Als am 16. September 2009 der der syrische Außenminister Walid Muallem und sein türkischer Amtskollege Ahmet Davutoglu zur Pressekonferenz luden, um ein bilaterales Abkommen zum freien Waren- und Reiseverkehr zwischen beiden Ländern zu verkünden, stieß das auf vergleichsweise wenig mediale Beachtung. Kein Wunder, schließlich kündigte sich die UNO-Vollversammlung in New York an, die dicht gedrängt auch die erwarteten Schlagzeilen produzierte und alle wesentlichen Konfliktherde und -akteure - Netanyahu, Abbas, Obama, Gaddafi und Ahmadinejad - bündelte.
Im Schatten des medialen Großaufgebots scheint jedoch eine neue Allianz am Horizont, die möglicherweise die politischen und ökonomischen Dynamiken der Region eher verändern kann.
Denn der beidseitige Abschaffung der Visapflicht soll nur der Anfang sein für eine neue Ära umfassender syrisch-türkischer Partnerschaft, wie beide Seiten deutlich machten.
Noch vor zehn Jahren schien das fast undenkbar. Unversöhnlich standen sich die Türkei und Syrien gegenüber. Der Streit um Zugang und Nutzung des Euphrat-Wassers sowie die unverhohlene Unterstützung Syriens für die kurdische Arbeiterpartei PKK führte zu ständigen Spannungen und Grenzscharmützeln. Nur zaghaft ging Bashar al-Assad nach seiner Amtsübernahme auf den Nachbarn zu. Erst als der Politikprofessor Ahmet Davutoglu als Außenminister eine neue Vision der regionalen Rolle der Türkei formulierte, näherten sich Ankara und Damaskus an und stellten fest, dass beiden Staaten Kooperation mehr nützt als latente Feindschaft.
Auf mehrere Gebieten könnte die neue Allianz wesentliche Auswirkungen haben:
1. Wirtschaft:
Bereits im letzten Jahr schloss die Türkei ein ähnlichen Vertrag zum Reise- und Warenverkehr mit der irakischen Regierung unter Nuri al-Maliki, mit dem Iran ist ein solches Abkommen schon seit Jahren in Kraft. Dieser neue "Schengen-Raum" soll langfristig den zweiten integrierten Wirtschaftsgroßraum im Nahen Osten - neben der Golfregion - schaffen. Zudem soll sich die Chance bieten, einen für den Nahen Osten so typischen Wasserkonflikt auf friedliche Weise und im Konsens zu regeln.
2. Israel/Palästina:
Lange Zeit stand die Türkei abseits der wichtigen Akteure im zentralsten aller Nahostkonflikte. Die meisten arabischen Staaten verurteilten die regional einmalig engen Beziehungen Ankaras, und besonders des politischen einflussreichen Militärs, zu Israel. Die AKP und Davutoglu schlugen einen neuen Kurs ein und sucht nun gerade dieses traditionell gute Verhältnis zu Israel zu nutzen, um als neuer Friedensvermittler zur Regionalmacht aufzusteigen. Auf arabischer Seite wiederum konnte die türkische Führung wiederum glaubhaft punkten, als Ministerpräsident Erdogan auf dem Weltwirtschaftsforum im Davos Anfang 2009 Israels Präsidenten Shimon Peres öffentlich scharf für den Gazakrieg geißelte und die indirekten Friedensverhandlungen auf Eis legte.
Aus syrischer Sicht ist das durchaus von Vorteil. Denn seit dem Antritt der Rechtskoalition um Benjamin Netanyahu und Avigdor Liebermann ist das türkisch-israelische Verhältnis sichtlich abgekühlt. Und zusammen mit den international integren Türken könnte Syrien seinen Weg aus der internationalen Isolation fortführen und seiner Verhandlungsposition erheblich mehr Gewicht verleihen.
3. Irak:
Das syrisch-irakische Verhältnis gestaltet sich dem Sturz Saddam Husseins äußerst ambivalent. Einerseits schulterte Syrien die Hauptlast des irakischen Flüchtlingsstrom, andererseits wirft Bagdad seinem Nachbarn stets vor, das Einsickern von Terroristen über die gemeinsame Grenze nicht zu unterbinden, oder gar bewusst zu fördern. So zuletzt Mitte August, als mehrere Bomben das Bagdader Regierungsviertel erschütterten und Ministerpräsident Nuri al-Maliki wütend Richtung Damaskus polterte. Die Türkei könnte zwischen beiden Streithähnen schlichten und gemeinsame Interessen aller drei Staaten, etwa in den Bereichen Wasser- und Energieversorgung, hervorheben.
