolle der Eliten in Proporzdemokratischen Systemen zusammen. Das System ist elitenspezifisch. Die Eliten machen Politik unter Ausschluss der breiten Massen. Hinzu kommt, dass diese Eliten sehr gut miteinander kooperieren können müssen, sonst funktioniert das System nicht. Entscheidungen müssen im Einvernehmen der Eliten aller Gruppen getroffen werden und es muss Konsens über viele wesentliche Aspekte in der Politik erzielt werden. Die Eliten funktionieren aber oft nicht so, wie die Theorie es vorsieht. Gerade in solchen gespaltenen Gesellschaften mit einer starken klientelistischen Tradition, sind die Eliten so sehr auf ihre eigene Gruppe fixiert, dass sie das Gemeinwohl der gesamten Gesellschaft aus den Augen verlieren. Jeder versucht den anderen von der Macht auszuschließen, anstatt zugunsten einer echten Lösung auch echte Kompromisse einzugehen. Außerdem schüren nicht selten gerade diese Eliten die Skepsis und die Feindschaften unter den verschiedenen Gruppen, um ihre eigene Existenz zu sichern. Damit tragen sie zum Erhalt dieses Systems bei. Das System basiert ja auf der Spaltung der Gesellschaft in unterschiedliche Gruppen, also versuchen die Eliten die partikularen Identitäten der Gruppen zu erhalten, anstatt diese zu Gunsten eines gemeinsamen nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls aufzulösen. Der Fall Libanon zeigt auch diese Spezifika der Proporzdemokratie sehr deutlich. Sowohl im Nationalpakt von 1943 als auch im Taif Abkommen von 1989 wurde der politische Konfessionalismus als Übergangslösung beschrieben und seine Überwindung sogar verfassungsmäßig zum nationalen Ziel erhoben. Die Pläne zu Überwindung des Systems scheiterten aber maßgeblich an der Unwilligkeit der Eliten, das System aufzulösen, das ihre Existenz sichert.
Ein weiterer wichtiger Grund für die schlechte Funktionalität von konkordanzdemokratischen Systemen liegt in ihrer Anfälligkeit für Störungen von Außen: Für einen äußeren Akteur ist es nämlich sehr leicht, Gruppen, deren Beziehungen durch Skepsis gekennzeichnet sind, gegeneinander auszuspielen, um ein bestimmtes Ziel in dem Land zu erreichen, wie etwa Instabilität oder Aufruhr gegen eine bestimmte politische Faktion. Auch dieses Problem lässt sich in Libanon, das als Spielball seiner Nachbarn gilt, sehr deutlich beobachten. Sowohl Israel als auch Syrien haben zu verschiedenen Zeitpunkten immer Allianzpartner in Libanon gefunden, die ihnen bei der Durchsetzung ihrer Interessen halfen.
Als letztes möchte ich darauf hinweisen, dass politische Stabilität oft mit wirtschaftlicher Stabilität einhergeht, in Proporzdemokratien gilt das noch in viel stärkerem Maße. Die ökonomischen Voraussetzungen sind wichtig. Wenn die unterschiedlichen Gruppierungen verschiedenen sozialen Schichten zugehören und zwischen denen die sozialen Spaltungen zu groß sind, gibt es Probleme und diese überlappen sich möglicherweise mit der konfessionellen Zugehörigkeit. Das stärkt wiederum die konfessionelle Identität und verhindert ein Zusammenwachsen, was eigentlich das Ziel der Konkordanzdemokratie ist.
Die Idee von proporzdemokratischen Systemen, nämlich dass die staatliche Einheit gerade durch die Anerkennung der Vielheiten erreicht werden soll, ist interessant, birgt aber große Schwierigkeiten. Um Einheit und Vielfalt in einem proporzdemokratischen System dauerhaft und funktionsfähig zu gewährleisten, ist unter den Gruppen Konsens über viele wesentliche Aspekte erforderlich:
Besteht Uneinigkeit über irgendeinen Aspekt, bedeutet es im Ergebnis Ausschluss für die benachteiligte Gruppe und widerspricht damit der allgemeinen verhandlungsdemokratischen Forderung nach Interessenausgleich.Obwohl die konkordanzdemokratische Theorie die staatliche Einheit in tief gespaltenen Gesellschaften gerade durch die Anerkennung der Vielheiten legitimieren will, muss deshalb gesagt werden, dass diese Konzeption letztendlich eher eine Verfestigung dieser Vielheiten nahelegt.
