Abends in den unbeleuchteten Straßen des Flüchtlingslagers Nahr al-Bared durch knöcheltiefen Dreck stapfend irritieren die Hip-Hop-Klänge aus den Häusern und Hütten der Flüchtlinge. Doch die Reime entstanden im Camp – und sind äußerst mutig.
“Ich trage Sorgen / aus dem Inneren eines zerstörten Camps / Ich bereite einen Angriff vor / Worte drehen sich in meinem Kopf / Nahr al-Bared ist mit Eisenstäben eingezäunt / In den Zeitungen berichten sie über das Leid / Jedes Wort macht Sinn.”
Farhan Abu Siyam (21) ist Nahr al-Bareds erster und einziger Rapper. Sein Künstlername lautet 'MC Tamarrod' oder zu deutsch: MC Rebellion. In Libanons palästinensischen Flüchtlingslagern Nahr al-Bared und Bourj al-Barajneh aufgewachsen, weiß er, dass Hip-Hop in der palästinensischen Gesellschaft umstritten ist: „Viele Leute mögen Rap nicht weil sie gegen westliche Musik oder Elemente wie den Takt sind,“ erklärt Abu Siyam. Er fordert die Gesellschaft auf, Rap eine Chance zu geben und betont, dass er nicht einer fremden Sprache singe, sondern arabische Wörter und Straßen-Slang benütze: „Ich rappe in unserem palästinensischen Dialekt, in der Sprache der Camps, wo ich geboren und aufgewachsen bin.
Abu Siyams Inspirationsquellen sind Rap-Crews wie 'Katibe 5' und 'I-Voice' aus Beiruts Flüchtlingslager Bourj al-Barajneh und Hip-Hop-Gruppen aus Palästina wie 'Ramallah Underground' oder 'DAM', welche als Gründer des palästinensischen Hip-Hops gelten. Ihr Stil ist alles andere als oberflächlich und auf pure Unterhaltung oder Kommerz aus. Palästinensische Rapper sind meist durch ihre Herkunft gezeichnet, betonen ihre marginalisierte, unterdrückte Stellung und betrachten ihre Worte als Waffen in ihren politischen und sozialen Kämpfen.
MC Tamarrod nimmt kein Blatt vor den Mund. Er rappt über das miserable Leben in Nahr al-Bared nach dem Krieg. Mit dem autonomen Medienkollektiv 'a-films' produzierte er neulich einen kurzen Video-Clip. Vor einer mit Einschusslöchern überzogenen Wand eines ausgebrannten Hauses gestikulierend thematisiert er den zerstörerischen Krieg von 2007:
“Du fragst mich was passierte? / Jene, die zuschlugen, rannten davon / Jene die vorbeikamen, plünderten / Und einige von ihnen legten Feuer.”
Vor zweieinhalb Jahren wurde das Flüchtlingslager Nahr al-Bared im Norden Libanons in und nach einem Krieg zwischen der libanesischen Armee (LAF) und der militanten, nicht-palästinensischen Gruppe Fatah al-Islam, vollständig zerstört. Heute leben zwei Drittel der EinwohnerInnen des Camps in seinem äußersten Bereich in beschädigten Häusern und temporären Unterkünften. Abu Siyam sagt, viele Leute hätten über Nahr al-Bared gesungen und gesprochen, „aber niemand äußert sich zum Krieg, unserer Hoffnungslosigkeit und Unterdrückung.“
Nahr al-Bared ist nach wie vor abgeriegelt und gilt als militärische Sperrzone. Die LAF unterhalten fünf Checkpoints an den Eingängen zum Camp. Zutritt ist nur mit speziellen Bewilligungen möglich, welche beim Armeegeheimdienst beantragt werden müssen. JournalistInnen können nicht frei arbeiten. „Wir sind umzingelt und leben wie in einem Gefängnis. In anderen Flüchtlingslagern können die Menschen auf normale Weise kommen und gehen,“ klagt Abu Siyam. Die Armeepräsenz in und um Nahr al-Bared ist eines der Hauptthemen, über die MC Tamarrod rappt:
Ich bin Palästinenser und unterwerfe mich eurer Armee nicht / Stoppt den Bau dieser Mauer! / Vom ersten Moment an begriff ich, was ihr wolltet: / 'Zeig mir deinen Ausweis, wo ist die Bewilligung?'”
