Liebe Leser,
ein deutscher Freund, der in Jerusalem arbeitet, hat neun Tage nach Kriegsende den Gazastreifen besucht und sich ein Bild von der Lage gemacht.
Shooting Rabbits
In den Gazastreifen zu fahren ist eine Sache. Eine andere, wieder rauszukommen. Neun Tage nach Ende des Kriegs sind wir zu dritt nach Gaza aufgebrochen. Unseren Kollegen besuchen, sich mit Projektpartnern treffen, planen was wir dort unter den Umständen noch machen können. Gaza ist ein Trümmerhaufen. Auch politisch. Keine Ahnung wie das da weitergehen soll. Die Hamas räumt die Straßen auf und regelt den Verkehr, derweil die Leute unterwegs sind, um Nahrungsmittel und Material zum provisorischen Flicken von Granatenlöchern und Brandschäden zu suchen. Richtige Baumaterialien werden immer noch nicht reingelassen.
Der Tunnelhandel entwickelt sich langsam aber sicher wieder. Von den ca. 1400 Tunneln zwischen Gaza und Ägypten, hat Israel die meisten zerstört, aber nicht alle. So etwa 100 waren wieder in Gange als wir in Rafah an der Grenze zu Ägypten waren. Und an den anderen wird fleißig gebaut. Eine riesige Zeltstadt markiert das Terrain - jedes weiße Zelt ein Tunneleingang.
Besonders gut funktionieren die Benzin- und Dieseltunnel - selbst wenn sie bombardiert wurden. Die Schläuche in den Tunneln sind meist heil geblieben. Benzin ist in Gaza billiger als in Ramallah...
Warum dieser Krieg - fragt man sich. Hamas und die anderen Milizen haben immer noch Raketen, der Tunnelhandel blüht weiter, weil die Blockade nicht aufgehoben wurde. Zwar fliegen gerade keine Raketen nach Israel, aber wenn die Blockade nicht bald aufgehoben wird, ist
sicher bald Schluss mit der Feuerpause. Hamas hat im Westjordanland an Anhängern gewonnen, in Gaza allerdings auch einige Fans verloren, weil sie von manchen für den Krieg mitverantwortlich gemacht werden. Aber sie sind dort immernoch klar an der Macht. Die Straßen sind grün beflaggt, Hamasleute verteilen Hilfsgüter und Geld für die Geschädigten, wenn auch nicht so viel, wie sie versprechen.
Und Bedürftige gibt es genug. 22.000 Wohnungen beschädigt, 4000 Häuser zerstört - Schulen, öffentliche Einrichtungen - Schutt wo man hinkommt. Manchmal liegt ein ganzer Stadtteil in Asche - anderswo ist "nur" ein vereinzeltes Haus geplättet und die Häuser rundrum beschädigt. Kinder spielen im Sand der Bombenkrater. Überall riecht es nach Abwasser, weil fast überall die Kanalisation getroffen und beschädigt wurde. Material, dies zu beheben, gibt es kaum.
Im UN-Hauptquartier sehen wir die Reste einer von Phosphormunition abgebrannten Lagerhalle, eingeschmolzene Medizinreserven, verkohlte Konserven. Und keiner glaubt, dass das ein Versehen war. Als es passierte, hagelte es internationale Kritik, die IDF spricht von einem Versehen. Zwei Stunden später wird wieder auf dieselbe UN-Lagerhalle geschossen - mit Phosphorbrandbomben - und die Hilfsgüter stehen in Flammen.
Wir sind über Nacht geblieben. Im Restaurant des Hotels Al-Deire trifft man viele Bekannte aus Jerusalem und Ramallah: Ben von AP, Sheera von der Times, Taghreed von der New York Times, Leute vom Spiegel. Ayman, das berühmte Reportergesicht von Al-Jazeera International, der während des ganzen Krieges vor dem Mikro stand, während es um ihn herum Granaten regnete. Es gab kein Bett mehr im Al-Deire - wir mussten nach nebenan ins Beach Hotel. Ein Raum hat kein Fensterglas mehr - Plastikfolie. Trotzdem 130 Dollar für ein Zimmer - die Journalistenflut und ein paar zerbombte Hotels tun einiges für die Marktentwicklung.
Am nächsten Tag erfahren wir von einem Zwischenfall, der sich gerade ereignet hat - ein israelischer Jeep ist an der Grenze auf eine Mine gefahren - ein Soldat starb dabei. Man hört jetzt das Summen israelischer Militär-Drohnen in der Luft, eine schießt im Süden des
Gazastreifens auf einen palästinensischen Motorradfahrer, eine Qassam fliegt nach Israel - die Sache droht wieder zu eskalieren.