Du würdest sagen, dass der politische Konfessionalismus Interessenpolitik entlang konfessioneller Linien begünstigt oder sogar bedingt?
Genau so ist es. Der Konfessionalismus verhindert die Bildung und Entwicklung von politischen Parteien und begünstigt den Einfluss der Eliten der unterschiedlichen politisch-konfessionellen Gemeinschaften, den sogenannten Zuama oder Klientelbosse. Diese Klientelbosse verstehen sich in erster Linie als Vertreter ihrer Konfession. Es findet keine Inklusion statt. Es ist nicht so, dass in erster Linie das Gemeininteresse zählt. Es geht immer darum, das Beste für die eigene Konfession herauszuholen. Es geht nicht um Machtaufteilung zwischen den einzelnen Gruppierungen, es geht darum, wie man den anderen –die andere politisch-konfessionelle Gemeinschaft– von der Macht ausschließt.
Kommt diese Erwartung aber nicht aus den Religionsgemeinschaften selbst heraus?
Das ist unterschiedlich. Die Gemeinschaften sind ja auch heterogen. Nicht alle Mitglieder einer Gemeinschaft sind gleich gesinnt, da gibt es ganz unterschiedliche Erwartungen an die Klientelbosse. In allen politisch-konfessionellen Gemeinschaften, ob Maroniten, Drusen, Muslime finden sich Menschen, die das System ablehnen, gegen den Klientelismus und die Macht der Zuama stehen. Sie haben politische nicht konfessionalistische Forderungen wie: mehr soziale Gerechtigkeit, mehr Partizipation, bessere Bildung.
Das Problem ist eher bei den Eliten zu suchen: Proporzdemokratie ist ein elitenspezifisches System, und dieses System ermöglicht den Eliten den Machtzugang. Unter der Bevölkerung gibt es kritische Stimmen, die das ablehnen. Aber die Klientelbosse sind nicht gewillt, auf die Macht zu verzichten und die Klientelbosse sind die gleichen wie vor 10, 20 oder 45 Jahren. Das Ende der Proporzdemokratie würde das Ende ihrer Macht bedeuten. Wer aber verzichtet freiwillig auf Macht? Das ist ein Teufelskreis.
Wer könnten Akteure sein, die das System überwinden wollen und können?
Zivilgesellschaftliche Akteure. Es muss aber auch eine neue politische Generation geben. Der politische und gesellschaftliche Wille muss da sein. Die Menschen kritisieren das System am stärksten in Krisenzeiten, aber gerade dann orientieren sie sich sehr stark an ihrer Konfessionsgemeinschaft. Das ist das Problem. Man muss sich in einer ruhigen Phase mit dem System auseinandersetzen. Das ist auch schon oft erfolgt: Nach dem Taif-Abkommen hat man die Forderung nach der Abschaffung des Konfessionalismus sogar in die Präambel der libanesischen Verfassung aufgenommen und hat ein Gremium benannt, das schrittweise den Konfessionalismus überwinden soll. Aber dieses Gremium hat sich nie getroffen. Es heißt dann immer, man könne das nicht umsetzen, weil man dann die Rechte bestimmter Minderheiten gefährden würde. Aber in bestimmten Regionen der Bundesrepublik sagen ja auch nicht Protestanten oder je nach dem Katholiken: Wir haben mehr oder weniger Rechte als eine andere Konfession. In dem Moment, in dem man sich in erster Linie als Libanese identifiziert, wird die Konfessionszugehörigkeit im politischen Leben zweitrangig. Nur, davon sind wir noch weit entfernt. Der Fall Libanon zeigt, dass man Konkordanzdemokratien, wenn sie einmal etabliert worden sind, nur ganz schwer aufheben kann.
Wenn wir auf den Begriff Identität zu sprechen kommen. Glaubst du, dass die Abschaffung des politischen Konfessionalismus das Ende des mentalen Konfessionalismus mit sich bringen würde?