Die libanesische Armee bezeichnet die Checkpoints und Bewilligungen als notwendig um die Sicherheit der Menschen zu gewährleisten, „indem die Infiltration von Terroristen und gesuchten Personen, der Schmuggel von Waffen, Sprengstoff und illegalem Material verhindert wird.“ Viele Flüchtlinge in Nahr al-Bared fühlen sich durch die LAF aber gedemütigt und unterdrückt. Abu Wissam Gharib, Chef der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) sagt, es sei nachvollziehbar, dass der Krieg der Armee bedurfte, „aber wieso zog das Militär nicht ab, als der Krieg vorüber war?“ Er wundert sich, weshalb er in ganz Libanon mit seinem Ausweis herumreisen kann, aber für die Rückkehr in sein Zuhause in Nahr al-Bared eine Bewilligung benötigt.
Abu Siyam nimmt seine Songs im Studio 'al-Mukhayyamat' im Flüchtlingslager Bourj al-Barajneh auf. Das Camp in der südlichen Peripherie Beiruts ist die Geburtsstätte palästinensischen Hip-Hops in Libanon und beherbergt die Rap-Gruppen 'I-Voice' und 'Katibe 5'. Beide Crews kämpfen mit ihren Worten nicht nur gegen die verschiedenen Formen der Diskriminierung der ungefähr 250.000 PalästinenserInnen im Libanon, sondern greifen auch das Establishment ihrer eigenen Gesellschaft an. Sie beschuldigen NGOs und die politischen Parteien der Korruption und des Verrats an der palästinensischen Sache. Ebenso MC Tamarrod:
„Die Parteien sind heuchlerisch / ihre Autorität dumm / verstärkt durch Lügen / Ihre Politik ist verrückt.“
Abu Siyam ist sich seiner starken Worte bewusst, doch betont er: „Wir sind nicht gegen die libanesische Ordnung, aber sie enthalten uns unsere Rechte vor.“ Junge PalästinenserInnen in Abu Siyams Alter sehen meist keine positive Zukunft im Libanon. Emigration ist oft ihr einziges Ziel. Viele haben die Hoffnung verloren, dass den palästinensischen Flüchtlingen nach 60 Jahren Anwesenheit im Libanon doch noch Arbeits- und Eigentumsrechte gegeben werden. Als neulich eine Delegation aus Geberländern Nahr al-Bared besuchte, organisierten BewohnerInnen der temporären Unterkünfte einen Protest. Sie forderten allerdings nicht etwa mehr Hilfe, sondern Visa zwecks Emigration.
Die Zerstörung des Flüchtlingslagers und seines einst lebendigen Marktes, der stockende Wiederaufbau und die andauernde Belagerung des Camps durch die LAF haben die Verbreitung von Arbeitslosigkeit begünstigt. Charlie Higgins, Projektmanager der UN-Flüchtlingsagentur für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) für Nahr al-Bareds Wiederaufbau beschreibt die ökonomische Situation im Camp als „festgefahren.“ Er sagt, weder habe sich die Wirtschaft regeneriert, noch habe sich die Beschäftigungssituation seit Kriegsende verbessert.
MC Tamarrod hofft indes, dass es im Falle eines Wiederaufbaus Nahr al-Bareds einst ein Studio im Camp geben werde, wo er seine Rap-Songs aufnehmen könnte. Im Flüchtlingslager Beddawi, dem zweiten Camp in der Nähe der nordlibanesischen Stadt Tripoli, ist die Infrastruktur zwar vorhanden, aber die Produktion eines Songs kostet zwischen 200 und 250 US-Dollar. Gegenwärtig arbeitet MC Tamarrod an zwei neuen Hip-Hop-Songs – er wird wiederum nach Beirut fahren müssen, um sie aufzunehmen.
Das oben erwähnte Video wie auch der Rap-Song sind online verfügbar.
Die englische Originalversion dieses Beitrags wurde hier von IPS veröffentlicht.
Ray Smith ist ein Aktivist des autonomen Medienkollektivs 'a-films'. Das Kollektiv arbeitet seit zweieinhalb Jahren in Nahr al-Bared und hat auf seiner Website rund ein Dutzend Kurzfilme aus dem Camp veröffentlicht.