von Sara Mehring
An saudischen Gerichten werden immer mehr Menschen wegen Zauberei angeklagt und mit drakonischen Strafen belegt. Die religiöse Rechtfertigung überdeckt das eigentliche Problem: Dem Rechtssystem des Königreichs fehlen verbindliche Standards und vor allem ein Strafgesetzbuch.
Eine einfache Pilgerreise wurde Ali Sibat im Mai 2008 zum Verhängnis. Während seines Aufenthalts in Medina wurde der 46-jährige Libanese von der Religionspolizei, den sogenannten Mutawa'een, festgenommen und vor ein lokales Gericht gestellt. Der Grund: Ali Sabat arbeitete im Libanon als TV-Moderator bei dem Satellitensender Sheherazade und sagte dort Menschen in seiner Show die Zukunft voraus. Die Konsequenz: Am 9. November 2009 verurteilte ein Gericht in Medina Ali Sibat wegen »Hexerei« zum Tode.
Gerichtsprozesse wegen Vergehen wie »Hexerei« oder »Scharlatanerie« sind in Saudi-Arabien keine Seltenheit. Auslöser für derartige Anklagen sind genau so vielfältig, wie die gewählten Sanktionen: So wurde der Eritreer Muhammad Burhan im Jahr 2006 nur Aufgrund des Besitzes eines kleinen Notizbuches verhaftet, das mit tigrinischen Schriftzeichen, einer semitischen Sprache in Eritrea und Äthiopien, beschrieben war. Der Besitz des vermeintlichen »Talismans« brachte dem Mann eine Haftstrafe von 20 Monaten, 300 Peitschenhiebe und eine Abschiebung ein, nachdem seine Haftzeit nachträglich noch mehr als verdoppelt wurde. Die letzte bekannte Vollstreckung eines Todesurteils aufgrund der Anklage der Zauberei fand laut Amnesty International im Jahr 2007 statt: Der Ägypter Mustafa Ibrahim soll ein Exemplar des Korans entwürdigt und den Versuch unternommen haben, »durch Zauberei ein verheiratetes Paar auseinander zu bringen« und bezahlte dafür mit dem Leben.
Solche Formen von moderner Hexenjagd sind in Saudi-Arabien möglich, da die Rechtsprechung ganz von der individuellen Auslegung der Scharia durch den jeweiligen Richter abhängt. Richterämter an ordentlichen Gerichten werden in Saudi-Arabien ausschließlich von den Ulama, also den wahhabitischen Religionsgelehrten des Landes, besetzt. Die Lehre des Wahhabismus stellt in besonderem Maße die Bedeutung von »Tawhid«, der Einheit Gottes, heraus. Dieses Prinzip wird in Saudi-Arabien sehr eng ausgelegt und hat zur Folge, dass viele Religionsgelehrte selbst ihren schiitischen Landsleuten Vielgötterei und Abfall vom Glauben vorwerfen. Urteile in saudischen »Hexenprozessen« gehen daher oft mit dem Vorwurf der Apostasie einher.
»Hexerei« ist Auslegungssache
Gemäß einer solchen Auslegung haben sich die Verurteilten im saudischen Recht eines sogenannten »Hadd«-Vergehens schuldig gemacht. Unter »Hadd«-Delikten versteht man im islamischen Recht insgesamt sechs Arten von Verbrechen, für die im Koran genaue Strafen festgelegt sind, die als gottgegeben angesehen werden und folglich nicht abgeändert werden dürfen. Zu diesen Verbrechen gehören zum Beispiel Diebstahl, der mit dem Abschlagen einer Hand geahndet wird, oder das Trinken von Alkohol, für das achtzig Peitschenhiebe vorgesehen sind. Apostasie soll gemäß diesen Bestimmungen mit Tod oder Verbannung bestraft werden. Ob die behandelten Fälle von »Hexerei« allerdings unter diese Kategorie von Verbrechen fallen, hängt stark von der der Interpretation des einzelnen Richters ab.
Eine solch große Interpretationsfreiheit ist in der saudischen Rechtsprechung möglich, da de facto kein Strafgesetzbuch existiert, das näher definiert, welche Handlungen ein Verbrechen darstellen. Ohne ein solches Dokument und auch ohne eine Veröffentlichung der aktuell vorherrschenden Auslegung der Scharia, können sich weder die saudischen Staatsbürger, noch Besucher des Landes – wie Ali Sibat – sicher sein, ob sie sich mit ihren Handlungen gerade strafbar machen, oder nicht.
Das Fehlen eines Strafgesetzbuchs hat auch negative Konsequenzen für die Umsetzung vieler Vorgaben aus der Strafprozessordnung, die seit dem Jahr 2002 in Kraft ist. Diese Ordnung legt fest, wie Ermittlungen in einem Strafprozess geführt werden sollen und welche Rechte die Angeklagten vor und während der Gerichtsverhandlung inne haben. So hat ein Angeklagter offiziell das Recht, über seinen Fall genau in Kenntnis gesetzt zu werden, sich auf eine Verteidigung vorzubereiten und einen Anwalt zu konsultieren. Jedoch unterwandern das fehlende Strafgesetzbuch und auch andere rechtliche Lücken diese Rechte eines Angeklagten.