Der maronitische Patriarch hat einmal gesagt, man muss den Konfessionalismus erst aus den Köpfen löschen, bevor man ihn aus den Texten entfernt. Ich sehe das genau andersrum. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht umgekehrt. Der Konfessionalismus muss erst tatsächlich abgeschafft werden, damit eine mentale Entkonfessionalisierung folgen kann. Das wird ein langer Prozess, ist aber, meiner Meinung nach, ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ich habe in meinen Interviews oft gefragt, wie der Konfessionalismus überwunden werden kann, und wenig substantielle Antworten bekommen. Man kann den Konfessionalismus schrittweise abbauen, indem man z.B. das Wahlsystem reformiert, die Wahlkreise nicht mehr so manipulativ einteilt.
Kann diese Überwindung mit der gegenwärtigen politischen Generation erfolgen?
Ich denke nicht, dass das mit den Leuten, die heute die Fäden in den Händen halten passieren wird, weil sie eben nicht freiwillig auf ihre Macht verzichten werden. Nabih Berri, Walid Jumblatt und Samir Geagea werden nie freiwillig auf ihre Macht verzichten. Es muss irgendwann die Einsicht kommen, ich weiß aber nicht, wie freiwillig das geschehen wird. In Libanon gibt es ganz eindeutig neue Mehrheitsverhältnisse. Es gibt demographische Veränderungen, die eines Tages dazu führen werden, dass das politische System dementsprechend verändert wird. 1932 hat es die einzige Volkszählung in Libanon gegeben und sogar die ist umstritten. Wenn man heute einen Zensus durchführen würde, ergäbe sich ein Bild, das zu einer Veränderung führen muss, die eines Tages auch kommen wird.
Glaubst du, dass politische Parteien Akteure dieses Wandels sein können?
Politische Parteien müssen diese Rolle übernehmen. Aber sie müssen gestärkt werden. Bislang sind es einzelne Zuama, Führer der Konfessionen, die die Politik machen und nicht die Parteien mit ihren Wählern und Mitgliedern. Sie könnten aber eine Katalysatorfunktion haben und Veränderungen anstoßen und durchsetzen.
Ist eine ehrliche Verarbeitung der Vergangenheit Voraussetzung für eine tragfähige Zukunft?
Allerdings. Das Thema Vergangenheitsbewältigung wurde niemals angerührt. Wenn du dich heute mit libanesischen Jugendlichen unterhältst, wissen die kaum mehr, als dass es einen Krieg gegeben hat. Sie wissen aber nicht, was genau passiert ist und welche Folgen der Krieg bis heute hat.
Auf der vorletzten Berlinale habe ich einen sehr schönen Film gesehen – The One Man Village. Da habe ich zum allerersten Mal das Gefühl gehabt: Da hat sich jemand Gedanken gemacht, wenn auch sehr schüchtern. Ich denke, dass die Vergangenheitsbewältigung für die Stabilisierung des Landes sehr wichtig ist. Ohne Versöhnung wird es in der kollektiven Erinnerung dieses Volkes rumoren und es werden immer Kräfte von außen versuchen, dies zu instrumentalisieren und die politisch-konfessionellen Gemeinschaften gegeneinander auszuspielen.
Können Akademiker wie Kamal Salibi diese Brücke zur Bevölkerung schlagen? Warum wird an Universitäten darüber geforscht, ohne dass sich das in der Öffentlichkeit niederschlägt?
Akademiker wie Kamal Salibi, Ahmad Baidoun, Sami Ofeish oder Fawaz Traboulsi versuchen es, aber bisher ist noch kein Durchbruch erzielt worden. Nachdem Kamal Salibi sein Buch: „A House of Many Mansions - The history of Lebanon reconsidered“ geschrieben hat, wurde er von sämtlichen Leuten aus dem eigenen konfessionellen Lager angefeindet. Ich habe einmal Theodor Hanf gefragt, was er von Salibis Buch „A House of many mansions“ hält, und er sagte mir: „Der Salibi hat früher gute Arbeiten geschrieben, mit dem Alter ist er aber wohl etwas senil geworden.“ Damals, als Kamal Salibi noch den aggressiven, manipualtiven, nicht ehrlichen Kurs gefahren ist, hat er also gute Arbeit gemacht. Als er dann aber seine eigenen Thesen hinterfragt und widerrufen hat, und eine historisch wertvolle und ehrliche Arbeit geschrieben hat, erklärt ihn jemand wie Hanf für verrückt. Und auch von anderen Wissenschaftlern wird er bis heute angefeindet. Aber Salibis Buch hat sicherlich zu einer Entwicklung im Selbstverständnis der Maroniten in Libanon beigetragen. Auch wenn sie sich noch schwer damit tun, sich als Araber zu identifizieren, beharren sie jedoch nicht mehr auf die Phönizianismus-Theorie, die besagt, dass sie Phönizier sind und sich deshalb von den Arabern differenzieren.