Desweiteren beherbergen alle drei Staaten, sowie Iran, erhebliche kurdische Bevölkerungsanteile, wenngleich in diesem Bereich Entwicklungen in alle Richtungen möglich scheinen und nur schwer zu prognostizieren sind. Einerseits teilen alle diese Staaten die Furcht vor einem erstarkenden kurdischen Nationalismus, der von der immer selbstbewusster auftretenden Regionalverwaltung im Irak ausgeht. Insofern könnten die Kurden Gefahr laufen, koordinierten Repressionen seitens Syriens, Irans und der Türkei ausgesetzt zu werden. Andererseits stellen Kurden ein wichtiges Wählerpotenzial für die türkische Regierungspartei AKP, die innerhalb der stark nationalistischen Parteienlandschaft den kulturellen Rechten der Kurden noch am offensten gegenübersteht. Offene militärische Interventionen im Irak, wie zuletzt 2007, sind unter Davutoglu jedenfalls kaum zu erwarten. Mehr kulturelle Rechte und ein erleichterter Waren- und Reiseverkehr könnte denn auch den Lebenstandard der kurdischen Bevölkerung heben und, so das Kalkül, dem kurdischen Nationalismus den Wind aus den Segeln nehmen.
4. EU-Beitritt:
Inwiefern die türkisch-syrische Allianz die Ambitionen der Türkei auf den EU-Beitritt beeinflusst, kann unterschiedlich interpretiert werden. Auf den ersten Blick scheint Ankara auf die stockenden Beitrittsverhandlungen mit einer Umorientierung gen Orient zu reagieren. In einem solchen zukünftigen Staatenbündnis könnte Ankara dann sogar eine führende Rolle spielen und wäre nicht auf eine Appanage am Rande Europas reduziert. Andererseits aber kann das türkische Engagement in Nahost gerade als eine Art Bewerbungsschreiben für einen EU-Beitritt gedeutet werden. Die Türkei unterstreicht die Bedeutung, die ihr Einfluss auf die verschiedenen, oben angeführten, Konfliktfelder der Region für die EU haben kann und steigert so ihren Wert für das europäische Staatenbündnis. Sowohl in Fragen der Energieversorgung, als auch der Außen- und Sicherheitspolitik könnte die Türkei als entscheidendes Bindeglied auftreten und dem internationalen Gewicht und dem regionalen Ansehen der EU wieder zu Geltung verschaffen.
5. Türkisch-Arabisches Verhältnis
Die Spannungen zwischen Syrien und der Türkei beschränken sich nicht allein auf politische und wirtschaftliche Fragen. Der Gegensatz von türkischem und arabischem Nationalismus hat seit dem Ende des Osmanischen Reiches Ressentiments auf beiden Seiten unterfüttert. Die Annäherung könnte, so die Hoffnung, das gemeinsame kulturelle Erbe beider Staaten betonen. Sowohl in Syrien als auch in der Türkei könnte der erleichterte Reiseverkehr auch Begegnung und gegenseitiges Kennenlernen ermöglichen und möglicherweise zu einer Revision etablierter Geschichtsbilder der jeweiligen Nationalismen führen.
Die Wunden der Vergangenheit werden allerdings noch eine Weile brauchen, um zu heilen. Das gilt insbesondere für die syrische Seite, die noch immer auf den Sanjak Alexandretta im Nordwesten besteht, der 1939 von der Türkei annektiert worden war. Das Gebiet um die alte Metropole Antiochia ist auf jeder syrischen Karte als integraler Bestandteil Syriens ausgewiesen, Damaskus hat die Annexion nie akzeptiert. Das umstrittene Territorium könnte so als großer Zankapfel der gegenseitigen Annäherung im Weg stehen - kann aber genauso gut davon profitieren und als gemeinsamer Begegnungsort zwischen Türken und Arabern voranschreiten.