27.05.2009
Interviews mit libanesischen Erstwählern II
Liebe Leser,



etwa 20 libanesische Erstwähler haben uns einige Fragen bezüglich der anstehenden Parlamentswahlen beantwortet. Hier eine Zusammenfassung...

Interviews with Lebanese First-Time-Voters

The overwhelming majority of the interviewees is going to follow the elections on June 7 with great excitement with most respondents predicting a tight victory for the opposition. Only few expect far-reaching changes in the politically fragile situation in Lebanon. First-time voters explain this view by stating that the “same old, corrupt and power-obsessed candidates” like in the previous decades will run for election - a personal renewal within political movements does not take place, ranks and power are often simply inherited within one family. In addition, some first-time voters fear that the losing camp - whether March 14 or March 8 – won’t accept the democratic defeat and will call for extra-parliamentary protests instead.

Concerning the continuing instability in the Cedar State the young Lebanese often criticize the major influence of external forces - primarily Iran, the US, Israel, Syria and Saudi Arabia. Another problem mentioned is that most regions are dominaten by one political, mostly religious-based movement. Politicians who state other views or represent other positions, have little chances to be elected. Only a minority of interviewees reported attempts of bribery during the election.

The majority of respondents is in favor of the abolition of the confessional system in which seats in Parliament and in the public sector are “reserved” for certain sects. Instead of religious affiliation quality and qualifications should be decisive in the allocation of political offices. Mainly Christian interviewees argue that the abolition of confessionalism could put the political rights of the (Christian) minority at risk. According to these views Lebanon is not ripe for such a change, guarantees for religious minorities could be a compromise.

For the majority of respondents not the profile of the candidate, but his political affiliation with one of the two political camps is the most crucial factor when voting. Some of the interviewees admitted that they did not even know the candidates in their constituency. If interviewees named candidates in their qada, they explained their choice on the grounds that the candidates would care a lot about local the economy or social security in their constituency.

The answer patterns to the question, what topics a new government should mainly deal with, were very heterogeneous – ranging from the peace process with Israel, relations with Syria, the weapons of Hezbollah, dialogue with President Obama to the expansion of the tourism sector. Hoever the most common need stated by the first-time voters were initiatives in the area of the (non-satisfactory) infrastructure (eg roads, hospitals, universities, etc.), the economy and on social security - an indication of how precarious the economic situation and the situation on the labor market is.

The respondents’ evaluation of the scenario of an electoral victory of the opposition varies significantly according to their political affiliation. One supporter of the March 14 camp represents the extreme position that this would lead to an Islamic state modeled after Iran's lead. However it appears strikingly that even some March 14-sympathizers hope that a change of government could bring a positive change overcoming the current deadlock. Concerning the development of the social system greater skills are ascribed to the opposition.

Quite a few respondents expect nothing to change, some fear an isolation from the West. Others counter that Lebanon - in the event of an opposition victory – would no longer blindly obey "Uncle Sam". One respondent hopes that Hezbollah – being responsible in the government - could be pushed to integrate its militia into the Lebanese army.

Finally, the respondents strongly oppose any external influence and intervention. The election results should be - no matter what the outcome - be accepted, so that Lebanon could live in peace. In this context, many criticize the biased media coverage in Europe and the USA.

Die überwältigende Mehrheit der Interviewpartner wird die Wahlergebnisse am 7. Juni mit großer Spannung verfolgen, wobei die meisten Befragten einen knappen Sieg der Opposition prognostizieren. Jedoch erwarten die Wenigsten weitreichende Veränderungen in Bezug auf die politisch fragile Situation im Libanon. Dies führen die Erstwähler darauf zurück, dass die "alten, korrupten und machtbesessenen Kandidaten" der letzten Jahrzehnte antreten - eine personelle Erneuerung finde innerhalb der politischen Bewegungen kaum statt, Macht werde häufig schlichtweg vererbt. Außerdem befürchten einige Erstwähler, dass das geschlagene Lager - ob March 14 oder March 8 - die demokratische Wahlniederlage nicht akzeptieren und zu außerparlamentarischen Protesten aufrufen wird.