Zu der zweiten Frage: Ich denke das liegt hauptsächlich daran, dass es kaum überkonfessionell orientierte Wissenschaftler gibt. Schau Dir die Geschichtsbücher in Libanon an, jede politisch konfessionelle Gemeinschaft hat ihre eigene Version der Geschichte, Historiographie ist in höchstem Maße konfessionell. Und die wenigen überkonfessionellen Wissenschaftler haben nicht ausreichend Foren, sich in der Öffentlichkeit zu artikulieren, beziehungsweise sie werden von der großen Masse konfessionell orientierter Wissenschaftler übertönt.
Du bist selbst Libanesin. Wie wirkt sich die Beschäftigung mit dem Thema auf dein Verhältnis zu deiner Familie und deinen Freunden aus?
Das ist eine gute Frage, weil es gerade in Libanon eine interessante Entwicklung gibt. Die Menschen konzentrieren sich wieder sehr auf ihre Konfession und dann kommt jemand wie ich, der sagt, dass das nicht richtig sei und keinen Sinn mache. Da bekomme ich selbst im Familienkreis nicht immer viel Zustimmung. Es gibt Menschen, die diesen Gedanken mitgehen, aber es gibt eben auch Menschen, die sich dagegen wehren und sagen: Die anderen politisch-konfessionellen Gemeinschaften sind schlecht. Dabei muss man sich vor Augen führen, dass es in Libanon immer zwei Wahrheiten, die der gleiche Mensch behauptet: Die Wahrheit, die man Leuten aus einem anderen politischen Lager auftischt und eine zweite, die man für sich und seine eigene Gemeinschaft hat. Oft hat man nach Gesprächen den Eindruck: Wow, wie unkonventionell, alternativ und progressiv ist dieser Mensch. Wenn du dann die gleichen Leute siehst, wie sie im eigenen Kreis sprechen, ist das erschreckend und das gibt es in jeder politisch konfessionellen Gemeinschaft, insbesondere bei den Vertretern von Radikalpositionen und da muss ich sagen, dass ich in Libanon viel mehr radikal-christliche als radikal-islamische Menschen kennen gelernt habe. Das habe ich nicht für möglich gehalten.
Wenn wir mal das Beispiel Michel Aoun nehmen, der 2005 ein überraschend gutes Wahlergebnis erzielt hatte und dessen Freie Patriotische Bewegung sich als säkular und überkonfessionell bezeichnet. Ist das für dich glaubwürdig? Gibt es andere Persönlichkeiten, die einen glaubwürdigen säkularen Kurs vertreten?
Wenn man sich Michel Aoun und seine Biographie anschaut, muss man sagen, dass er patriotisch und national gesinnt ist. Aoun hat damals gesagt, dass die Syrer Libanon ausbeuten und die libanesischen Interessen missachten. Er ist damals aggressiv gegen die Syrer vorgegangen, ist aus dem Land geflohen und hat gesagt, er kehre erst nach dem Abzug der Syrer zurück. Er hat sich damals nicht auf umstrittene Allianzen eingelassen, die das nationale Interesse gefährdet hätten. Genauso hat er nach seiner Rückkehr 2005 gehandelt. Wenn man sich sein Programm anschaut, dann finden sich darin die Interessen des Volkes wieder. Nach meiner persönlichen Meinung ist Aoun authentisch und ich nehme ihm ab, dass er überkonfessionell ist. Er ist auch in seinen Reden konziliant und um Einheit und Demokratie bemüht.
Es gibt auch in anderen Konfessionen integere Politiker, die überkonfessionell gesinnt sind. Besonders hervorzuheben ist Hussein Al Hajj Hassan als besonders engagiert, national gesinnt und nicht korrupt. Aus dem christlichen Lager ist Daoud Sayegh, und auch Suleiman Frangieh Jr. ist ein Politiker, der Potential in dieser Richtung hat.
Auch wenn er seine Macht aus seinem Familiennamen zieht?