Human Rights Watch stellt in einem Bericht zur Rechtsverfolgung in Saudi-Arabien heraus, dass ein Angeklagter zwar grundsätzlich Anrecht darauf hat, Rechtsbeistand zu konsultieren und mehr Informationen über den eigenen Fall zu erhalten, die Ermittler allerdings nicht verpflichtet seien, die Angeklagten auch über dieses Recht zu informieren. Viele Inhaftierte, so Human Rights Watch, wüssten daher gar nicht von ihren Rechten oder würden auch einfach daran gehindert, sie wahrzunehmen. Zudem ist es schwierig, sich auf eine Verteidigung vor Gericht vorzubereiten, wenn noch während der Inhaftierung der eigentliche Anklagepunkt nicht feststeht.
Da es keine Definition eines Verbrechens gibt, werden Menschen zunächst aufgrund von »Indizien« festgenommen, die dann erst im Laufe der Ermittlungen, zum Beispiel als Hexerei eingestuft werden können. Vor saudischen Gerichten sind dann auch Beweise zulässig, die unter Zwang oder durch Täuschung ermittelt wurden. So wurde nach Angaben von Amnesty International auch Ali Sibat nach seiner Verhaftung versichert, dass er innerhalb weniger Wochen wieder freigelassen würde, wenn er genau niederschriebe, wie seine berufliche Tätigkeit aussieht. Dieses Schriftstück wurde dem Gericht dann im Anschluss als Geständnis vorgelegt und führte zum Todesurteil für Ali Sibat.
Sibats Fall wandert derzeit noch zwischen mehreren Berufungsgerichten hin und her. So hatte ein Berufungsgericht im Dezember 2009 befunden, dass das Urteil zu vorschnell getroffen wurde und die Beweise erneut überprüft werden müssten. Mittlerweile hat das Gericht in Medina sein Urteil allerdings bekräftigt. Die Richter betonten, dass Sibat »über Jahre in aller Öffentlichkeit und für Millionen Menschen sichtbar schwarze Magie betrieben« habe und dass an ihm ein Exempel statuiert werden müsse, um gerade auch Ausländer davon abzuschrecken, ins Land einzureisen und dort ihre schwarze Magie zu verbreiten.
Tatsächlich sitzen bei vielen Gerichtsverhandlungen in Saudi Arabien, in denen es um Tatbestände wie Zauberei geht, Ausländer auf der Anklagebank. Dies kann zum Einen als eine Abschottungshaltung gegen »schlechte« äußere Einflüsse und Gedankengut interpretiert werden, zum Anderen spiegelt es aber auch Diskriminierungstendenzen innerhalb des Justizsystems wieder. So werden in Saudi-Arabien nach Angaben von Amnesty International überdurchschnittlich viele Todesurteile an ausländischen Verurteilten, die oft aus armen Verhältnissen stammen, vollstreckt.
Willkürliche Rechtspraxis
Die Gründe dafür sind vielfältig: Die Angeklagten beherrschen zum Teil die arabische Sprache nicht ausreichend, um dem Prozess zu folgen und sich verteidigen zu können. Der Kontakt zur Botschaft des Landes kann oft nur mit großer Mühe oder gar nicht hergestellt werden. Bei möglichen Begnadigungen ist entscheidend, ob die Regierung des Herkunftslandes genug Einfluss auf die saudische Königsfamilie oder die klagenden Parteien nehmen kann und will. Häufig werden bei solchen Begnadigungsverfahren auch hohe Geldsummen gezahlt, die nur über gute Kontakte innerhalb des Landes übermittelt werden können.
Der Anklagepunkt »Hexerei« kann unter den derzeitigen Bedingungen des saudischen Rechtssystems mehr oder weniger willkürlich gebraucht und als Vorwand für die Eindämmung von »unliebsamen Verhalten« instrumentalisiert werden. Nicht nur ist dieses »Verbrechen«, wie alle anderen Vergehen in Saudi-Arabien, durch keine Definition in einem Strafgesetzbuch festgelegt. Es ist zugleich nahezu unmöglich zu widerlegen, da dafür zunächst die Existenz oder Nicht-Existenz von Zauberei zur Debatte gestellt werden müsste.
Um einer solchen Willkür in den Gerichten Saudi-Arabiens beizukommen sind umfassende Reformen von Nöten. In den letzten zehn Jahren wurden hier tatsächlich erste Schritte unternommen: So hat Saudi-Arabien im Jahr 2002 die erste Strafprozessordnung des Landes eingeführt. Zudem sieht ein Gesetz zur Judikative aus dem Jahr 2007 neben administrativen Veränderungen auch stärkere Kontrollmechanismen für die Ausbildung und Qualifizierung von Richtern vor. Human Rights Watch begrüßt zudem die Initiative des Schura-Rates vom 11. Januar 2010, künftig für die Gerichte staatlich finanzierte Verteidiger zur Verfügung zu stellen, um Angeklagte zu vertreten, die sich keinen Rechtsbeistand leisten können. Inwieweit sich diese Initiative durchsetzen und in der Praxis dann auch fruchten wird, bleibt abzuwarten. Von höchster Priorität bleibt allerdings die Einführung eines brauchbaren Strafgesetzbuches. Doch zu diesem Punkt gibt es von Seiten der Regierung bisher lediglich Lippenbekenntnisse.
Sara Mehring studiert Politikwissenschaft an der Universität Münster und hat diesen Beitrag im Rahmen des Seminars "Islamistische Bewegungen in Nahen Osten" verfasst.