In Bezug auf die anhaltende Instabilität im Zedernstaat kritisieren die jungen Libanesen häufig den großen Einfluss externer Kräfte - in erster Linie werden Iran, USA, Israel, Syrien und Saudi-Arabien genannt. Ein weiteres Problem stelle schließlich dar, dass die meisten Regionen von einer politischen, zumeist konfessionell orientierten Bewegung dominiert würden. Politiker, die andere Positionen vertreten, hätten somit kaum Chancen, gewählt zu werden. Nur eine Minderheit der Interviewpartner berichtet von Bestechungsversuchen im Zuge der Wahl.

Der Großteil der Befragten spricht sich dafür aus, das konfessionelle Proporzsystem in der Politik, aber auch im öffentlichen Sektor abzuschaffen. Qualität und Qualifikation sollten anstatt der konfessionellen Zugehörigkeit bei der Vergabe politischer Ämter entscheidend sein. Hauptsächlich christliche Interviewpartner vertreten die Ansicht, dass die Abschaffung des Konfessionalismus die politischen Rechte der (christlichen) Minderheiten gefährden könnte. Noch sei das Land nicht reif für eine derartige Veränderung, Garantien für religiöse Minderheiten könnten einen Kompromiss darstellen.

Für die meisten Befragten ist nicht das Profil des Kandidaten, sondern seine politische Affiliation mit einem der beiden politischen Lager bei der Stimmenvergabe entscheidend. Einige der Interviewpartner geben zu, die Kandidaten in ihrem Wahlkreis nicht einmal zu kennen. Wenn präferierte Kandidaten benannt wurden, wurde deren Wahl meist damit begründet, dass sie sich stark für die Wirtschaft oder die soziale Sicherung im eigenen Wahlbezirk einsetzten.

Das Antwortverhalten auf die Frage, mit welchen Themen sich eine neue Regierung hauptsächlich beschäftigen sollte, ist sehr heterogen - vom Friedensprozes mit Israel, über die Beziehungen mit Syrien, die Waffen der Hizbollah, Dialog mit Präsident Obama bis hin zum Ausbau des Tourismussektors werden verschiedene Forderungen gestellt. Am häufigsten erhoffen sich die Erstwähler jedoch Initiativen im Bereich der nicht zufriedenstellenden Infrastruktur (z.B. Straßen, Krankenhäuser, Universitäten, etc.), der Wirtschaft und bezüglich der sozialen Sicherung - ein Indiz, wie prekär sich die wirtschaftliche Situation und die Lage auf dem Arbeitsmarkt darstellen.

Das Szenario eines Wahlsiegs der Opposition bewerten die Befragten gemäß ihrer politischen Färbung höchst unterschiedlich. Ein Anhänger des March 14-Camps vertritt die Extremposition, dass dies zu einem islamischen Staat nach iranischem Vorbild führe. Auffällig erscheint allerdings, dass sich selbst einige March 14-Sympathisanten durch den Regierungswechsel eine positive Veränderung der festgefahrenen Strukturen erhoffen. Der Opposition werden vor allem bezüglich des Ausbaus des Sozialsystems größere Kompetenzen zugeschrieben.

Nicht wenige Befragte erwarten keine Veränderung, manche befürchten eine Isolation seitens des Westens. Andere entgegnen, dass der Libanon im Falle eines Oppositionsiegs nicht mehr blind "Uncle Sam" gehorchen würde. Eine Befragte erhofft sich, dass Hizbollah in der Regierungsverantwortung dazu gedrängt werden könne, seine Miliz in die libanesische Armee zu integrieren.

Schließlich verwahren sich die Befragten gegen jegliche externe Einflussnahme. Das Wahlergebnis müsse - egal bei welchem Ausgang - akzeptiert werden, damit der Libanon in Frieden leben könne. In diesem Zusammenhang kritisieren viele die voreingenommene Medienberichterstattung in Europa und in den USA.
Christoph ist studierter Islam-, Politik- und Geschichtswissenschaftler mit Fokus auf Westasien. Der Mitgründer von Alsharq - heute dis:orient - war zwischen 2011 und 2014 bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und dem Willy-Brandt-Zentrum in Jerusalem tätig. In Berlin arbeitet er als Geschäftsführer für Alsharq REISE. Christoph hält regelmäßig...