Das stimmt, trifft aber auf fast jeden libanesischen Spitzenpolitiker zu. Wenn man sich aber sein Programm anschaut und seine politischen Statements verfolgt, vertritt er Standpunkte, die ich überzeugend finde.
Was hältst du von Innenminister Ziyad Baroud?
Bisher war Ziyad Baroud er einer der besten Minister in der libanesischen Geschichte. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie er sich in Zukunft entwickelt, insbesondere mit Blick auf Hürden, die ihm bereits jetzt auf dem Weg gelegt werden.
Glaubst du, dass es ein Dilemma ist, dass Baroud als Technokrat auf der einen Seite das Interesse aller im Blick haben und gleichzeitig charismatisch auftreten muss?
Klar wird in Libanon, vielleicht mehr als woanders, von Politikern Charisma erwartet, aber einen Widerspruch sehe ich darin nicht. Es kommt darauf an, wie man das charismatisch-Sein versteht. Libanon ist charismatische, aber gleichzeitig nicht effiziente Politiker gewöhnt, deshalb verbindet man vielleicht charismatisch mit ineffizient oder stellt sich die Frage, ob das eine nicht das andere widerspricht. Es ist aber durchaus möglich, das Interesse aller im Blick zu haben und gleichzeitig charismatisch zu sein. Die libanesische Gesellschaft wird Politiker begrüßen, die zielorientierte Vorhaben rational und effektiv planen und durchführen, ganz gleich wie ihr Auftreten ist. Ein Beispiel dafür könnte Michel Aoun sein, er ist sympathisch, aber nicht wirklich charismatisch oder?
Ein Schritt in Richtung Entkonfessionalisierung könnte deiner Ansicht nach eine Veränderung des Wahlsystems nach dem Motto „One man – one vote“ sein. Würde das nicht bedeuten, dass 50% der Wähler Schiiten sind und die Hizbollah 40-45% der Stimmen bekommen würde? Würden dadurch das Land nicht weiter destabilisiert und Minderheiten weiter marginalisiert werden?
Die Logik deiner Fragestellung ist konfessionalistisch. Du sprichst in der konfessionalistischen Denkweise. Ich bin libanesische Schiitin und würde in einer Demokratie nicht gezwungenermaßen die Hizbollah wählen. Das Argument, das Du anbringst, spiegelt das nicht vorhandene Vertrauen in eine Demokratie. In einer Mehrheitsdemokratie wäre die Mehrheit der Wähler schiitisch und vermutlich wäre die Hizbollah am Anfang auch stärkste Kraft, weil die Leute noch immer vom Konfessionalismus besessen sind. Eine echte Demokratie aber wäre der Schutz gegen eine Marginalisierung bestimmter Gruppen, weil politische Parteien gestärkt werden würden und ich niemanden wählen würde, nur weil er oder sie Sunnit, Schiit, etc. ist, so wie es jetzt der Fall ist. Ich würde die politische Partei wählen, die meine Interessen vertritt. Meine Mitbewohnerin ist Türkin und Muslimin und wählt die CDU. Ich verstehe das zwar nicht, aber das ist Demokratie, und wenn sie dort ihre Interessen am besten vertreten sieht, dann ist das eben so.
Eine stabile Demokratie, mit starken politischen Programmen, demokratischen Politikern und einer starken Zivilgesellschaft, starken überkonfessionellen Medien ist die Zukunft für Libanon.
Wir haben vor zwei Monaten den Präsidenten der Green Party of Lebanon interviewt. Kann so ein Parteienmodell, das sich auf bestimmte weitgehend unumstrittene Politikfelder konzentriert, ein Vorbild sein?
Klar, die Grüne Partei ist ja überkonfessionell. Zwischenzeitlich hatte sie auch an Stärke gewonnen. In dem Moment aber, in dem es kriselt, verliert eine solche überkonfessionelle Partei an Einfluss. Umweltverschmutzung ist in Libanon ein Riesenthema. Aber gerade in Krisenzeiten gibt es andere Themen, die die Menschen noch viel mehr ansprechen. Deswegen müssen sich solche Parteien stärker engagieren, sonst haben sie keine Chance. Das ist eben die Gratwanderung, sich für eine politische Sache einzusetzen, ohne gleich konfessionalistisch zu werden – das ist die große Herausforderung.