Unser Kollege aus dem Gaza-Büro fährt uns zur Grenze - nach Erez, obwohl wir gehört haben, dass der Übergang geschlossen wurde. Wir wollen versuchen, wieder nach Jerusalem zu fahren. Erez ist zu - das wird uns schon am zur Sicherheit zurückverlegten Hamas-Checkpoint
gesagt und etwas weiter am Koordinierungscontainer des palästinensischen Präsidialamtes (Khamsa Khamsa) bestätigt.
Wir sind nicht allein. Journalisten stehen da auch schon und warten; Spiegel Online, SZ, Finnisches Fernsehen, außerdem 5 gepanzerte Diplomatenjeeps, Franzosen, Holländer, Schweizer, Schweden, Norweger. Langsam wird es dunkel, die Presseverteter machen sich auf den Rückweg nach Gaza-Stadt, nachdem sie ein paar verstimmte Diplomaten interviewt haben. Wir bleiben, weil ja überhaupt nicht klar ist, ob der Übergang am nächsten Tag geöffnet sein wird. Der stellvertretende Leiter des niederländischen Vertretungsbüros - Hans - ist auch da.
Ich kenne ihn von einem Empfang - er bietet uns Plätze in seinem Jeep an. Wir nehmen gern an - zumindest für die 500 m bis zur Mauer, hinter der unser Auto steht. Wir warten. Und warten.
Ca. 100 Telefonanrufe und 5 Stunden später können wir fahren, heißt es zumindest. In der Zwischenzeit hatten die Diplomaten ihre Botschaften und dann auch die Außenministerien in Den Haag, Paris, Stockholm etc. eingeschaltet. Und das Rote Kreuz. Auf der israelischen Seite findet man immer neue Gründe, uns warten zu lassen - es wird zunehmend surrealer:
Fünfte Wartestunde: Colonel Moshe Levy am Telefon mit Hans: "Hans - how are you?" Hans: "Well, I am cold. What is it this time, Colonel?"
Mal ist keiner mehr zum Stempeln da, dann haben die Sprengstoffhunde Feierabend, dann hat das IDF-Südkomando den Checkpoint übernommen und den Prozess von vorn begonnen. Wir erfahren nach fünf Stunden Warten außerdem von Colonel Moshe, dass es so lange dauert, weil es ja schon so spät ist. Man fühlte sich spontan an die Worte unserer Kanzlerin erinnert, die ja kurz nach Beginn des Gaza-Kriegs davor warnte, Ursache und Wirkung zu vertauschen.
Plötzlich dürfen wir fahren. Aber nur 2 Autos. Hans: "Alle oder keiner." Warten.
Hans ruft den Botschafter an, der den Außenminister. Warten. Der Teeladen - ein Arbeitsbeschaffungsprojekt der EU - hat inzwischen auch zu.
Hans' Telefon klingelt - Moshe ist dran: "Hi Hans, How are you?" Hans: "Still alive, Colonel. You know, it is rather smelly here. And cold." Moshe informiert, dass nun alle fahren können, aber die Autos müssen durchsucht werden. Entsetzen macht sich breit, der französische Generalkonsul ruft wieder eine Gruppensitzung ein: "Auf keinen Fall werden diplomatische Autos durchsucht! Ridicule! Impossible!" Man ist sich einig. Solidarisches Weiterwarten...
Irgendwann gegen halb 9 können wir dann doch losfahren - nachdem noch mal das israelische Außenminsisterium angerufen hatte, um alle unsere Passnummern (zum xten Mal) aufzunehmen... Man hat einen Kompromis gefunden, unglaublich, was Hunger und Kälte so möglich machen.
Es sind nur 500 Meter bis zum Tor in der Mauer - kurz vor dem Tor - Schüsse. Dann nochmal.
Wir halten an und tauchen ab. Eine palästinensische Frau mit ihrem kleinen Sohn, die gerade aus dem Terminal gekommen war, sucht Deckung und findet keine - geht dann einfach weiter... der Junge zittert.
Hans ruft Moshe an:
Moshe: "Hans - How are you?" Hans: "This is totally unacceptable. You tell us to come and then you fire at us?" Moshe: "We did? Wait a sec - (Hebrew shouting - it sounds honestly concerned)" Moshe: "No - we were not shooting at you" Hans: "So you were shooting rabbits, then?..." Moshe verspricht, das zu prüfen. Warten...
Wir sind dann gegen 21 Uhr - nach 6 Stunden Warten - endlich rausgekommen. Ein israelischer Sicherheitsmann am Colaautomaten mit M 16-Spezialversion auf die Frage hin, ob er geschossen habe: Das sei ein großer Fehler gewesen. Aber seine Truppe sei es nicht gewesen, sondern die israelische Armee.
Na dann.